Hellenistische Mathematik

Die Griechen kamen zu beeindruckenden mathematischen und naturwissenschaftlichen Ergebnissen. Schon Thales soll die Höhe einer Pyramide aus der Länge ihres Schattens errechnet haben.

Zur Zeit Platons lebte der Mathematiker und Astronom Eudoxos von Knidos (397—338 v.Chr.). Er beschäftigte sich unter anderem mit irrationalen Zahlen, begründete eine allgemeine mathematische Proportionenlehre, untersuchte Volumina geometrischer Körper. Außerdem arbeitete er an einem geozentrischen Modell für die Berechnung der Planetenbahnen, das später von anderen Mathematikern immer weiter zum sogenannten ptolemäischen System verfeinert wurde.

Alexandria und Euklid

Zu einer wahren Blüte der Mathematik und mathematisch ausgerichteten Naturwissenschaft kam es in der hellenistischen Periode und ist eng verbunden mit der Stadt Alexandria im ägyptischen Nildelta. Alexander der Große gründete diese Stadt 332 v.Chr. Nach dem Zerfall von Alexanders Großreich begann ab 323 v.Chr. die Herrschaft der Ptolemäer, die bis 30 v.Chr. dauerte. Ptolemäus I. war ein griechischer General Alexanders, der die Wirren nach dem Tode Alexanders dazu nutzen konnte, die Macht über Ägypten zu übernehmen.

Die Ptolemäer machten Alexandria zu einem wissenschaftlichen und kulturellen Zentrum der hellenistischen Welt. Dort gründeten sie eine Bibliothek und das sogenannte Museion. Das Museion ist wohl das erste staatlich geförderte Forschungs- und Lehrinstitut in der Geschichte. Es gab Hörsäle, Arbeitsräume, eine Sternwarte, sowie botanische und zoologische Gärten. Mathematiker und andere Wissenschaftler konnten hier ungestört ihren Forschungen nachgehen. Die Bibliothek in Alexandria war die größte in der ganzen Antike. Sie wurde systematisch erweitert und umfasste schließlich schätzungsweise 400.000 Papyrusrollen, darunter auch Äschylos‘ Tragödien in Originalhandschriften des Dichters. Alle wichtigen Werke der Antike befanden sich darin. Leider brannte sie nieder, als die Römer 47 v.Chr. Alexandria angriffen.

Viele berühmte antike Mathematiker und Naturwissenschaftler sind mit der Stadt Alexandria verbunden. Vorneweg Euklid (340-270 v.Chr.), der etwa um 300 v.Chr. von Athen ins Museion berufen wurde. Euklid fasste in seinem Werk Elemente das damalige mathematische Wissen systematisch zusammen. Der Wissenschaftshistoriker Hans Wußing schreibt über die Elemente, dass es ein „Meisterwerk didaktischer Art“ ist und fährt fort[1]: „Auch ist die geistige Verwandtschaft mit Platon unverkennbar, da kaum auf Anwendungen Bezug genommen wird. Die streng logische Gliederung und die Gründung des Werkes auf Axiome und Postulate dürfte von Aristoteles und seinen Abhandlungen zur Logik beeinflusst sein.“ Hier eine Übersicht über die Elemente nach Wußing:

Jedenfalls wurden Euklids Elemente eines der wichtigsten Bücher in der Wissenschaftsgeschichte, da es mehr als 2000 Jahre als mathematisches Lehrbuch diente.

Manche Autoren behaupten, dass es in den Elementen Euklids vor allem um nicht-anschauliche, rein deduktive Schlüsse ging. Ich bin hier anderer Meinung. Denn ohne Frage enthalten die Beweise in den Elementen auf Schritt und Tritt geometrische Konstruktionsanweisungen. Fakt ist, dass Euklids Elemente ursprünglich mit geometrischen Zeichnungen ausgiebig illustriert waren. Diese Zeichnungen verschwanden aber irgendwann aus späteren Ausgaben der Elemente, so dass nur noch der nackte Text übrigblieb. Ein solcher blanker Text, bei dem die geometrischen Illustrationen zur Veranschaulichung fehlen, hat dann dazu verleitet zu glauben, dass bei Euklid die logisch-sprachlichen Deduktionen im Vordergrund standen. Die allermeisten Beweise in Euklids Elementen kann man aber schlicht nicht nachvollziehen, wenn man sie nicht mit Bleistift, Papier, Lineal und Zirkel anschaulich macht.

Archimedes und die Merkmale antiker Mathematik

Archimedes (287-212 v.Chr.) lebte zwar die meiste Zeit in Syrakus, hatte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen längeren Aufenthalt in Alexandria. Hier eine (unvollständige) Liste von mathematischen Themen, mit denen er sich beschäftigte:

  • Schwerpunkte ebener Flächen,
  • das reguläre Siebeneck,
  • Kreismessung, sowie Abschätzungen der Zahl ,
  • Spiralen,
  • Dreiteilung von Winkeln,

Auf dem Gebiet der Mathematik leistete er Außerordentliches, aber er gilt auch als Begründer der theoretischen Physik. Hier ein paar seiner naturwissenschaftlichen Themen:

  • Spezifisches Gewicht von Materialien: Gewicht des Materials pro Volumeneinheit.
  • das Hydrostatisches Prinzip (Auftriebsprinzip im Wasser)
  • die Hebelgesetze.

Um das spezifische Gewicht rankt sich folgende Anekdote. Der Tyrann Hieron von Syrakus beauftragte einen Goldschmied damit, eine Krone aus Gold herzustellen. Die dazu notwendige Menge an Gold stellte Hieron dem Goldschmied zur Verfügung. Als er schließlich die fertige Krone erhalten hatte, kam ihm der Verdacht, dass der Goldschmied ihn betrogen hatte. Vielleicht hatte der Goldschmied ein wenig Gold für sich abgezwackt und es durch Silber ersetzt?

Archimedes sollte nun diese Frage mathematisch-physikalisch entscheiden. Er brütete also eine Zeitlang über dieses Problem, nahm dann zufällig ein Bad in einer Wanne, wobei ihm auffiel, dass er beim Einsteigen so viel Wasser verdrängte, dass es aus der Wanne herausschwappte. Angeblich soll er dann nackt durch die Straßen von Syrakus zu Hieron gelaufen sein, immerzu rufend: Heureka! Auf Deutsch: „Ich habs gefunden.“ –  Welche Lösung war ihm eingefallen?

Zunächst wog Archimedes die fragwürdige Krone. Dann bestimmte er eine Menge Gold, die genau dem Gewicht der Krone entsprach. Schließlich bestimmte er eine Menge Silber, die ebenso genau dem Gewicht der Krone entsprach.

Wir wissen: Das spezifische Gewicht von Gold ist höher als das von Silber. Das heißt, wenn man ein Klumpen Gold hat und einen Klumpen Silber und weiß, dass beide gleich schwer sind, dann muss der Silberklumpen mehr Volumen haben als der Goldklumpen.

Archimedes musste jetzt nur noch das Volumen der Krone mit denen Volumina der gleichgewichtigen Goldmenge vergleichen. Dazu fing er das Wasser auf, das verdrängt wurde, wenn man die Krone in eine bis oben gefüllte Wanne legte; und dann fing er das Wasser auf, das durch das Gold verdrängt wurde. Dasselbe machte er auch mit der gleichgewichtigen Menge Silber. So maß er drei Volumina. Angeblich war das Volumen der Krone tatsächlich größer als das Volumen des Goldes und geringer als das Volumen des Silbers. Auf diese Weise konnte Archimedes mithilfe des Konzepts des spezifischen Gewichtes den Betrug des Goldschmieds nachweisen.

Das ist eine schöne Geschichte. Aber sie zeigt auch schon wesentliche Merkmale der mathematisch orientierten Naturwissenschaft im Hellenismus. Bei der nachfolgenden Charakterisierung lehne ich mich an das aristotelische Wissenschaftsmodell an, wie ich es in 4.7.2 dargestellt habe:

(A 1) Die Anekdote legt nahe, dass Archimedes seine Theorie nicht nur für wahrscheinlich oder hypothetisch erachtet hat, sondern für unumstößlich wahr. (Abs)

(A 2) Er hat ein Grundprinzip (Axiom) gefunden, das man so formulieren kann: Jedes Material, egal in welcher Form und in welcher Menge es vorliegt, hat ein konstantes spezifisches Gewicht .  Dieses Grundprinzip war ihm unmittelbar einsichtig und galt ihm deswegen als wahr (mtAkt). Der Unterschied zur aristotelischen Naturphilosophie ist allerdings, dass dieses Grundprinzip bei Archimedes mathematisch formuliert ist.

(A 3) Er ist auf dieses Prinzip durch Induktion (im aristotelischen Sinne) gestoßen, indem er es in einer konkreten Situation, nämlich beim Baden, erkannt hat.

(A 4) Er leitet alles Weitere logisch-deduktiv aus dem genannten Grundsatz ab, und zwar gemäß den Beweisverfahren der Mathematik. Auch dies stellt einen Unterschied zur aristotelischen Naturphilosophie dar, bei der zwar auch logisch-rational deduziert wird, aber nicht mathematisch.

(A 5) Interessant ist ferner, was Archimedes nicht tat. Modern gesprochen fehlt bei Archimedes die empirische Überprüfung des theoretischen Modells. Er ersann sich seine mathematische Formel und wendete sie sofort auf das Kronenproblem an.  Es hätte aber auch sein können, dass seine Theorie falsch ist. Er nahm ja stillschweigend an, dass unbearbeitetes Gold dieselbe spezifische Dichte hat wie bearbeitetes Gold. Es wäre ja z.B. denkbar, dass das Gold durch Hammerschläge oder durch wiederholtes Einschmelzen sich so verändert, dass auch das spezifische Gewicht anders wird. Aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht hätte er erst eine Versuchsreihe durchführen müssen, um empirisch sicherzustellen, dass sich das spezifische Gewicht durch typische Bearbeitungen des Goldschmiedes nicht verändert (antiEmp). Ähnlich wie Aristoteles sieht es Archimedes nicht vor, dass eine schlüssig eingesehene und deduzierte Theorie noch durch Erfahrungstatsachen bestätigt werden muss bzw. widerlegt werden kann.

Alles in allem kann man gut sehen, wie Archimedes‘ Vorgehen dem aristotelischen Wissenschaftsmodell entspricht, nur mit dem Unterschied, dass es gewissermaßen mathematisiert ist. Wir werden später sehen, dass das genau das Wissenschaftsmodell von Galilei und Newton sein wird.

Jedenfalls kann man sagen: Die hellenistischen Wissenschaftler hielten ihre Theorien unumstößlich wahr. Einen großen Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Mathematik sahen sie nicht. Zu ihren Theorien kamen sie mittels vernünftiger Einsicht und Deduktion. Diese Theorien wendeten sie auf konkrete Probleme an und weil ihnen ihre Theorien als unzweifelhaft richtig galten, hielten sie es für unnötig, die berechneten Größen hinterher noch empirisch zu überprüfen. Die aufgestellten Theorien waren schlüssig, der Rechenweg war korrekt, also musste auch das Ergebnis stimmen.

Um dies noch einmal zu verdeutlichen, erwähne ich Eratosthenes, der um 250 v.Chr. den Erdumfang berechnet hat, und das ziemlich genau. Wie ging Eratosthenes vor?

Tatsächlich beträgt der Erdumfang etwa 40.000 km. Letztlich kein schlechtes Ergebnis, wenn man die Möglichkeiten der damaligen Zeit berücksichtigt. Eratosthenes hatte aber auch Glück. Denn sein Modell setzt voraus, dass Alexandria und Syene auf demselben Merdian liegen, was tatsächlich in etwa der Fall ist. Übrigens kamen andere antike Mathematiker mittels anderer Berechnungsmodelle zu schlechteren Ergebnissen.

Das, worauf ich aber hier aufmerksam machen möchte, ist, dass wieder die obigen fünf Punkte eingehalten wurden. Eratosthenes stellt ein mathematisches Modell auf, leitet daraus den Erdumfang ab; er verzichtet aber auf eine empirische Überprüfung seines theoretischen Modells.

Auch bezogen auf die Hebelgesetze und die Hydrostatik geht Archimedes so vor. Es werden mathematische Modelle aufgestellt bezogen auf quantitativ messbare, physikalische Größen, es gibt aber keine empirische Überprüfung oder gar Experimente. Genau in den letzten beiden Punkten unterscheidet sich die hellenistische Naturwissenschaft von der modernen Physik.

Übrigens gibt es eine einzige, mir bekannte Ausnahme: nämlich das ptolemäische Modell zur Berechnung von Planetenbahnen. Dieses Modell wurde tatsächlich im Laufe der Zeit immer besser den beobachtbaren Daten angepasst.

Das ptolemäische Modell

Platon nahm an, dass sich die Planeten in perfekten Kreisen um die Erde drehen würden. Dafür ein passendes mathematisches Modell zu entwerfen, das möglichst gut mit den beobachtbaren Erscheinungen übereinstimmt, gab er den zeitgenössischen Astronomen als Aufgabe.

Aber schon bald merkte man, dass die Himmelserscheinungen sich nicht durch einfache Kreisbahnen um die Erde beschreiben lassen. Es gab zu viele Anomalien. So sind die Planeten manchmal näher, manchmal entfernter von der Erde. Gut sieht man das am Mond. In einem 19-jährigen Zyklus ändert er seine beobachtbare Größe am Nachthimmel um etwa ein Drittel.

Ferner durchlaufen manche Planeten bezogen auf die Erde eine sehr merkwürdige Bahn. Sie scheinen bisweilen zum Stillstand zu kommen, laufen dann kurze Zeit rückwärts, und beschleunigen dann wieder, um wieder auf die ursprüngliche Bahn zurück­zu­kehren.

Um diese Phänomene darstellen zu können, ersannen sich antike Mathematiker ein komplexes Modell, bei dem sich verschiedene Kreis­bewegungen mit unterschiedlichen Achsen fiktiv überlagerten. Immerhin schaffte man es so, die realen Planetenbahnen zu appro­ximieren und bis zu einem gewissen Grad voraus­zu­berechnen.

Klaudios Ptolemäus (101-179 n.Chr.) verfeinerte und beschrieb dieses Modell in seinem Hauptwerk Syntaxis Mathematike.  Der Wissenschaftshistoriker Klaus Fischer bezeichnet dieses Werk, das im Mittelalter unter dem arabischen Namen Almagest bekannt war, als eines der wichtigsten Bücher der okzidentalen Wissenschaft vor dem 19. Jahrhundert. Immerhin war das ptolemäische Modell so gut, dass es über tausend Jahre die beste mathematische Beschreibung der Planetenbahnen lieferte. Außerdem war es geozentrisch, hatte also die Erde im Zentrum, und stand insofern im Einklang sowohl mit der aristotelischen und der platonischen Naturphilosophie, sowie dem mittelalterlichen Weltbild.

Auf der anderen Seite war das Modell des Ptolemäus nichts anders als ein komplexes Berech­nungs­werkzeug. Völlig unverständlich blieb, warum sich die Planeten so bewegen. Es ließ sich naturwissenschaftlich nicht erklären. Eigentlich sollte das ptolemäische Modell die Bewegungen des Äthers beschreiben, der sich nach Aristoteles gleichförmig in perfekten Kreisen um die Erde dreht. Stattdessen durchlaufen die Planeten merkwürdige Schleifen und Rückwärtsbahnen in einer alles andere als gleichförmigen Geschwindigkeit, was mit der angenommenen Bewegung des Äthers unvereinbar ist.

Der Wissenschaftshistoriker Simonyi schreibt mit Bezug auf Ptolemäus[2]:

„Das große … System der Bewegungen der Himmelskörper … hat über mehr als 50 Generationen den Ansprüchen der Kalendermacher, Astronomen und Astrologen genügt…“

Sein Modell erlaubte es, die Planetenbahnen für die damalige Zeit hinreichend genau zu berechnen. Mathematisch war seine Berechnungsmethode eine Vorwegnahme der modernen Fourieranalyse. Die wissenschaftliche Leistung, die hinter dem ptolemäischen System steckt, ist nicht zu unterschätzen. In jedem Fall hat es sich mehr an den beobachtbaren Erfahrungstatsachen orientiert als die mathematisch-physikalischen Arbeiten des Archimedes.

Übrigens wurde in der Antike auch bereits ein heliozentrisches Modell entwickelt, nämlich von Aristarch aus Samos (320-250 v.Chr.). Das Meiste davon ist heute verlorengegangen, aber er scheint tatsächlich Ideen des Kopernikus vorweggenommen zu haben.

[1] Wußing [66], S. 191.

[2] Simonyi [50], S. 97.

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