Antike Philosophie und Mathematik: Zusammenfassung und Ergebnis

In diesem Beitrag fasse ich das Ergebnis der Überlegungen der vorigen Beiträge zusammen. Meiner Auffassung nach weist alles darauf hin, dass die griechische Philosophie stark von der antiken Mathematik beeinflusst war.

Wenn man Werke antiker Philosophen liest, dann ist man als moderner Mensch in der Regel erstaunt, wie damals argumentiert wurde. Immer wieder stößt man auf Textstellen, die nahelegen, dass die alten Philosophen das theoretische Nachdenken für zuverlässiger hielten als die Empirie. Das ist, wie ich meine, ein echter kultureller Unterschied zwischen damals und heute (siehe auch hier).

Um einzusehen, warum das so ist, war mein Vorschlag, die antike Philosophie von der antiken Mathematik her zu verstehen. Denn immerhin ereignete sich um 600 v.Chr. eine veritable wissenschaftliche Revolution: Die Griechen entdeckten den mathematischen Beweis (siehe hier). Und das ist deswegen erstaunlich, weil Mathematiker offenbar zu unumstößlich wahren Erkenntnissen gelangen, alleine durch Vernunfteinsicht und logische Deduktion. Und diese Wahrheiten haben eine solche Gültigkeit, dass sie durch keine Erfahrungstatsachen widerlegt werden können.

Meine These also ist: Die Entdeckung des mathematischen Beweises war für die alten Griechen eine so revolutionäre geistige Innovation, dass diese Art zu Denken auch auf nicht-mathematische Themen übertragen wurde. Und so entstand die antike Philosophie.

Genauer gesagt, kann man die antike Mathematik wie folgt charakterisieren:

(M1) Die Erkenntnisse der Mathematik haben den Anspruch auf absolute, unumstößliche Wahrheit.

(M2) Vernünftige Einsicht: Die unumstößliche Wahrheit eines mathematischen Sachverhalts kann man mental

(M3) Den mathematischen Beweis benötigt man, um einen komplexen mathematischen Sachverhalt einsichtig zu machen.

(M4) Anti-Empirismus. Die Wahrheit kann durch bloßes Nachdenken gewonnen werden. Manche mathematischen Beweise lassen sich empirisch faktisch gar nicht durchführen, sondern nur gedanklich. Eine theoretisch gut begründete Theorie kann selbst dann als wahr gelten, wenn sie den Erfahrungstatsachen widerspricht.

(M5) Antike Mathematik hat kaum Formalismus im Vergleich zur heutigen Mathematik.

Dass dies so ist, habe ich in folgenden Beiträgen zu zeigen versucht:

Genau diese Merkmale der Mathematik erinnern aber sehr daran, wie die alten Griechen philosophierten. Die meisten antiken Philosophen stellten ihre Theorien mit dem Anspruch auf absolut gültige, unumstößliche Wahrheit auf, die durch Vernunfteinsicht und logische Deduktion erkennbar sind und unabhängig von Erfahrungstatsachen gültig sind. In Analogie zu den oben aufgezählten Merkmalen der antiken Mathematik habe ich typische Merkmale für die griechische Philosophie so formuliert:

(Abs) Anspruch auf absolute, unumstößliche Wahrheit

(mtAkt) Annahme mentaler Akte, die einen priviligierten Zugang zur Wahrheit gewähren (nous, Vernunft, Geist, etc.)

Die meisten antiken Philosophen sprechen von bestimmten mentalen Akten, die dem Menschen einen direkten Zugang zur Wahrheit vers­chaffen. Vollzieht man einen solchen Akt, das könnte eine geometrische Anschauung, ein Vernunfteinsicht oder ähnliches sein, dann ist durch die Qualität des mentalen Aktes gewährleistet, dass eine Wahrheit erkannt wird.

(Bw)  Logisch-rationaler Beweise.

Fast alle antiken Philosophen glauben an die Macht des logisch-rationalen Beweises.
Wenn man nicht bereits durch vernünftige Einsicht oder einen ähnlichen mentalen Akt die unumstößliche Wahrheit eines Sachverhalts erkennen kann, dann kann man sie rational-logisch beweisen

(antiEmp) Anti-Empirismus

Fast alle antiken Philosophen stellten das theoretisch Erdachte über Erfahrungstatsachen. Genau genommen kann man einen schwachen von einem starken Anti-Empirismus unterscheiden. Theoretisch Erdachtes ist mehr wert als sinnliche Er­fah­rungs­wer­te. Und Theorie schlägt Empirie: Steht eine schlüssige Theorie mit Erfahrungstatsachen im Widerspruch, dann wird eher an der Theorie festgehalten und die Empirie verworfen als umgekehrt.

Um dies im Detail nachzuweisen bin ich eine lange Reihe von griechischen Philosophen durchgegangen und habe jeweils gezeigt, welche der nachfolgenden Merkmale genau erkennbar sind:

Philosoph Merkmale Bezug zur Mathematik
Thales ? Ja
Heraklit ?
Pythagoras (Abs)?, (Bw)?  Ja, sehr ausgeprägt
Parmenides/Zenon (Abs), (mtAkt), (Bw), (antiEmp) Ja, Zenons Paradoxa
Sophisten (Bw), (antiEmp) Nein
Platon (Abs), (mtAkt), (Bw), (antiEmp) Ja, Mathematik als Vorbild
Aristoteles (Abs), (mtAkt), (Bw), (antiEmp) Ja, Mathematik als Vorbild
Stoa (Abs), (mtAkt), (Bw), (antiEmp) Nein
Epikur (Abs), (mtAkt), (Bw), (antiEmp) Nein
Skepsis  (Bw), (antiEmp) Nein
Hellenist. Mathematik (Abs), (mtAkt), (Bw), (antiEmp) Ja
Plotin (Abs), (mtAkt), (antiEmp) Nein
Augustinus (Abs), (mtAkt), (antiEmp) Nein

Man sieht eine deutliche Häufung der Merkmale (Abs), (mtAkt), (Bw) und (antiEmp). Dies ist, wie ich meine, ein klares Indiz dafür, dass die These, die ich oben aufgestellt habe, stimmt. Damit ergibt sich folgendes Bild:

Etwa um 600 v.Chr. ereignete sich eine wissenschaftliche Revolution, indem die Griechen damit begannen, mathematische Sachverhalte zu beweisen. Dabei erkannten sie, dass sie mittels vernünftiger Einsicht und rationaler Beweise unumstößliche Wahrheiten erkennen konnten; und zwar durch bloßes theoretisches Nachdenken. Außerdem erkannten sie, dass die so gewonnen Erkenntnisse wahr sind, unabhängig von Erfahrungstatsachen und selbst dann, wenn ihnen Erfahrungstatsachen widersprechen. Diese Methode war in der Mathematik so erfolgreich, dass die Griechen hundert Jahre später diese Methode auch auf andere Bereiche zu übertragen versuchten.

Vielleicht bereits Pythagoras, sicher aber Parmenides wendete diese Methode auf philosophische Themen an. Das Ziel war eine Art philosophische Mathematik, das heißt ein Wissen, das sich mittels vernünftiger Einsicht und logisch-rationalen Beweisen auf unumstößlich Wahres bezieht, und das sogar gewisser als Erfahrungstatsachen ist; nur dass dieses Wissen jetzt nicht von Zahlen und geometrischen Figuren handelt, sondern vom Sein und vom Nicht-Sein. Die erfolgreiche mathematische Methode sollte im Kern dieselbe bleiben, nur diesmal auf nicht-mathematische Gegenstände angewendet und damit für die Philosophie fruchtbar gemacht werden.

Einen solchen Übertrag einer erfolgreichen Methode auf andere Gebiete haben wir mindestens schon einmal in der Geschichte gesehen. So wurde in der Neuzeit die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode auf andere Wissenschaften übertragen. Nachdem die mathematische Physik Galileis und Newtons mehr als hundert Jahre enorm erfolgreich war, galt sie spätestens im 19. Jahrhundert als Paradigma für Wissenschaft überhaupt. Und so versuchte man den mathematischen Ansatz der neuen Physik beispielsweise auch auf die Sozialwissenschaften zu übertragen.

Die eleatische Philosophie beeindruckte die gebildeten Griechen vor allem auch deswegen, weil mit logisch-rationaler Beweisführung augenscheinliche Erfahrungstatsachen „widerlegt“ wurden. Diese Macht logischer-rationaler Beweise griffen die Sophisten auf und brachten ihren Schülern bei, dass im Prinzip alles zugleich beweisbar und widerlegbar ist.

Platon kritisierte diese sophistische Praxis und wollte die rationale Beweisführung wieder in den Dienst unumschränkt gültiger Wahrheiten stellen. Wie Parmeniedes strebte Platon nach einer Art philosophischer Mathematik, also einem Wissen, das mittels vernünftiger Einsicht und logisch-rationalen Beweisen unumstößlich Wahres erkennt, und das gewisser als Erfahrungstatsachen ist. Dieses unumstößlich Wahre sind bei Platon die Ideen.

Aristoteles ging es um dasselbe Ziel, indem er sein Wissenschaftsideal formulierte. Wirkliche Wissenschaft bezieht sich auf unumstößlich Wahres. Klar erkannte er, dass jede rational-logische Beweisführung auf Grundsätze oder Axiome zurückgehen muss, die nicht weiter beweisbar sind. Dennoch kann es sich nur um wirkliche Wissenschaft handeln, wenn auch diese Grundsätze als wahr erkannt worden sind. Dazu bedarf es der vernünftigen Einsicht, die anhand einiger empirischer Beispiele zu einer Wesenserkenntnis gelangt, welche wiederum die Wahrheit der wissenschaftlichen Grundsätze gewährleisten soll. Aber auch für Aristoteles kann es kein wirkliches Wissen vom konkret sinnlich Erfahrbaren geben, sondern nur vom allgemeinen Wesen, das allen Dingen zugrunde liegt. Außerdem sah Aristoteles nicht vor, dass Theorien durch Erfahrungstatsachen falsifiziert werden können. Dieses Wissenschaftsmodell formuliert Aristoteles in der Zweiten Analytik, und hierbei war ihm ganz explizit die Mathematik das Vorbild. Die aristotelische Auffassung von Wissenschaft war bis ins 19. Jahrhundert wirksam.

Selbst die Epikureer und die Stoa glaubten mittels spezieller mentaler Akte und rational-logischer Beweise unumstößlich gültige Wahrheiten erkennen zu können. Und auch sie stellten die Theorie über die Empirie, indem sie meinten, dass eine in sich schlüssige Theorie nicht durch Erfahrungstatsachen falsifiziert werden kann.

Die Skeptiker wiederum zweifelten generell daran, dass man unumstößliche Wahrheiten erkennen könne. Einen speziellen mentalen Akt, der einem einen Zugang zu solchen Wahrheiten erlauben würde, kannten sie nicht. Wohl aber glaubten sie an die Macht des rational-logischen Beweisens. Alles könne man sowohl beweisen als auch widerlegen. Übrigens machte die Skepsis auch vor Erfahrungstatsachen keinen Halt; auch sie konnten mit rational-logischen Argumenten widerlegt werden.

Erst in der Spätantike verlor das logisch-rationale Beweisen an Überzeugungskraft. Plotin und Augustinus meinten zwar, dass man noch mittels bestimmter mentaler Akte Zugang zu unumschränkt gültigen Wahrheiten bekommen könnte; bei Plotin war das die Schau des Einen-Guten, bei Augustinus der christliche Glaube. Für die Erkenntnis des absolut Wahren hielten sie aber die rationale Beweisführung für nicht notwendig, zum Teil sogar für hinderlich.

Offensichtlich ziehen sich die oben genannten vier Merkmale wie rote Fäden durch die Geschichte der antiken Philosophie. Und diese roten Fäden, meine ich, sind vor allem vor dem Hintergrund der antiken Mathematik verständlich. Ich halte es für mehr als wahrscheinlich, dass wichtige Themen der antiken Philosophen durch die Mathematik inspiriert waren.

Antike Philosophen versuchten zur Erkenntnis absolut gültigen Wahrheiten zu gelangen, weil sie sahen, dass dies in der Mathematik gelang. Sie nahmen mentale Akte an, die eine direkte Erkenntnis nicht-empirischer absoluter Wahrheit erlauben sollten, weil vernünftige Einsicht in der Mathematik eine Rolle spielt. Die antiken Philosophen glaubten an die Macht des logisch-rationalen Beweises, weil das Beweisen im Rahmen der Mathematik so erfolgreich war. Und die antiken Philosophen zogen das Theoretische den Erfahrungsdaten vor, weil mathematische Beweise auch dann richtig sind, selbst wenn sie mit Erfahrungsdaten im Widerspruch stehen.

2 Kommentare
  1. Thinking sagte:

    Diese Zusammenfassung ist von außerordentlicher Klarheit und grenzt auch die verschiedenen philosophischen Schulen voneinander ab.
    Allerdings habe ich die Befürchtung, dass Sie diesen Blog nicht weiterführen möchten oder irre ich mich hoffentlich?

    Antworten
    • peterreins sagte:

      Doch ich werde diesen Blog definitiv weiterführen. Sehr spannend, denke ich, wird es zum Thema Galilei und Newton, aber auch über die Entstehung der modernen mathematischen Logik will ich einiges sagen. Vor allem auch, wie sich das Verständnis der Logik von Frege über Russell und Wittgenstein bis hin zu David Hilbert und Carnap verändert hat. Wirklich sehr spannend. Und dann hat mich vor allem eines interessiert: Ab wann ging es los mit dem Wissenschaftsverständnis, das heutzutage dominiert? Denn in der Antike wurde Wissenschaft ja anders verstanden als wir es heute tun. Gerade das aristotelische Wissenschaftsmodell war über tausende von Jahren vorherrschend. Ich dachte zunächst, dass vielleicht Galilei und Newton eine neue Art von Wissenschaft einführten. Das stimmt aber nicht. Interessanterweise hatten sie beide offenbar eine sehr ähnliche Auffassung wie sie auch Aristoteles hatte. DAs zieht sich so durch bis etwa um 1900. Erst so spät kann man dingfest machen, dass sich die Wissenschaft im modernen hypothetischen Sinne aufgefasst wurde. Hier ist vor allem Pierre Duhem zu nennen.
      Über all das habe ich vor zu schreiben.

      Antworten

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert