Richard Dedekind und die reellen Zahlen

Dedekind stellte sich die Frage, was die reellen Zahlen sind, wenn man sie nicht geometrisch-anschaulich als Längen von Strecken versteht.  Wie müsste eine logisch klare Definition des Begriffs „reelle Zahl“ aussehen, wenn man sich nicht auf die intuitive Anschauung stützen darf?

Wohlgemerkt, diese Fragen konnte es zu Galileis oder Newtons Zeiten gar nicht geben, weil die reellen Zahlen, aufgefasst als geometrische Längen, als unmittelbar in der Realität gegeben galten.

Dedekind definierte die reellen Zahlen logisch sauber mit Hilfe sogenannter „Schnitte“. Ein Dedekindscher Schnitt ist ein Paar \( (\alpha , \beta) \), wobei \(\alpha \) und \(\beta \) Mengen von rationalen Zahlen sind mit folgenden Eigenschaften:

  1. Jede rationale Zahl liegt entweder in \(\alpha \) oder in \(\beta \).
  2. Weder \(\alpha \) noch \(\beta \) ist leer.
  3. Jedes Element von \(\alpha \) ist kleiner als jedes Element von \(\beta \).
  4. \(\alpha \) hat kein größtes Element, d.h. für jedes Element \(x\in\alpha \) gibt es ein \(y\in\beta \) mit \(x<y\) .

Man kann nun zeigen, dass sich jede reelle Zahl als Dedekindscher Schnitt auffassen lässt. Beispielsweise kann man für \( \sqrt{2}\) das Paar \((\alpha , \beta) \) wie folgt definieren:

\(\alpha = \{ x\in \mathbb{Q} | x<0 \text{ oder } x^2<2 \} \)  und \(\beta = \{ x\in \mathbb{Q} | x\notin \alpha\} \)

Was bringt diese Art, die reellen Zahlen zu definieren? Warum macht Dedekind das? Die Antwort gibt er im Vorwort seiner Schrift Was sind die Zahlen? von 1888:

„Was beweisbar ist, soll in der Wissenschaft nicht ohne Beweis geglaubt werden.“

Und er schreibt weiter mit Bezug auf die natürlichen Zahlen:

„Indem ich die Arithmetik […] nur einen Theil der Logik nenne, spreche ich schon aus, dass ich den Zahlbegriff für gänzlich unabhängig von den Vorstellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, dass ich ihn vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluß der reinen Denkgesetze halte. […] Die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen. Durch den rein logischen Aufbau der Zahlen-Wissenschaft […] sind wir erst in den Stand gesetzt, unsere Vorstellungen von Raum und Zeit genau zu untersuchen, indem wir dieselben auf dieses in unserem Geiste erschaffene Zahlen-Reich beziehen.“

Bezogen auf die reellen Zahlen heißt dies: Der bisherige, anschauliche Umgang mit den reellen Zahlen als geometrische Größen erlaubt keine stringenten Beweisführungen. Das ermöglicht erst Dedekinds logische Konstruktion. Dedekind zeigt zum Beispiel auf der Basis seiner Schnitte, wie man darauf eine Ordnung stringent definieren kann, sowie eine Addition und eine Multiplikation.

Die Folge dieser intellektuellen Konstruktion ist allerdings, dass der Bezug zur empirischen Realität nicht mehr selbstverständlich ist. In der genannten Textstelle unterscheidet Dedekind zwischen der materiellen Realität auf der einen Seite und dem „in unserem Geiste erschaffene Zahlen-Reich“. Noch deutlicher drückt er sich in Stetigkeit und irrationale Zahlen (1872) aus (§ 3). Zunächst zeigt er, dass die reellen Zahlen im Gegensatz zu den rationalen Zahlen lückenlos oder, wie es nennt, stetig sind, Und setzt fort:

„Hat der Raum überhaupt eine reale Existenz, so braucht er doch nicht notwendig stetig zu sein; unzählige seiner Eigenschaften würden dieselben bleiben, wenn er auch unstetig wäre.“

Der reale Raum ist nach Dedekind also nicht notwendigerweise mit dem idealen geometrischen Raum identisch, wie noch Galilei und Newton annahmen, aber auch der Philosophie Kants mehr oder weniger zugrundeliegt. Und die reellen Zahlen, die vorher als messbare quantitative Eigenschaften von materiellen Dingen verstanden wurden, sind nun intellektuelle Konstrukte, unabhängig von der faktischen Realität. So haben die reellen Zahlen, definiert als Schnitte, ihren unmittelbaren Bezug zur Realität verloren.

Eine Folge davon ist aber auch, dass es nun unklar ist, inwiefern die reellen Zahlen überhaupt sind. Ein Problem, das sich früher nicht stellte. Dedekind spricht von einem „in unserem Geiste erschaffenen Zahlen-Reich“. Will er damit sagen, dass die reellen nur in unserem Denken, aber nicht objektiv existieren? Für die logisch-stringente, formale Mathematik gewinnt die ontologische Frage, inwiefern mathematische Gegenstände überhaupt existieren, eine neue Brisanz. Was ist eine unendlichen Cantorsche Menge? Als abstrakte, quantitative Eigenschaft realer Dinge existiert sie sicher nicht. Oder was ist ein fünf-dimensionaler Raum?

In jedem Fall sieht man anhand Dedekinds Konstruktion der reellen Zahlen, dass für die neue Mathematik, die auf durchgängige logisch-formale Stringenz setzt und als ein formales Operieren mit Symbolen aufgefasst werden kann, der Bezug zur materiellen Wirklichkeit nicht mehr selbstverständlich ist. Die Mathematik hat sich von der Realität gelöst, ähnlich wie es Cardano tat, als er die imaginäre Zahl i ersann. Und ähnlich wie man mit den komplexen Zahlen formal hervorragende mathematische Ergebnisse erzielen kann, kann das auch die neue Mathematik. Die Loslösung von der Realität schafft zwar das Problem des ontologischen Status mathematischer Gegenstände. Andererseits aber ist sie eine enorme Befreiung. Den Mathematikern erschließen sich vollkommen neue, man möchte fast sagen: „verrückte“ intellektuelle Welten. Und auch das taten sie im Geiste Cardanos, indem sie spielerisch Dinge annahmen, die man vorher nicht zu denken wagte. Im Ergebnis erschloss sich den Mathematikern eine Fülle verschiedener Möglichkeiten und ein Pluralismus unterschiedlicher Theorien. Ein Musterbeispiel ist die nicht-euklidische Geometrie.

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