Das aristotelische Wissenschaftsmodell gemäß der Zweiten Analytik
Das Wissenschaftsmodell, das Aristoteles in seiner Zweiten Analytik vorstellt, war über viele Jahrhunderte hinweg dominierend.
Platon unterschied zwischen der empirischen Wirklichkeit, die ihm eine Welt des Widerspruchs, der Unvollkommenheit, des Scheins und des Wandels war, und dem Reich der Ideen, die er sich perfekt, ewig und absolut seiend vorstellte. Echtes, unumstößlich und notwendig wahres Wissen, so seine Meinung könne es nur mit Bezug auf die Ideen geben. Dazu gelangen wir einerseits durch vernünftige Einsicht, andererseits durch logisch-rationale Beweisführungen. Die sinnliche Erfahrung spielte bei Platon keine Rolle. Ein Wissen, das man empirisch bestätigen müsste, wäre für Platon gar kein Wissen.
Ganz so Empirie-feindlich war Aristoteles nicht. Einen von der sinnlich wahrnehmbaren Welt getrennten Ideenhimmel lehnte er ab. Das, was bei Platon eine Idee war, wird bei Aristoteles zum Wesen (ousia) einer tatsächlichen Sache, das in der Sache wirksam ist. Der Mensch ist Mensch, weil in ihm sein menschliches Wesen, das Menschsein, wirksam ist. Unabhängig von den konkreten Dingen gibt es aber kein Wesen. Auch Eigenschaften können nicht für sich existieren, sondern nur insofern, als sie an den Dingen sind.
Wie es nach Platon ein echtes Wissen nur von den Ideen gibt, gibt es für Aristoteles ein wahrhaftes und notwendiges Wissen nur von dem Wesen der Dinge. Aristoteles anerkennt zwar auch handwerklich-künstlerischem Können und praktische Lebensklugheit[1], Wissen aber im eigentlichen Sinne ist ausschließlich Wesenserkenntnis. Da das Wesen nichts von den Dingen Getrenntes ist, sondern in ihnen wirksam ist, kann man es nur erkennen, wenn man konkrete Dinge vorliegen hat. Um z.B. das Wesen des Menschen zu erkennen, beschäftigt man sich mit ein paar Menschen, untersucht und beobachtet sie, bis man schließlich deren Wesen erkennt. Eine Wesenserkenntnis wird ausgedrückt entweder durch eine Definition oder durch ein Axiom, das heißt durch Aussagen, die nicht aus höheren Prinzipien beweisbar sind, sondern deren notwendige Wahrheit alleine durch die Vernunfteinsicht gewährleistet wird. In diesem Sinne spricht Aristoteles von der Vernunft (nous) als dem obersten Prinzip der Wissenschaft. Der Weg, das Wesen einer Sache anhand konkreter Beispiele vernünftig einzusehen, heißt bei Aristoteles Induktion. Es ist zugleich der Weg, wie man anderen eine Definition oder ein Axiom evident macht.
Die Definitionen und Axiome, deren notwendige Wahrheit man durch Vernunfteinsicht erkannt hat, sind die Ausgangsbasis für die Wissenschaft. Alle weiteren Theoreme werden daraus mit rein logisch-rational Mitteln hergeleitet. Neben der Induktion ist die deduktive Beweisführung die zweite Säule, auf der die aristotelische Wissenschaft ruht. Was aber bei Aristoteles nicht vorgesehen ist, ist eine Bestätigung oder Falsifikation deduzierter Aussagen durch die Empirie. Das ist eine moderne Vorstellung von Naturwissenschaft, die sich bei Aristoteles definitiv noch nicht findet. Im Gegenteil. Sofern die Induktion zu Definitionen und Axiomen geführt hat, die durch Vernunfteinsicht als evident und damit als notwendig erkannt worden sind, und sofern jedes Theorem durch eine logisch korrekte Beweisführung deduziert worden ist, muss die Wissenschaft als unerschütterlich wahr gelten, selbst dann, wenn es den Anschein hat, dass es empirische Gegenbeispiele gibt.
Hier eine schematische Zusammenfassung des aristotelischen Wissenschaftsmodell, wie er es in der Zweiten Analytik entworfen hat:
(A1) Das Ziel ist eine apodiktische Wissenschaft, d.h. die Wissenschaft soll von unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten
(A2) Eine Wissenschaft geht von obersten Prinzipien aus, das sind Wesensdefinitionen oder Axiome.
- „Wesenserkenntnis“: Diese Prinzipien offenbaren das allgemeine „Wesen“ oder die „Ursachen“ des jeweiligen Wissensgegenstands.
- Die Axiome und Definitionen sind Sätze, die für unsere Vernunft einsichtig und evident
- Die Axiome und Definitionen sind wegen b.) notwendig wahr.
(A3) Induktion (Epagoge) ist die Methode, um zur Erkenntnis der obersten Prinzipien zu gelangen; dabei geht man von ein paar konkreten sinnlich erfahrbaren Beispielen aus, um an ihnen mittels intuitiver Vernunfteinsicht das allgemeine Wesen zu erkennen.
(A4) Rational-logische Beweise: Alle gültigen Sätze der apodiktischen Wissenschaft kann man aus den Prinzipien (Axiome und Definitionen) logisch-rational erschließen.
(A5) Eine Falsifikation der so gewonnenen Theorie durch Erfahrungstatsachen ist nicht vorgesehen. Sofern die Induktion korrekt durchgeführt wurde und man mittels vernünftiger Einsicht zu einer Wesenserkenntnis gekommen ist und alles Weitere logisch-stringent hergeleitet wurde, ist die Theorie absolut wahr und kann durch weitere Erfahrungstatsachen weder bestätigt, noch widerlegt werden. Ggf. wird die Wahrheit der empirischen Aussage angezweifelt.
Aristoteles meinte zwar, dass die Mathematik für die Naturwissenschaft ungeeignet sei, da das Quantitative nicht das Wesen der Dinge treffen könne. Dennoch hielt er ohne Zweifel die Mathematik für eine Wissenschaft, nur eben nicht für eine Naturwissenschaft. Genau genommen ist Euklids Geometrie ein Musterbeispiel für das aristotelische Wissenschaftsmodell. Sie ist axiomatisch aufgebaut und jedes Theorem wird rational deduziert. Selbst die Induktion gibt es in der Geometrie, dann nämlich, wenn man sich die Evidenz einer geometrischen Definition oder eines geometrischen Axioms klar machen will. Will man sich beispielsweise das Parallelenaxiom einsichtig machen, dann zeichnet man ein oder zwei Mal eine Gerade und einen Punkt und überlegt sich wie die Parallele zu dieser Gerade durch den Punkt aussehen muss, ob es möglicherweise mehrere geben kann, ob sich die Parallele irgendwo mit der Gerade schneiden könnte. So kann man sich jede geometrische Definition oder jedes Axiom anhand einiger weniger anschaulicher Beispiele einsichtig machen. Und so geschieht es ja auch normalerweise im Unterricht.
[1] Aristoteles: Nikomachische Ethik, VI.4.
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