Aristotelisch-scholastische Naturphilosophie

Die aristotelische Physik ist eine Physik des normalen Alltags oder der augenscheinlichen Empirie.

Wenn wir heutzutage die Theorien des Aristoteles hören, kommen sie uns oft absurd vor. Das aber vor allem deswegen, weil wir die moderne Physik durch den Schulunterricht verinnerlicht haben und uns gar nicht mehr auffällt, wie oft sie gegen unmittelbare Erfahrung verstößt. Das fängt schon bei der Frage an, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder umgekehrt. Ohne die Theorien der modernen Physik wäre es für jeden Menschen ohne Weiteres offensichtlich, dass die Sonne im Osten aufgeht und im Westen untergeht, also dass es sie ist, die sich um die Erde bewegt.

Um zu verstehen, wie Aristoteles sich die Wirklichkeit vorstellte, ist es hilfreich, zunächst die Statue eines Bildhauers zu betrachten. Zunächst hat der Künstler nur ein Stück Marmor vorliegen. In diesem Sinne meint Aristoteles, dass jedes Ding aus Materie (hyle) besteht. Nun hat der Künstler eine Idee oder eine Form, die er in dem Stein verwirklichen möchte, sagen wir den sitzenden Zeus. Der Bildhauer bearbeitet den Marmor und bewirkt so, bis man schließlich den sitzenden Zeus erkennen kann, die Idee also, die von Anfang an der Zweck seiner Arbeit war. Das Wesen, das was die Statue zu dem macht, was sie ist, ist die Formidee bzw. der Zweck. Auch Werkzeuge oder Maschinen bestehen zunächst aus Materie, ihr Wesen besteht aber darin, einen bestimmten Zweck zu erfüllen. So besteht ein Hammer aus Eisen und Holz, ist aber erst dann wirklich ein Hammer, wenn er zum Hämmern geeignet ist.

Aristoteles überträgt dies nun auf Naturdinge. Auch sie bestehen zunächst aus Materie. Außerdem gibt es in Naturdingen etwas, das sie zu dem macht was sie sind, nur dass diese Wirkursache in dem Ding selbst wirksam ist und gleichzeitig dessen Wesen ist. In einer Pflanze bewirkt ihr Wesen, z.B. dass sie eine Sonnenblume ist, oder in einem Hund bewirkt sein Wesen, dass er ein Hund ist. Dieses Wesen kann schon bereits in einem Blumensamen oder in einem Embryo angelegt sein, bevor es zu dem geworden ist, was es ist. Das Sonnenblumensein oder Hundsein ist somit als Zweckursache in dem jeweiligen Naturding bereits wirksam. In diesem Sinne ist ein Naturding lebendig oder beseelt. Die „Seele“ (psyche) ist genau das Wesen eines lebendigen Organismus, das bewirkt, dass er sich zu dem entwickelt, was er ist. Aristoteles meint übrigens auch, dass die Gestirne beseelt sind.

Aristoteles unterschied irdische von himmlischen Bewegungen. Und was ist augenscheinlicher, als dass sich die Sterne am Nachthimmel anders bewegen als die Dinge hier auf der Erde? Wir vergessen allzu leicht, welch gedanklicher Schritt es von Newton war, im Himmel wie auf Erden dieselben Naturgesetze anzunehmen. Und es ist alles andere als auf der Hand liegend. Denn am Himmel scheinen sich die Sterne und Planeten nach einer ewigen Ordnung in nie endenden gleichförmigen Kreisbahnen um die Erde zu drehen. Sonne, Mond, die Sterne und die Planeten bleiben ewig unverändert und ändern höchstens ihre Position am Himmel. So sieht es jedenfalls aus, wenn man nur mit dem bloßen Auge den Nachthimmel beobachtet, kein Teleskop besitzt und auch nichts weiß von moderner Astronomie.

Hier auf der Erde hingegen geht es viel chaotischer zu. Die Dinge ändern sich ständig, es ist ein ununterbrochenes Werden und Vergehen. Sieht man genauer hin, dann kann man drei Arten von Bewegungen feststellen. Erstens bewegen sich Lebewesen aus eigenem, innerem Antrieb. Ein Mensch läuft, wohin er will; an einer Pflanze wächst ein Blatt; ein Jungtier wächst heran; ein Stein fällt aus eigenem Antrieb nach unten; Feuer steigt von alleine nach oben. Dies führt Aristoteles zu der Vorstellung, dass nicht alle Orte im Kosmos gleichartig sind, sondern verschiedene Orte verschiedene Qualitäten haben. So gibt es eine Stelle, die das „natürliche Unten“ ist, wohin alle schweren Dinge von Natur aus hinstreben.  Und es gibt ein „natürliches Oben“, wohin sich leichte Stoffe von Natur aus hinbewegen. Das sind also lauter Bewegungen, bei denen die Ursache der Bewegung in dem jeweiligen Ding selbst liegt. Solche Bewegungen nennt Aristoteles „natürlich“.

Daneben gibt es auch „unnatürliche“ Bewegungen, d.h. solche, bei denen die Ursache nicht in der bewegten Sache selbst liegt. Ein typisches Beispiel dafür ist die Entstehung einer Statue aus einem Stück Marmor. Denn der Grund für dieses Entstehen liegt ja nicht in der Figur selbst, sondern in dem künstlerisch tätigen Menschen. Eine unnatürliche Bewegung wird auch vollzogen, wenn man einen Stein hochhebt oder wirft. Denn die Ursache dafür liegt nicht in dem Stein, sondern in der Person, die ihn wirft oder anhebt. Man könnte es so ausdrücken: Eine unnatürliche Bewegung bringt den Kosmos ein wenig aus dem Gleichgewicht, und die natürliche Bewegung stellt das Gleichgewicht wieder her.

Was die natürliche Ortsbewegung betrifft, unterscheidet Aristoteles, ob es sich um eine himmlische, ewige Bewegung handelt oder um eine irdische, endliche Bewegung handelt. Die erste ist, wie man durch einen Blick in den Nachthimmel erkennen kann, immerwährend kreisförmig, während die letztere geradlinig ist. Denn ein schwerer Gegenstand fällt direkt nach unten, und ein leichter steigt auf direktem Weg nach oben.

In der modernen Physik gilt der Grundsatz, dass eine Kraft, die konstant auf einen Körper einwirkt, eine Beschleunigung bewirkt. Merkwürdigerweise widerspricht dies unserer Alltagserfahrung. Nehmen wir an, ein Buch liegt auf dem Tisch. Das Buch ruht solange, bis ich anfange, es zu schieben. Dabei wird es aus dem Stand mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt werden, jedenfalls, wenn ich mit gleichbleibender Kraft drücke. Eine Beschleunigung wird nur stattfinden, wenn ich auch meine Kraft erhöhen werde. Auch ein Wagen wird sich genau solange bewegen, wie ein Pferd zieht. Und wenn es mit konstanter Kraft zieht, wird sich der Wagen mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Dass eine konstante Krafteinwirkung zu einer beschleunigten Bewegung führen soll, wie die moderne Physik behauptet, widerspricht somit der gewöhnlichen Erfahrung. Und es entspricht vollständig der augenscheinlichen Empirie, dass sich ein Ding genauso lange mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, wie eine konstante Kraft auf es einwirkt.

Dieses Prinzip galt in der aristotelisch-scholastischen Naturphilosophie als evident und war vollkommen unstrittig. Nur führte es leider beim Wurf zu enormen theoretischen Schwierigkeiten. Angenommen, man wirft einen Stein; man holt aus, schleudert den Arm nach vorne und lässt den Stein los. Solange man den Stein noch in der Hand hat, übt der Mensch direkt Kraft auf den Stein aus, und die Bewegung des Steines ist erklärbar. Sobald man den Stein aber loslässt, wirkt ja keine Kraft mehr nach vorne, sondern nur noch die Schwerkraft des Steines nach unten. Somit müsste der Stein also, sobald man ihn loslässt, auf direktem Weg nach unten fallen. Tatsächlich fliegt er aber noch ein beträchtliches Stück nach vorne weiter. Wie gesagt, ohne dass erkennbar wäre, welche Kraft ihn nach vorne treibt. Für die aristotelische Naturphilosophie ein schwer zu erklärendes Phänomen. Aristoteles meinte noch, dass er Luftwirbel für die Vorwärtsbewegung verantwortlich machen könnte, die irgendwie durch den Wurf entstehen würden und den Stein nach vorne drücken.

Noch in der Antike empfand man die Erklärung der Wurfbahn durch Luftwirbel als unplausibel, woraufhin Johannes Philoponos (495-575 n.Chr.) die sog. Impetustheorie ersann. Danach würde ein Mensch beim Akt des Werfens dem Stein eine Kraft einprägen. Diese eingeprägte Kraft würde dann nicht äußerlich weiter auf den Stein einwirken, sondern wäre innerlich in ihm wirksam, so dass der Stein weiter nach vorne fliegt. Diese eingeprägte Kraft wird aber nach und nach geringer, bis sie ganz aufgebraucht ist, und dann würde der Stein nach unten fallen. Später hat Johannes Buridan (1292-1363) die Impetustheorie neu erfunden und weiterentwickelt. In der modernen Physik wurde das Problem der Wurfbahnen durch die Annahme des Trägheitsprinzips gelöst.

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