Wann wurde die Naturwissenschaft hypothetisch-empirisch?

Warum ist die moderne Naturwissenschaft so erfolgreich? Warum ist der wissenschaftliche Fortschritt in der Neuzeit unvergleichlich größer als in der Antike oder im Mittelalter? Die meisten Physiker würden darauf wohl antworten, indem sie auf die Methode der heutigen Physik verweisen, die man erstens hypothetisch-empirisch und zweitens mathematisch nennen könnte. Ich möchte mit den nachfolgenden Weblog-Beiträgen die Geschichte der Entstehung dieser modernen wissenschaftlichen Methode erzählen.

Moderne Naturwissenschaft ist hypothetisch-experimentell

In der modernen Naturwissenschaft werden Hypothesen formuliert, woraus Aussagen für konkrete Einzelfälle hergeleitet werden, die man empirisch überprüfen kann. Und je nachdem, ob die hergeleiteten Aussagen mit den Erfahrungstatsachen übereinstimmen oder nicht, gilt der Theorie als bewährt oder sie muss revidiert werden. Der Physiker Josef Honerkamp schreibt in Wissenschaft und Weltbilder[1]:

„Bei den meisten [Naturwissenschaftlern] scheint sich die Meinung durchgesetzt zu haben, dass sowohl rational-deduktive Argumentationsstränge, wie auch empirische Tatsachen vonnöten sind, um zu überzeugenden Erkenntnissen zu kommen […]. Der Anfang, von dem aus Logik und rationales Denken seinen Weg nimmt […] werden stets als Hypothesen angesehen, deren ‚Wahrheit‘ sich an den Fakten messen lassen muss. Bei der Formulierung solcher Grundannahmen kann durchaus ein Wahrheitsgefühl eine Rolle spielen. Doch die Geschichte ist voll von Entwicklungen, in denen solch ein Gefühl nachweislich in die Irre führte. Skepsis hat sich somit breitgemacht, und das Wahrheitsgefühl wird nur noch umgemünzt in Hypothesen, deren vorläufiger Charakter man einsieht.“

Sowie Honerkamp in Was können wir wissen?[2]:

„Die Methode, die erst die moderne Naturwissenschaft entstehen ließ […:] Man lernte, dass es außer in der Mathematik nichts zu beweisen gibt, dass es aber um eine möglichst logisch stringente Deduktion geht und dass diese immer bei Tatsachen, Annahmen und Hypothesen anknüpfen muss. […] Es wurde klar, dass die durch Deduktion entstandenen Aussagen ein Licht auf die zugrunde liegenden Annahmen und Hypothesen werfen mussten.“

In diesem Sinne beziehen sich auch einige Wissenschaftler, wie gebildete Laien gerne auf Popper[3] und bezeichnen es geradezu als Merkmal moderner Wissenschaftlichkeit, dass naturwissenschaftliche Theorien immer nur hypothetischen Charakter haben und jederzeit durch Erfahrungstatsachen falsifiziert werden können.

Bei diesem Wissenschaftsmodell ist es erst einmal unwichtig, wie der Wissenschaftler die Hypothesen gefunden hat. Es ist auch egal, ob diese Hypothesen irgendeinem Menschen als evident erscheinen oder unmittelbar durch die Erfahrung belegt sind. Eher im Gegenteil. Die heutigen Grundsätze der Physik sind im Allgemeinen so mathematisch und so weit weg von der Alltagserfahrung, dass sie alles andere als durch sich selbst evident sind. Sie haben immer etwas Beliebig-Hypothetisches. Es kommt nur darauf an, dass sie dabei helfen, bestimmte Naturphänomene möglichst gut zu beschreiben, und möglichst gute Prognosen zu erlauben. In diesem Sinne sagt Einstein[4]:

„Die Relativitätstheorie ist ein schönes Beispiel für den Grundcharakter der modernen Entwicklung der Theorie. Die Ausgangshypothesen werden nämlich immer abstrakter, erlebnisferner. Dafür kommt man aber dem vornehmsten wissenschaftlichen Ziel näher, mit einem Mindestmaß von Hypothesen oder Axiomen ein Maximum an Erlebnisinhalten durch logische Deduktion zu umspannen. Dabei wird der gedankliche Weg von den Axiomen zu den Erlebnisinhalten bzw. zu den prüfbaren Konsequenzen ein immer längerer, subtiler.“

Und gerade deswegen ist eine Überprüfung anhand von Erfahrungstatsachen so wichtig, um nämlich überhaupt eine Verknüpfung der überaus abstrakten Theorie mit der Realität zu gewährleisten. Denn moderne Wissenschaftler glauben nicht mehr daran, beispielsweise mittels Vernunfteinsicht in das innerste Wesen der Natur blicken zu können. Die Naturwissenschaft beschreibt die Naturphänomene, die Dinge an sich – um mit Kant zu sprechen – bleiben aber unerkennbar[5]. Das moderne Wissenschaftsverständnis kann man somit als hypothetisch-empirisch bezeichnen, da die moderne Naturwissenschaft zunächst beliebige Hypothesen aufstellt, aus denen dann Aussagen deduziert werden, die empirisch überprüfbar sind.

Die moderne Naturwissenschaft und die Mathematik

Die heutige Physik ist nicht nur hypothetisch-empirisch, sie ist auch in einem hohem Maße mathematisch. Aus mathematisch formulierten Hypothesen kann man besonders gut konkrete Aussagen herleiten und durch Experimente und Messungen quantitativ überprüfen. In der Physik war die Verwendung mathematischer Methoden so erfolgreich, dass die Mathematisierung auch in anderen Wissenschaften zum Ideal wurde. Jedenfalls gab es Ansätze, Mathematik auch beispielsweise in der Chemie, der Biologie, aber auch in der Volkswirtschaftslehre oder der Psychologie einzusetzen. Lange wurde Wissenschaftlichkeit überhaupt mit Mathematisierung gleichgesetzt, zum Teil macht man das noch heute.

Das änderte sich erst, nachdem Frege, Russell und andere Ende des 19. Jahrhunderts die moderne Logik entwickelten. Damit schufen sie einen anderen deduktiven Rahmen, der allgemeiner ist als die herkömmliche Mathematik. Selbstverständlich ist die Physik bis heute sehr mathematisch, aber die heutige Wissenschaftstheorie hat in ihren Wissenschaftsmodellen die Mathematik durch die moderne Logik ersetzt. Das ist aber ein Thema, das nicht Gegenstand dieser Arbeit sein wird.

Das aristotelische Modell einer Naturwissenschaft

Dass Naturwissenschaft mathematisch, hypothetisch und empirisch ist, ist alles andere als selbstverständlich. Lange Zeit dominierte das aristotelische Wissenschaftsmodell, das er in der Zweiten Analytik beschrieben hat. Wissenschaft ist demnach nicht hypothetisch, sondern ihr Ziel ist unumstößlich wahres und notwendiges Wissen. Dazu versucht man oberste Prinzipien oder Axiome zu finden, die eine Einsicht in das Wesen der Naturdinge gestatten. Die unumstößliche Wahrheit dieser Prinzipien wird dadurch gewährleistet, dass sie evident sind. Für die Vernunfteinsicht ist es undenkbar, dass sie nicht gelten. Die aristotelische Induktion ist die Methode, die Prinzipien anhand einiger konkreter Beispiele evident zu machen. Hat man die Prinzipien einmal als notwendig eingesehen und alles Weitere daraus logisch-begrifflich daraus deduziert, dann ist diese Theorie so unumstößlich wahr, dass auch widersprechende Erfahrungstatsachen ihr nichts anhaben können. Der deduktive Rahmen war die klassische aristotelische Logik.

Das aristotelische Wissenschaftsmodell ist von dem heutigen hypothetisch-empirischen Verständnis von Naturwissenschaft sehr weit entfernt. Und nicht nur das. In der aristotelischen Wissenschaft war zwar die Deduktion wichtig, aber nur gemäß der klassischen, begrifflichen Logik. Die Mathematik hingegen lehnte Aristoteles für die Naturerkenntnis strikt ab. Dazu im Gegensatz ist die neuzeitliche Physik vor allem eine mathematische Wissenschaft.

Angesichts einer so großen Differenz zwischen dem aristotelischen Wissenschaftsmodell, das noch im Mittelalter vorherrschte, und dem heutigem Wissenschaftsverständnis, drängt sich die Frage auf, wie es zu diesem Wandel kam. Die Geschichte dieses Wandels ist das Thema der vorliegenden Arbeit.

Galileo Galilei (1564-1642)

Einige glauben, dass die Transformation vom aristotelischen zum modernen Wissenschaftsverständnis mit einer einzigen Person verbunden ist: mit Galileo Galilei. Demnach ist er der Gründungsvater der modernen mathematischen Physik. Er sei das große Genie gewesen, das die Idee einer neuen deduktiven und hypothetisch-empirische Naturwissenschaft hatte und sie durchsetzte gegen eine wissenschaftsfeindliche Kirche und einen scholastischen Wissenschaftsbetrieb, der dogmatisch an Aristoteles festhielt. So schreibt der Physiker Josef Honerkamp[6]:

„Naturwissenschaftler unterscheiden sich von Naturphilosophen aber darin, dass sie ihre Hypothesen über Leitgedanken oder Prinzipien in eine experimentell überprüfbare Form bringen und zu dieser Hypothese erst mehr Vertrauen finden, wenn diese die ersten Prüfungen überstanden hat. Genau dieses hat Galilei als Erster bewusst vorgemacht und es ist seitdem das Proprium einer Naturwissenschaft.“

Glaubt man diesem Narrativ, dann wäre meine Geschichte des wissenschaftlichen Wandels sehr schnell erzählt. Sie wäre einfach die Geschichte Galileis. Ist man somit hoffnungsfroh und liest dann eines von Galileis Werken, dann ist man über die Maßen verwundert. Ja, Galilei hat den freien Fall mathematisch korrekt beschrieben und er formulierte als einer der ersten eine Version des Trägheitsprinzips. Und ja, er machte spektakuläre astronomische Beobachtungen mit seinem Fernrohr und er trat für das heliozentrische Weltbild ein.  Aber von der hypothetisch-empirischen Methode im heutigen Sinne findet man bei ihm nicht einmal ein Krümelchen von einer Spur.

Es ist auch richtig, dass man bei Galilei viele mathematische Deduktionen findet, allerdings haben sie häufig einen eher befremdlichen Charakter. Beispielsweise „beweist“ er mathematisch, dass ein Stück festen Stoffes von begrenzter Länge aus unendlich vielen Atomen besehen müsse, weil ja auch die geometrische Linie unendlich teilbar ist und somit aus unendlich vielen geometrischen Punkte besteht[7]. Ja, bei Galilei hat die Mathematik manchmal die Funktion, die Naturphänomene zu beschreiben, so wie es dem modernen Wissenschaftsverständnis entspricht. Sehr viel häufiger aber nutzt er sie, um die Grenzen der Empirie zu überschreiten. Er verwendet die Mathematik oft als eine Art Metaphysik. Galilei vertritt eine Auffassung von der materiellen Wirklichkeit, die ich „Mathematisierung der Natur“ nennen möchte.

Sicherlich gibt Galilei in den Discorsi eine der ersten Beschreibungen einer physikalischen Versuchsanordnung. Aber alles in allem spielen in Galileis veröffentlichten Werken Experimente eine so unwichtige Rolle, dass der Wissenschaftshistoriker Alexandre Koyré schon vermutete, dass Galilei überhaupt nicht experimentiert hatte. Diese Vermutung ist freilich inzwischen widerlegt. Dennoch ist es paradoxerweise vor allem der etwas dümmliche, aristotelische Simplicio, der in Galileis Dialogen immer auf die Empirie verweist und von seinen Gesprächspartnern empirische Belege einfordert, was geradezu als Beweis seiner Borniertheit dargestellt wird, da er empirische Belege braucht für etwas, das man, wenn man nur vernünftig genug ist, als an sich evident einsehen müsste. Insgesamt scheint Galilei in direkt platonischem Geiste eine rationalistische Vernunfteinsicht höher zu schätzen als die Empirie.

Wenn Galilei auf Erfahrungstatsachen verweist oder Gedankenexperimente macht, dann kein einziges Mal, um eine aus hypothetischen Prinzipien hergeleitete Konsequenz zu überprüfen. Vielmehr geht es meistens darum, ein aufgestelltes Prinzip, z.B. den Trägheitssatz, evident zu machen, ganz im Sinne einer aristotelischen Induktion.

Ferner ist Galilei meilenweit davon entfernt, seine Theorien als hypothetisch zu bezeichnen. Er hält sie vielmehr für so unumstößlich wahr wie die Mathematik selbst. Beispielsweise ist sein angeblich unanzweifelbarer Beweis dafür, dass die Erde rotiert, die Tatsache, dass es Ebbe und Flut gibt, die, wie er meint, mathematisch darlegen zu können, nur durch die rotierende Bewegung der Erde erklärbar sei. Ein Argument, das jedem heutigen Physiker absurd erscheint. Auch „wusste“ er mit mathematischer Gewissheit, dass die Planeten sich in Kreisen um die Sonne drehen würden, obwohl Kepler aufgrund einer sehr breiten empirischen Datenbasis bereits erkannt hatte, dass die Planetenbahnen Ellipsen sind. Anstatt sich sachlich mit Keplers Ideen auseinanderzusetzen, machte sich Galilei über ihn lustig.

Übrigens rührte sein Konflikt mit der Kirche vor allem daher, dass er nicht bereit war, seine – heute als falsch erkannten – Theorien als bloße Hypothesen gelten zu lassen, wie es die Kirche forderte. Natürlich stritt die Kirche nicht für das hypothetisch-empirische Wissenschaftsmodell, aber zufälligerweise war sie in diesem Punkt moderner als Galilei.

Recht besehen ist Galilei mit seiner Wissenschaftsauffassung näher bei Aristoteles als bei einem heutigen Physiker. Galilei propagiert eine unbedingt wahre Naturwissenschaft, deren Ziel die Erkenntnis des innersten Wesens der Natur ist, und zwar indem man zunächst die unumstößliche Wahrheit bestimmter Axiome vernünftig erschaut und daraus die weitere Theorie deduziert. Durch die Vernunfteinsicht soll der unerschütterliche Realitätsbezug der Axiome gewährleistet sein. Erfahrungsbeispiele und vor allem auch Gedankenexperimente dienen nicht dazu, hergeleitete Lehrsätze zu überprüfen, sondern haben den Zweck, die aufgestellten Axiome evident zu machen. Überhaupt spielen Erfahrungstatsachen eine eher untergeordnete Rolle. Der einzige wirkliche Unterschied zu Aristoteles ist, dass Galilei das innerste Wesen der Natur für mathematisch hält, was Aristoteles strikt abgelehnt hatte.

Schließlich sei hier noch der Wissenschaftshistoriker Dijksterhuis zitiert[8]:

„Es gibt in der gesamten Wissenschaftsgeschichte vielleicht keine einzige Gestalt, über welche die Meinungen so auseinandergehen wie über Galilei. […] Die Sache wird noch dadurch kompliziert, dass dem auf dem Studium seiner Werke beruhenden echten, wenn auch oft einseitigen Galileibildern die unechten Bilder dessen, was man den Galileimythos nennen kann, […] gegenüberstehen. Dieses Bild wird entworfen und lebendig erhalten durch Schriftsteller über moderne Physik, die das Bedürfnis nach einer historischen Einleitung haben, die sich aber nicht die Mühe genommen haben, die einfache Pflicht der Exaktheit zu erfüllen, die darin besteht, die gemachten Mitteilungen an der historischen Quelle zu prüfen. Es ist ein durch und durch falsches Bild, aber es erstrahlt in viel hellerem Glanz als eines der echten […].“

Ich versuche, weiter unten ein Bild von Galilei zu entwerfen vor allem anhand dessen, was er selbst geschrieben hat, und hoffentlich frei von Einseitigkeiten und von Mythen.

Mathematisierung der Natur

Wie gesagt, Galileis „neue Wissenschaft“ ähnelt sehr dem Wissenschaftsmodell, das Aristoteles in der Zweiten Analytik beschrieben hat. Und dennoch gibt es einen wichtigen Unterschied: Während nach Aristoteles die Mathematik für die Naturerkenntnis ungeeignet ist[9], wird sie bei Galilei zum wichtigsten Hilfsmittel der Naturwissenschaft. Für Galilei ist wahre Naturwissenschaft mathematisch, weil das immanente Wesen der materiellen Wirklichkeit mathematisch ist. Außerdem gestattet die Mathematik besonders klare und stringente Deduktionen, wohingegen die klassische Logik zu Beginn der Neuzeit vor allem mit haltloser Begriffsklauberei assoziiert wird. Die Verwendung der Mathematik in der Naturphilosophie ist tatsächlich etwas revolutionär Neues und ein wichtiger Schritt hin zur modernen Physik. Andererseits kann keine Rede davon sein, dass Galilei die neue mathematische Naturwissenschaft im Alleingang erfunden hätte. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Vorgängern und Zeitgenossen Galileis, die auch schon mit mathematischen Methoden naturwissenschaftlich forschten. Sieht man genauer hin, dann findet man, dass sich überhaupt die europäische Kultur bereits vor Galilei über Jahrhunderte hinweg mathematisiert hat.

Als im Hochmittelalter die arabischen Ziffern nach Europa gelangten, war das eine wichtige Innovation. Das Rechnen mit den neuen Zahlen war um vieles leichter als mit römischen Ziffern. Europäische Mathematiker beschäftigten sich mit der neuen Rechenkunst und entwickelten die Algebra weiter. Aber auch ein immer größerer Teil der Bevölkerung lernte den Kalkül mit arabischen Ziffern. Der Buchdruck ab 1450 förderte dies noch. Außerdem wurden zahlreiche antike Werke über Geometrie übersetzt und gedruckt.

Händlern und Kaufleuten war der Nutzen der Mathematik schon immer klar. Im Laufe der Renaissance entstand zudem eine Klasse von praktisch orientierten Künstler-Ingenieuren, Malern, Bildhauern, Architekten. Die Renaissance-Kunst ist voller Mathematik. Damalige Künstler legten ihren Zeichnungen Liniennetze zugrunde, beschäftigten sich mit komplexen geometrischen Körpern, analysierten die Dinge nach ihren Proportionen. Auf der anderen Seite wurde mathematisches Wissen, wie nie zuvor in der Geschichte, für praktisch-technische Anwendungen nutzbar gemacht: in der Kartografie, dem Bauwesen, der Konstruktion von Werkzeugen und Maschinen. So entstand eine neue mathematische Sichtweise auf die Dinge.

Wissenschaftler, die vor Galilei oder zeitgleich mathematische Methoden in der Naturphilosophie verwendeten sind unter anderem: Nikolaus von Oresme (1330-1382), Nicolo Tartaglia (1499-1557), Giovanni Battista Benedetti (1530-1590), Galileis Vater Vincenco Galilei (1520-1591), Juan Bautista Villalpando (1552-1608), Simon Stevin (1548-1620). Isaak Beeckman (1588-1637). Und natürlich: Nikolaus Kopernikus (1473- 1543), sowie Johannes Kepler (1571-1630). Wie man angesichts dieser Datenlage behaupten will, Galilei hätte die mathematische Naturwissenschaft erfunden, ist mir rätselhaft.

Besonders bei Kopernikus und Kepler kann man sehen, dass für sie die Mathematik einen mystisch-metaphysischen Charakter hatte. Ich werde zeigen, dass Galilei, Descartes und Newton die Mathematik nicht in erster Linie zur Beschreibung von Naturphänomenen verwendeten, so wie es dem heutigen Wissenschaftsverständnis entspricht. Ihnen war vielmehr die Mathematik oft ein Hilfsmittel für eine die Empirie überschreitende Metaphysik. Sie meinten die Mathematik dazu benutzen zu können, um einen Blick in den innersten Wesenskern der Natur zu werfen, darauf, wie die Dinge an sich sind. Und zwar sahen sie, wie ich zeigen werde, mathematischen Strukturen erstens als der Natur wesentlich und zweitens als der Natur immanent an. Der erste Punkt richtet sich gegen Aristoteles, da seiner Meinung nach das Wesen der Naturdingen nicht mathematisch sein kann. Der zweite Punkt richtet sich gegen Platon, weil er das Mathematische in einen von der empirischen Wirklichkeit getrennten Ideenhimmel verlegte. Die Auffassung, dass die materielle Wirklichkeit ihrem Wesen nach mathematisch ist, die „Mathematisierung der Natur“, führte einerseits dazu. die Naturphänomene quantitativ auszumessen, sie war aber auch eine neue metaphysische Sicht auf Welt,

Die empirische Realität ist nicht perfekt, sie entspricht nicht 100%ig dem genauen mathematischen Ideal. Mathematisierung der Natur bedeutet, dass diese Unvollkommenheit der Wirklichkeit als unwesentlich oder als belanglos heruntergespielt wird. Dies führt zu einer Toleranz gegenüber der Annäherung, der Approximation, sowie gegenüber Messfehlern.

Die Mathematisierung der Natur findet auch in dem Atomismus ihren Ausdruck, der im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einer unter Naturwissenschaftlern allgemein anerkannten Lehre wurde. Bei Galilei, Descartes und Newton ist er erkennbar, aber auch im Mechanismus des 19. Jahrhunderts.

Francis Bacon (1561-1626)

In der Renaissance kam es außerdem zu einer Aufwertung der Empirie. Auch hier gab es eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung. Die Europäer betrieben immer mehr Fernhandel und entdeckten neue Seewege, so dass sie ihr Wissen um neue Länder, fremde Kulturen und Völker beträchtlich erweitern konnten. Noch im Mittelalter lernte man vor allem aus Büchern und man glaubte daran, was einem eine Autorität als wahr verbürgte. Dies änderte sich nun. In der Anatomie, der Heilkunde, der Botanik, der Tierkunde und anderen Bereichen sammelte man in nie dagewesener Weise Erfahrungswissen an und vertraute immer weniger den überlieferten Lehren. Stattdessen wollte man die Dinge mit eigenen Augen erforschen und überprüfen. Auch das bedeutete einen Wandel der europäischen Kultur, sie wurde empirischer und weniger autoritätsgläubig.

Ein Exponent dieser Entwicklung ist der englische Politiker und Philosoph Francis Bacon. Er wandte sich vehement gegen das traditionelle, aristotelische Wissenschaftsmodell, insbesondere auch gegen logisch-begriffliche Deduktionen. Axiome, deren Wahrheit durch Vernunfteinsicht gerechtfertigt sein sollen, lehnte er als voreilige Verallgemeinerungen ohne hinreichende empirische Basis ab. Rationalistisches Argumentieren und deduktive Beweise hielt er für haltlose Spekulationen und für Begriffsklauberei. Auch er propagierte, ähnlich wie Galilei, eine „neue Wissenschaft“, die aber auch wieder nichts mit dem heutigen hypothetisch-empirischen Wissenschaftsverständnis zu tun hatte. Bacon hielt seine neue induktive Methode für die wichtigste Innovation. Schon bei Aristoteles gab es eine Induktion, die dazu dienen sollte, Axiome mithilfe von ein paar konkreten Beispielen evident zu machen. Dies war Bacon viel zu oberflächlich. Stattdessen beschrieb er detailliert seine neue Induktion, eine Methode die anhand einer sehr großen Anzahl empirischer Instanzen verschiedene Listen erstellt, um daraus systematisch allgemeine Erkenntnisse abzuleiten.

Man muss zugestehen, dass Bacons neue induktive Methode faktisch wohl zu keiner einzigen naturwissenschaftlichen Erkenntnis geführt hat.  Aber er war dennoch in vielerlei Hinsicht richtungsweisend. Erstens war er ein visionärer Wegbereiter einer künftigen Wissenschaft, indem er Wissenschaft als ein Gemeinschaftsprojekt vieler Wissenschaftler verstand, die über Jahrhunderte hinweg Wissen sorgfältig ansammeln. Deswegen beriefen sich viele wissenschaftliche Akademien, die im Laufe des 17. Und 18. Jahrhunderts gegründet wurden, sowie die französischen Enzyklopädisten ausdrücklich auf Bacon.  Zweitens konnte man seinen Werken Maximen zur Erforschung der Natur entnehmen, die ich wie folgt formulieren möchte:

Maxime 1: Sammle so viele Daten wie möglich! Hüte dich dabei vor theoretischen Vorannahmen! Beobachte die Natur sorgfältig, methodisch und vorurteilsfrei! Befrage die Natur systematisch mithilfe von Experimenten!

Maxime 2: Hüte dich vor voreiligen Verallgemeinerungen! Vermeide Aussagen, die keine empirische Grundlage haben! Voreilige Verallgemeinerungen bzw. Aussagen ohne empirische Basis wird Newton „Hypothesen“ nennen. Gerade theoretische Vorurteile verhindern oft die wahre Naturerkenntnis.

Außerdem sprach er sich dafür aus, die gewonnen Erkenntnisse schnellstmöglich nutzbar zu machen. Und zwar, entweder indem man mit deren Hilfe Ereignisse richtig vorhersagst oder indem man technische Anwendungen konstruiert. Auch hier war er ein Visionär einer künftigen sich gegenseitig befruchtenden Zusammenarbeit von Ingenieurskunst und Wissenschaft.

Diesen Maximen fühlten sich viele Wissenschaftler verpflichtet, darunter Robert Boyle, Robert Hooke und Isaac Newton, auch wenn sie seine neue Induktion im Detail nicht anwendeten.

Descartes (1596-1650)

Descartes entwarf in seinem Werk Principia Philosophiae (1644) ein gesamtes System, das von den Stoßgesetzen bis zu den Planetenbahnen alle Naturphänomene erklären sollte. Mit Descartes hat die Mathematisierung der Natur einen Höhepunkt erreicht. Denn seiner Meinung nach hat ein materieller Körper nicht nur eine räumliche Ausdehnung, – nein, er ist sie wesensmäßig. Descartes treibt die Identifikation von materieller Welt und idealer Geometrie auf die Spitze. Ähnlich wie vor ihm Galilei, beantwortet Descartes einige physikalische Fragen durch rein geometrische Argumente. Die aristotelische Logik lehnte er übrigens als nutzlos und formalistisch ab. Stattdessen propagierte er Deduktionen in kleinen Schritten, deren inhaltliche Korrektheit jeder für sich klar und deutlich ist.

Descartes versteht Naturwissenschaft rationalistisch. Für ihn ist sie weder hypothetisch, noch empirisch. Sie soll vielmehr notwendig wahr sein, ähnlich wie die Mathematik. Erfahrungstatsachen sind für ihn unwichtig. Alle naturwissenschaftlichen Prinzipien glaubte er beweisen zu können, und zwar letztlich aus der Vollkommenheit Gottes.

Sein Anspruch ist zwar, dass Naturwissenschaft mathematisch sein soll, seine Argumentation in den Principia ist aber durchgängig nicht-mathematisch. Deswegen kann man sein Werk als ein Forschungsprogramm für künftige Wissenschaftler auffassen, wodurch sich wohl z.B. Christiaan Huygens (1629-1695), inspiriert fühlte.

Isaac Newton (1643-1727)

Der Gründungsmythos der modernen Physik hat noch einen weiteren Helden: Isaac Newton. Was bei Descartes noch bloßer Anspruch ist, wird bei ihm Wirklichkeit: eine umfassende, durchgängig mathematisch formulierte Naturwissenschaft. Seine Leistung war es, große Teile des damaligen physikalischen Wissens zu einer einheitlichen, axiomatisch aufgebauten Theorie zusammenzufassen. Ganz oben stehen dabei (im Wesentlichen) die drei sog. Bewegungsgesetzen, sowie das Gravitationsgesetz, das irdische Phänomene, wie den freien Fall und Würfe, genauso erklärt wie die Planetenbewegungen. Es gibt keinen Zweifel, dass Newtons Mechanik einer der Höhepunkte der neuzeitlichen mathematischen Physik darstellt. Ist sie aber ein Beispiel für die moderne hypothetisch-empirische Methode? Nein, sicher nicht.

Zunächst ist Newtons Aufbau seiner Mechanik axiomatisch und erinnert rein äußerlich an ein Lehrbuch der Geometrie. Faktisch betreibt er eine Naturwissenschaft ganz im Stile Galileis, d.h. als mathematische Version des aristotelischen Wissenschaftsmodells. Er versucht die Bewegungsgesetze durch ein paar Beispiele evident zu machen und hält sie offenbar für unbedingt wahr. Jedenfalls stellt er sie in keiner Weise als hypothetisch dar. Nicht ein Mal werden die Konsequenzen der Theorie auf einen konkreten Einzelfall angewendet, um sie empirisch zu überprüfen.

Faktisch ist Newtons Mechanik eine axiomatisch aufgebaute, aristotelische Wissenschaft mit dem Anspruch auf unbedingte Wahrheit, mit der einzigen Besonderheit, dass alle Deduktionen geometrisch sind, ähnlich wie bei Galilei. Andererseits beschreibt Newton, wie seiner Meinung nach Wissenschaft zu sein hat. Paradoxerweise passt das eine nicht zu dem anderen. Sein Anspruch ist, dass man die naturwissenschaftlichen Prinzipien induktiv aus den Naturphänomenen „ableiten“ solle, was mit Sicherheit eine Anspielung auf Bacons neue induktive Methode ist. Recht besehen, tut Newton das selbst aber nicht. Er geht nicht, wie es Bacon fordert, so vor, dass er auf einer sehr breiten empirischen Basis sorgfältig Listen von verschiedenartigen Instanzen aufstellt, um hieraus sorgfältig eine allgemeine Gesetzmäßigkeit abzulesen. Vielmehr verwendet er ein paar wenige konkrete Beispiele, um seine Prinzipien einsichtig zu machen, ganz im Stile des Aristoteles, was Bacon als voreilige Verallgemeinerung abgelehnt hätte.

Unabhängig davon, welche Form Newtons Mechanik tatsächlich hat, schuf Newton das Ideal eines neuen Wissenschaftsmodells, das Bacons Empirismus mit Galileis neuer mathematischer Wissenschaft kombiniert. Jedes naturwissenschaftliche Gesetz soll streng induktiv gefunden werden. Das heißt durch methodische und vorurteilsfreie Beobachtung der Naturphänomene und entsprechende Experimente. Und das gewissermaßen von unten nach oben, indem immer höhere Grade der Allgemeinheit erreicht werden. Wobei am Schluss die allerobersten, mathematisch formulierten Prinzipien stehen, aus denen dann wiederum jeder theoretische Lehrsatz mathematisch herleitbar sein soll. Auch dieses Wissenschaftsmodell ist zwar empirisch, weil Allaussagen aus den Naturphänomenen induktiv abzuleiten sind. Die so gewonnenen Aussagen haben aber nicht den Status beliebig angenommener Hypothesen. Die Vorgehensweise ist in gewisser Weise der modernen hypothetisch-empirischen Methode genau entgegengesetzt. Newtons Modell beginnt bei empirischen Daten und gelangt durch Induktion zu Allaussagen, während die moderne Wissenschaft mit hypothetischen Allaussagen beginnt, daraus Sätze für konkrete Einzelfälle ableitet, die schließlich empirisch zu überprüfen sind.

Analytische Mechanik: Euler (1707-1783) und Lagrange (1736-1813) und andere

Newtons Physik war ein gewaltiger Wurf, allerdings alles andere als unumstritten. Viele Wissenschaftler lehnten die Idee einer fernwirkenden Gravitationskraft vehement ab. Nur Kräfte, die durch Druck und Stoß mittels direkter Berührung wirkten, galten als rational nachvollziehbar. Angeblich fernwirkende Kräfte erinnerten damals an die aristotelische Naturphilosophie oder an mittelalterlichen Irrationalismus, die man beide zu überwinden hoffte. Andererseits gab es keine andere Theorie, die die Naturphänomene so umfassend und vor allem so durchgängig mathematisch erklären konnte. So arbeiteten die Wissenschaftler zwar an einer mathematischen durch Newton geprägten Physik mit, naturphilosophisch vertraten sie aber bisweilen eine andere Meinung als Newton. Man hielt Newtons Physik vorläufig für die beste Option, hatte aber die Hoffnung, sie irgendwann doch noch vollständig durch Druck und Stoß erklären zu können.

Im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts traten die naturphilosophischen Differenzen immer mehr in den Hintergrund und die Newtonsche Mechanik etabliert sich als allgemeiner Standard. Euler, d’Alembert, Lagrange und andere entwickelten sie so weiter, dass man sie für einen Zweig der analytischen Mathematik halten konnte. Die Mechanik erhielt damals das mathematische Aussehen, das sie bis heute hat. Wissenschaftstheoretisch hielt man sich allerdings weniger an Newton als an Descartes. Man hielt es weder für nötig, die obersten naturwissenschaftlichen Prinzipien, noch die daraus deduzierten Konsequenzen empirisch zu überprüfen. Stattdessen hielt man die notwendige Gültigkeit einfach für selbstverständlich oder man bemühte sich, die obersten theoretischen Prinzipien, rational zu „beweisen“. Auch hier war man weit weg vom hypothetisch-empirischen Wissenschaftsmodell.

Mechanismus des 19. Jahrhunderts

Sowohl Newtons Mechanik als auch Newtons offiziell propagiertes Wissenschaftsmodell wurde im 19. Jahrhundert zum fast allgemeingültigen Standard. Die Mechanik galt, auch dank Euler, Lagrange und anderen, inzwischen als fast vollendet und größtenteils als so gewiss wie die Mathematik selbst. Andere Teilbereiche der Physik, z.B. die Elektrik, der Magnetismus oder die Optik, ließen noch einige Fragen offen. Man hoffte aber, auch diese Phänomene irgendwann einmal rein mechanisch erklären zu können.

Ferner begannen andere Naturwissenschaften Fortschritte zu machen. Jedes naturwissenschaftliche Gesetz, egal ob es den Bereich der Chemie, der Biologie oder der Medizin betrifft, sollte streng induktiv gefunden werden. Das heißt durch sorgfältige und vorurteilsfreie Beobachtung der Naturphänomene und entsprechende Experimente. Und das gewissermaßen von unten nach oben, indem man immer allgemeinere Gesetze find. Wobei andererseits die allerobersten Prinzipien schon als bekannt galten, nämlich die der Newtonschen Mechanik. Als wissenschaftliches Ziel galt somit, in allen Bereichen der Naturwissenschaft Gesetze zunächst induktiv zu finden, die man dann aber letztlich auf die mechanischen Bewegungsgesetze und das Gravitationsgesetz mathematisch zurückführen können sollte.

Die Mechanik beschäftigt sich mit endlichen Systemen von Massepunkten, auf die Kräfte einwirken. Dafür stellt sie Differentialgleichungen auf und löst sie. Der Mechanismus überträgt nun die Mechanik auf die gesamte Wirklichkeit, die somit als ein System von sehr, sehr vielen atomaren Massepunkten gesehen wird, auf die Kräfte einwirken. Wir haben zwar den Eindruck, bestimmte Körper mit bestimmten Qualitäten wahrzunehmen, das ist jedoch nur Schein; denn tatsächlich ist die Realität nur eine Ansammlung von bewegten Massepunkten. Es ist natürlich faktisch nicht möglich, aber der Mechanismus geht davon aus, dass es theoretisch möglich wäre, für dieses Weltsystem von Massepunkten Bewegungsgleichungen gemäß der Newtonschen Mechanik aufzustellen. Dann könnte man (theoretisch), sofern man zu einem bestimmten Zeitpunkt die Positionen aller Massepunkte hätte und alle einwirkenden Kräfte kennen würde, zu jedem späteren Zeitpunkt die Position und die Geschwindigkeit jedes Massepunktes berechnen könnte. Selbstverständlich ist das eine Art von mathematischer Metaphysik.

Beim Mechanismus gilt nicht nur das immanente Wesen der Natur als mathematisch, auch die Mechanik selbst gilt als Zweig der Mathematik und das Ziel ist, jede Naturwissenschaft auf die Mechanik zurückzuführen, so dass die Naturwissenschaft insgesamt zu einer Art Mathematik wird.  Die Idee war, dass auch diese Wissenschaften erst dann vollendet sind, wenn sie komplett mithilfe der Newtonschen Mechanik erklärt werden können. Alles sollte letztlich durch Massepunkte, Kräfte und mechanische Gesetze erklärbar sein.

Es war auch die große Zeit des Empirismus. Selbst die Mathematik hielten manche für eine Erfahrungswissenschaft, deren Abstraktionen durch Induktion aus den Erfahrungstatsachen abgeleitet würden, die sich besonders gut bewährt haben. In diesem Sinne sollte die Geometrie die Erfahrungswissenschaft von den räumlichen Gebilden sein, die Arithmetik die Erfahrungswissenschaft, die aus dem Erlebnis des Zählens erwächst. Und die Mechanik ist die Erfahrungswissenschaft der bewegten Massepunkte, die aber nicht fundamental verschieden ist von Geometrie und Arithmetik. Die Empirie wurde in dieser Phase zwar deutlich höher bewertet, aber die Naturwissenschaft war immer noch nicht hypothetisch. Man glaubte, mittels sorgfältiger Induktion zu Allaussagen kommen zu können, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelten würden.

Mechanismus in der Krise

Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts war der Mechanismus die naturwissenschaftliche Weltanschauung schlechthin.  Man hielt es für gewiss, dass die ganze materielle Welt nur ein gewaltiges mechanisches System von atomaren Massepunkten ist, zwischen denen Kräfte wirken. Die Mechanik galt als so sicher wie die Mathematik und die Idee war, dass sich irgendwann einmal jedes Naturphänomen, egal ob chemisch, biologisch, etc., rein mechanisch erklären lässt. Natürlich gab es Versuche, sich die Welt nicht-mechanistisch zu erklären, die deutschen Idealisten taten das beispielsweise oder die sogenannten Vitalisten. Aber das waren Ansätze, die die damaligen Naturwissenschaftler nicht wirklich ernst nahmen. Das mechanistische Weltbild galt lange als die einzig vernünftige Option und stand für Wissenschaftlichkeit schlechthin – alternativlos.

Wissenschaftstheoretisch berief man sich größtenteils auf Newton, dem gemäß alle Naturgesetze bis hin zu den obersten Prinzipien mittels Induktion aus den Naturphänomenen abzuleiten sind. Alles, was entweder gar keine oder eine zu geringe empirische Basis hat, galt im Newtonsche Sinne als bloß spekulative, metaphysische Hypothese. Die Mechanik wie auch alle anderen Naturwissenschaften hatten den Anspruch, auf derartige Hypothesen zu verzichten. Dabei wurde übersehen, dass Newtons Mechanik selbst metaphysische Aussagen macht, beispielsweise mit den Annahmen eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Es wurde auch übersehen, dass der Mechanismus insgesamt eine Metaphysik ist, die einen Blick in das Wesen der gesamten materiellen Welt wagt und damit sicher die Grenzen der Empirie überschreitet.

Wilhelm Wundt beschreibt als Zeitzeuge, wie um 1866 die mechanistische Naturauffassung eine im Wesentlichen „unbestrittene Geltung“ genoss. Wundt beschreibt auch, dass sich bereits 1886 die Situation deutlich verändert hat. Die Selbstsicherheit war verschwunden. Natürlich glaubten noch viele Wissenschaftler an den Mechanismus, aber sie waren sich dessen lange nicht mehr so gewiss wie noch zwanzig Jahre davor. Was vorher als unumstößlich wahr galt, wurde nun in Zweifel gezogen. Helmholtz ist hierfür ein Musterbeispiel.

Mindestens drei Dinge brachen die Selbstgewissheit des Mechanismus und säte Zweifel. Erstens die Entwicklung der modernen Mathematik. Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Grundlagenkrise in der Analysis. Um der Mathematik ein solides Fundament zu geben, wurden ihre Definitionen und Beweisführungen logisch-stringenter, damit aber auch formaler. Der Formalismus war den Mathematikern aber ein Sprungbrett in neue bislang unvorstellbare Geisteswelten, was zu einem Pluralismus verschiedener mathematischer Theorien führte. Damit verlor aber die bisherige Mathematik ihren bisher als selbstverständlich angenommenen Realitätsbezug. Beispielsweise waren jetzt neben der euklidischen Geometrie auch unendliche viele nicht-euklidische Geometrien möglich, so dass es nicht mehr notwendig ist, dass der reale, physische Raum euklidisch ist. Nun ist auch die analytische Mechanik zunächst nichts weiter als ein mathematisches System, somit ist auch hier der Realitätsbezug nicht ohne Weiteres gewährleistet, wie Jacobi 1847 erstmals klar herausstellte. Nach Jacobi sind die Prinzipien der Mechanik nur hypothetisch angenommene „Konventionen“, die sich an Erfahrungstatsachen bewähren müssen. Dazu, so meint Jacobi, müssen aus den theoretischen Prinzipien Aussagen für konkrete Einzelfälle hergeleitet werden, die dann empirisch überprüft werden können. Jacobi formuliert somit erstmals Ideen, die in Richtung eines modernen hypothetisch-empirischen Wissenschaftsverständnis weisen.

Zweitens gelang Maxwell (1831-1879) mit seinen Feldgleichungen eine mathematische Beschreibung des Elektromagnetismus, die gute Prognosen erlaubte und technisch anwendbar war. Aber alle Versuche, sie sich mechanisch anschaulich zu machen, scheiterten. Dies erschütterte das vormals unbegrenzte Vertrauen in die mechanistische Naturauffassung und ließ die Wissenschaftler daran zweifeln, ob die materielle Welt tatsächlich durchgängig mechanisch erklärbar ist.

Drittens wurden sich immer mehr Wissenschaftler bewusst, dass die Newtonsche Mechanik als auch der Mechanismus als Weltanschauung metaphysische Annahmen machen. Carl Neumann stellte bei seiner Antrittsvorlesung 1869 klar, welche metaphysischen Voraussetzungen dem Newtonschen Trägheitsprinzip zugrundeliegen und wie man es umformulieren müsste, um vollständig empirisch verifizierbar zu sein. Helmholtz hält zwar an den Grundideen des Mechanismus auch noch in den Jahren 1877 und später fest, aber er gibt im Gegensatz zu früher zu, dass es sich hierbei um eine metaphysische Hypothese handelt, die empirisch genauso wenig beweisbar ist, wie der Idealismus. Kirchhoff versucht in seinen Vorlesungen von 1879 die Mechanik vollkommen frei von metaphysischen Begriffen wie Kraft oder Ursache und Wirkung darzustellen. Ebenso lehnen Richard Avenarius, Ernst Mach und Boltzmann jede Spur von Metaphysik in der Naturwissenschaft ab und wollen sich nur an die sinnlich wahrnehmbaren Naturerscheinungen halten.

Schritte zum modernen Wissenschaftsmodell

Aufgrund der Krise des mechanistischen Weltbildes wurde der Anspruch aufgegeben, dass eine naturwissenschaftliche Theorie notwendig wahr sein müsse. Wie gut auch immer eine Theorie empirisch bestätigt ist, sie bleibt immer nur hypothetisch. Auch wurde der Anspruch aufgegeben, dass Naturwissenschaft einen metaphysischen Blick ins innerste Wesen der Natur gewähren könne. Schließlich wurde die Idee fallengelassen, dass man zunächst die obersten Prinzipien einer Theorie für sich genommen als wahr erkennen müsse, sei es durch Vernunfteinsicht, durch rationalistische Beweise oder durch Induktion. Stattdessen werden nun aus der Theorie konkrete, empirisch überprüfbare Aussagen abgeleitet, durch die die Theorie bestätigt oder widerlegt wird.

Diese Gedanken gibt es bereits bei Jacobi, Riemann und Neumann. Die ersten, detaillierten Wissenschaftstheorien, die diese neuen Gedanken umfassen, formulieren Ernst Mach, Henri Poincaré, Pierre Duhem.

 

[1] Wissenschaft und Weltbilder, S. 61 f.

[2] Was können wir wissen?, S. 249.

[3] Logik der Forschung, 1934.

[4] Mein Weltbild, S. 160.

[5] Siehe auch Honerkamp in Wissenschaft und Weltbilder S. 119 f.

[6] Was können wir wissen?, S. 261. Siehe auch Wissenschaft und Weltbilder, S. 44.

[7] Discorsi, S. 55.

[8] Die Mechanisierung des Weltbildes, S. 372.

[9] Siehe Aristoteles Physik, II 2 oder Metaphysik, VI 1, 1026 a 19.

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