Helmhotz’ metaphysische Hypothesen

Anhand seiner Schrift Ueber die Erhaltung der Kräfte von 1847 und seinem Vortrag Das Denken in der Medizin von 1877 kann man eine bemerkenswerte Entwicklung bei Helmholtz feststellen. Während er zunächst noch unreflektiert die mechanistische Naturauffassung vertritt, reflektiert er später seine eigenen Annahmen und erkennt, dass es sich dabei um eine metaphysische „Hypothese“ handelt.

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Kirchhoff und Boltzmann: Physik ohne Metaphysik

Die Physiker Kirchhoff (1824-1887) und Boltzmann (1844-1906) waren beide hervorragende Physiker und beide machten sich Gedanken über die impliziten metaphysischen Voraussetzungen der klassischen Newtonschen Physik und wie man sie beseitigen könnte.

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Carl Neumann (1869)

Carl Gottfried Neumann (1832-1925) stammte aus Königsberg und besuchte dort das Mathematisch-Physikalische Seminar, das u.a. von Jacobi gegründet worden war. Bezogen auf wissenschaftstheoretische Fragen sind folgende Vorträge von ihm wichtig:

Trägheitsprinzip, absoluter Raum und absolute Zeit

Neumann arbeitet klar heraus, welche Bedeutung der absolute Raum und die absolute Zeit für Newtons Trägheitsgesetz haben:

Ein wirklich bewegter Körper bewegt sich, solange keine Kraft auf ihn einwirkt, geradlinig weiter – bezogen auf den absoluten Raum – , und zwar vollkommen gleichförmig, d.h. mit einer vollkommen konstanten Geschwindigkeit – bezogen auf die absolute Zeit.

In seinem Vorwort stellt Neumann zunächst fest, dass die Prinzipien der Naturwissenschaft den empirischen Tatsachen entsprechen müssen. Er spricht von einer Äquivalenz, die zwischen den Prinzipien auf der einen Seite und der empirischen Wirklichkeit auf der anderen Seite bestehen sollte.  Somit hält er es für wichtig, die Prinzipien der Naturwissenschaft „in sorgfältiger Weise zu durchdenken und den Inhalt dieser Prinzipien womöglich in solcher Form darzulegen, dass jener Äquivalenz mit den betreffenden empirischen Tatsachen wirklich entsprochen werde“. In diesem Sinne versucht Neumann herauszuarbeiten, was empirisch gegeben sein müsste bzw. prinzipiell empirisch nachweisbar sein müsste, damit Newtons Trägheitsprinzip den empirischen Tatsachen entspricht.

Nun beruht Newtons Trägheitsprinzip auf der Idee des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, beides Vorstellungen, von denen Newton selbst sagt, dass wir sie nicht mit unseren Sinnen erkennen können. Letztlich handelt es sich hierbei also um metaphysische Begriffe. Neumanns Aufgabe wäre somit: Wie müsste man das Trägheitsprinzip so umformulieren, dass es vollständig von der Metaphysik des absoluten Raumes und der absoluten Zeit befreit wäre? Bzw. was müsste empirisch gegeben sein, damit der absolute Raum bzw. die absolute Zeit keine metaphysischen Begriffe mehr wären?

Die Antwort lautet: Der absolute Raum wäre kein metaphysischer Begriff mehr, sondern eine empirische Tatsache, wenn man einen Körper Alpha finden könnte, von dem man wüsste, dass er in völliger Ruhe wäre. Würden wir einen solchen Körper Alpha kennen, dann könnten wir empirisch bestimmen, was eine absolut gerade Linie ist, was eine absolute Bewegung oder eine absolute Ruhe ist, – nämlich immer mit Bezug auf ihn.

Außerdem spricht Newton im Trägheitsprinzip von gleichförmigen Bewegungen, womit er Bewegungen meint, die sich mit absolut konstanter Geschwindigkeit vollziehen. Das wiederum bedeutet: Ein Körper in gleichförmiger Bewegung legt in gleichen Zeiteinheiten gleiche Wegstrecken zurück. Was heißt aber „in gleicher Zeiteinheit“? Um die Zeit zu messen, muss man sich immer auf einen anderen Körper beziehen, von dem man annimmt, dass er sich in immer gleichen, regelmäßigen Perioden bewegt. Da Newton sich darüber im Klaren war, dass es in der beobachtbaren Wirklichkeit keine solche vollkommen regelmäßigen Perioden gibt, er in seinem Trägheitsprinzip aber absolut gleichförmige Bewegungen meint, bezieht er sie auf eine absolute Zeit, deren Zeiteinheiten vollkommen gleich sind. Die absolute Zeit für sich genommen ist aber sinnlich nicht erfahrbar, sondern ein metaphysischer Begriff.

Um den metaphysischen Begriff einer absoluten Zeit im Trägheitsprinzip loszuwerden, schlägt er vor, es nicht für einen Körper zu formulieren, sondern generell für (mindestens) zwei:

Mindestens zwei bewegte Körper, auf die keinerlei Kräfte einwirken, bewegen sich auf die Weise fort, dass gleiche Wegstrecken des einen Körpers immer gleiche Wegstrecken des anderen Körpers entsprechen.

So hat er es vermieden, überhaupt von „absolut gleichen Zeiteinheiten“ oder einer  „absolut gleichförmigen Bewegung“ zu sprechen. Stattdessen bezieht er sich ausschließlich darauf, was empirisch überprüfbar ist: ob gleiche Wegstrecken zurückgelegt wurden oder nicht.

Wissenschaftstheorie

Neumann beschreibt, wie die Newtonsche Mechanik axiomatisch aufgebaut ist. Aus einigen wenigen Prinzipien, darunter das Trägheitsgesetz und das Gravitationsgesetz, wird auf streng mathematische Weise die gesamte Theorie hergeleitet. Diese obersten Prinzipien sind nach Neumann aber selbst „nicht weiter erklärlich“. Und er setzt fort[1]:

„Ist es nicht […] als ein Mangel [der Newtonschen Theorie] zu bezeichnen, dass ihre Grundvorstellungen so völlig unbegreiflicher Natur sind! […] Nur dürfte es außerhalb der menschlichen Fähigkeit liegen, denselben zu beseitigen. Denn wollten wir eine physikalische Theorie nicht von irgendwelchen unbegreiflichen und hypothetischen Grundvorstellungen, sondern von Sätzen ausgehen lassen, die den Stempel unumstößlicher Sicherheit an sich tragen, die durch sich selber die Bürgschaft unangreifbarer Wahrheit bieten, so würden wir gezwungen sein, zu den Sätzen der Logik oder Mathematik unsere Zuflucht zu nehmen. Aus derartigen rein formalen Sätzen eine physikalische Theorie deduciren zu wollen, würde aber ein Ding der Unmöglichkeit sein. […]

Bis zu welcher Höhe und Vollendung unsere physikalischen Theorie n im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende auch emporsteigen mögen, immer werden diese Theorien von Principien, von Hypothesen ausgehen müssen, die (an und für sich betrachtet) als unbegreiflich, als willkürlich zu bezeichnen sind.“

Sowie[2]:Auf S. 13 sagt Neumann:

„Im strengen Sinne genommen, werden die Principien, die Ausgangspunkte einer physikalischen Theorie niemals als wahr oder wahrscheinlich bezeichnet werden dürfen; – sondern sie werden […] immer als etwas Willkürliches und Unbegreifliches zu bezeichnen sein.“

Würden wir dennoch Prinzipien als „wahr“ bezeichnen,

„[…] werden wir doch immer behaupten wollen, dass jene Principien bis zum heutigen Tag sich am besten bewährt haben; nicht aber dass sie für die Ewigkeit feststehen; und noch viel weniger, dass sie (gleich einem Satz der Logik oder der Mathematik) durch sich selbst die Bürgschaft unangreifbarer Festigkeit, die Bürgschaft unumstößlicher Wahrheit darbieten.“

Neumann sagt, dass es die Aufgabe der Physik ist, Naturerscheinungen zu „erklären“, indem man sie mithilfe der Prinzipien beschreibt. Als Beispiel gibt er den Wurf eines schweren Körpers. Die Wurfbahn kann man mithilfe des Trägheitsprinzips und dem Gravitationsgesetz berechnen. Auf diese Weise kann man nicht nur ein Naturphänomen erklären, sondern unendlich viele. Denn egal, wie ein Körper geworfen wird, wie schwer er ist, etc. immer genügen die beiden genannten Prinzipien, um die Wurfbahn zu beschreiben. In diesem Sinne sagt Neumann:

„Je größer die Anzahl von Erscheinungen ist, und je kleiner gleichzeitig die Anzahl der unerklärlichen Dinge ist, auf welche die Erscheinungen zurückgeführt sind, um so vollkommener wird die Theorie zu nennen sein.“

[1] Neumann: Über die Prinzipien, S. 11 f.

[2] Neumann: Über die Prinzipien, S. 13.

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