Philosophie und Wissenschaft im Mittelalter

Philosophie und Wissenschaft im Mittelalter waren bemerkenswert vielfältig. Zwar hatte die Kirche mit ihren offiziellen Dogmen ohne Frage eine dominante Stellung, dennoch gab es verschiedene Schulen, die miteinander konkurrierten, sowie abweichende Meinung bis hin zur Häresie. Bis ins 11. Jahrhundert war die mittelalterliche Philosophie vor allem durch den Neuplatonismus geprägt. Selbstverständlich galt es, die Theorien antiker, heidnischer Denker mit dem Christentum in Einklang zu bringen.

Im Jahre 1085 eroberten die Spanier Toledo von den Arabern zurück. Dort fanden sie eine umfangreiche Bib­liothek philosophischer und wissenschaftlicher Schriften vor, und zwar sowohl arabische Über­set­zungen alter griechischer Autoren als auch wissenschaftliche arabische Literatur. Ab 1130 begannen christliche Gelehrte mit jüdischer und muslimischer Unterstützung diese Werke ins Lateinische zu übersetzen. So kamen die Schriften des Aristoteles erstmals ins mittelalterliche, christliche Europa, aber auch das astronomische Hauptwerk des Ptolemäus. Gerhard von Cremona übersetzte es 1175 ins Lateinische, so dass es im Abendland unter seinem arabischen Titel Almagest bekannt wurde.

Anfangs lehnte die Kirche die aristotelische Philosophie ab, bis Albertus Magnus (1193-1280) und Thomas von Aquin (1225-1274) einen Kompromiss fanden: Für alle Fragen des Glaubens, des Seelenheils und der Ethik sollten die christliche Theologie zuständig sein, für naturwissenschaftliche Fragen konnte man sich auf Aristoteles beziehen, wobei die Naturphilosophie nicht in Widerspruch zu christlichen Glaubenssätzen geraten durfte. Mit diesem Kompromiss konnte man zwar leben, aber es gab von Beginn an Spannungen.

Die mittelalterliche Philosophie wurde somit von zwei antiken Philosophen inspiriert: von Platon und von Aristoteles. So übernahmen die Gelehrten des christlichen Abendlandes trotz des Primats des Glaubens das antike Wissenschaftsverständnis. Die Scholaren versuchten mittels logisch-rationaler Beweise zu unumstößlich wahren Erkenntnissen zu gelangen, und die Empirie wurde der Theorie untergeordnet. Das erklärte Ziel der mittelalterlichen Philosophie war es, die Kernsätze des christlichen Glaubens, vorneweg die Existenz Gottes, logisch zu beweisen.

Aus spezifisch christlicher Sicht stellte sich zudem die Frage, ob Gott über der Logik steht. Zumal mit bestimmten absoluten Eigenschaften Gottes Paradoxien verbunden sind[1]. Nehmen wir beispielsweise die Allmacht Gottes: Wenn Gott unumschränkt allmächtig ist, dann müsste es ihm möglich sein, einen Stein zu schaffen, den er selbst nicht hochheben kann. Ist es ihm unmöglich einen solchen Stein zu schaffen, dann ist seine Allmacht offenbar nicht unumschränkt. Ist es ihm aber möglich, dann ist seine Allemacht auch beschränkt, da er ja dann ohnmächtig ist, diesen Stein anzuheben.

Letztlich kam die mittelalterliche Theologie zu dem Ergebnis, dass Gott über der Logik und über den Naturgesetzen steht. Interessant dabei ist, dass dies einen Aspekt des modernen Wissenschaftsbegriffs vorwegnimmt, zumindest ansatzweise. Denn gemäß der scholastischen Philosophie kann eine wissenschaftliche Theorie noch so einleuchten und rational vollständig belegt sein, sie könnte immer noch deswegen falsch sein, weil sich Gott in seiner unendlichen Allmacht über sie hinwegsetzt. Diesen Gedanken zu Ende gedacht, bedeutet das, dass eigentlich jede Theorie immer hypothetisch bleiben muss. Tatsächlich werden solche Überlegungen auch bei dem Streits Galileis mit der Kirche eine Rolle spielen.

Ein Merkmal des mittelalterlichen Weltbilds ist das Denken in Hierarchien. Auch in der antiken Philosophie war ein Einteilen in höher und niedriger üblich[2]. Der Himmel stand über der Erde, die Ideen über der Materie, das Beseelte über dem Unbeseelten, die Ordnung über dem Chaos, perfekte geometrische Figuren über unvollkommenen geometrischen Gebilden, ungerade Zahlen über gerade Zahlen. Die christliche Religion verstärkte diese hierarchische Auffassung der Welt noch.

Die ganze Wirklichkeit wurde auf verschiedenste Weise hierarchisch in Oben und Unten strukturiert, z.B.

  • Hierarchie der Lebewesen: Gott – Engel – Menschen – Tiere – Dämonen – Teufel
  • Kosmische Hierarchie: Himmel – Himmlische Sphären – Erde – Hölle.
  • Hierarchie der Elemente: Äther – Feuer – Luft – Wasser – Erde.
  • Gesellschaftliche Hierarchie: Kaiser/Papst – Fürsten – Adel/Geistlichkeit – einfaches Volk.
  • Familiäre Hierarchie: Vater – Mutter – Kinder – evtl. Knechte und Mägde.
  • Ferner: Hierarchien der Seelenteile, der Organe und vieles mehr.

Insbesondere neuplatonische Philosophie mit ihren verschiedenen Seinsstufen passte hervorragend zu diesem hierarchischen Denken. Aber auch die aristotelische Naturphilosophie fügte sich gut genug ein. Immerhin war es für Aristoteles nicht nur eine Frage des Blickwinkels, wo oben und unten ist, sondern wo im Weltall oben und unten ist, sah er als objektiv gegeben an.

Ferner wurde angenommen, dass zwischen den verschiedenen hierarchischen Strukturen enge Korrelationen bestehen. Kommt eine Struktur in Unordnung, dann hat das auch für die anderen Strukturen negativen Folgen. Verfällt z.B. die familiäre Hierarchie, so bedroht das auch die gesellschaftliche oder sogar die kosmische Hierarchie. Oder Zeiten großer gesellschaftlicher oder politischer Umbrüche werden so verstanden, dass das Ende der Welt insgesamt nahe ist. Auch können „schlechte Sternkonstellationen“ oder Kometen ein Hinweis darauf sein, dass auch der gesellschaftlichen Struktur Gefahr droht.

Im Mittelalter galten Autoritäten als eine wichtige Quelle für die Wahrheit. Das konnte die Bibel sein, die Kirche, aber auch allgemein anerkannte Philosophen wie Aristoteles, Thomas von Aquin und andere.

Das ptolemäische Modell für die mathematische Beschreibung der Planetenbahnen hatte zwar seine Diskrepanzen sowohl zur platonischen als auch zur aristotelischen Naturphilosophie. Beide nahmen an, dass sich der himmlische Äther, der die Planeten mit sich führt, gleichförmig in perfekten Kreisen um die Erde drehen würde. Aber auch das ptolemäische Modell passte sich gut in das hierarchische, mittelalterliche Weltbild ein, da es erlaubte, einen natürlichen Ort für Himmel und Hölle festzulegen. Der Himmel befand sich demnach am äußersten Rand des Weltalls, in der Mitte ist die Erde und im Mittelpunkt der Erde liegt die Hölle.

Im Laufe des Mittelalters bot die aristotelische Naturphilosophie in Kombination mit dem pto­le­mäischen Modell ein insgesamt schlüssiges Gesamtbild der Welt, das auch im guten Einklang mit dem christlichen Glauben stand. Diese Welterklärung dominierte vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, also 300 Jahre lang, das europäische Denken, wenngleich einerseits die Spannung zwischen dem ptolemäischen Modell und aristotelischer Naturphilosophie untergründig bestehen blieb, es andererseits eine Vielzahl verschiedener Schulen und Denkrichtungen gab.

Bezeichnend ist, dass die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Schulen auf begrifflich-logischer Ebene stattfanden. Ganz im Sinne des antiken Wissenschaftsverständnisses, das logische Deduktion über Empirie stellte, wurde trefflich darüber gestritten, „ob die Bewegung eine intensive oder extensive Größe ist, eine forma fluens oder eine fluxus formae […]. Nur eines interessierte keinen: wie man nämlich Bewegung messen kann.“[3] Überhaupt erlebte das rational-logische Argumentieren in der mittelalterlichen Scholastik eine ungeahnte Blüte, es entstand eine Kultur der begrifflichen Klärung, der logischen Beweisführung und des intellektuellen Diskutierens. Am Übergang zur Neuzeit wurde dies allerdings zunehmend negativ bewertet als haltloses Spekulieren, als unfruchtbare Streitgespräch und bloße Wortklauberei. Denker wie Galilei, Bacon oder Descartes verabscheuten ausdrücklich die scholastische Logik.

Die Bedeutung der Mathematik für die Naturforschung begann sich erst in der Renaissance langsam herauszubilden. Allerdings wurde ein wichtiger mathematischer Fortschritt bereits im Mittelalter vollzogen: Die Einführung des Dezimalsystems samt der damit verbundenen formalen Rechenkalküle.

[1] Siehe auch: Bauke-Ruegg: Die Allmacht Gottes; Rexroth, Frank: Fröhliche Scholastik; Beckmann: Philosophie im Mittelalter. Dietlein, Georg: Macht und Allmacht Gottes bei Wilhelm von Ockham.

[2] Dijksterhuis, E.J.: Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 96 ff.

[3] Fischer [23], S. 41 f.

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