Antike Erziehung und rational-logisches Weltbild

Die antike Ausbildung gliederte sich in ein Trivium und ein Quadrivium. Letzteres war sehr mathematisch geprägt. Ferner war eine Schulung in Rhetorik und der dialektischen Streitkunst sehr wichtig. Beides zusammen zeigt die starke Betonung der Rationalität in der klassischen Antike.

Das Quadrivium

Spätestens seit Platon gibt es den Bildungskanon der sogenannten sieben freien Künste, die sich unterteilen in das sprachlich ausgerichtete Trivium und das mathematisch ausgerichtete Quadrivium.

Die sieben freien Künste gliedern sich in das Trivium: 1. Grammatik, 2. Dialektik, 3. Rhetorik; und das Quadrivium: 4. Arithmetik, 5. Geometrie, 6. Harmonik, 7. Astronomie.

Es ist nicht klar, wer das Quadrivium ursprünglich geschaffen hat. Vielleicht waren es Theodoros von Kyrene (475-399 v.Chr.) oder Hippias von Elis (443-399 v.Chr.). Leonid Zhmud behauptet hingegen[1], dass bereits Pythagoras das Quadrivium etwa hundert Jahre vorher zusammengestellt hat und dass Theodoros und Hippias es nur vermittelt hätten.

Ohne Zweifel wird das Quadrivium bei Platon erwähnt. Denn in seiner Politeia zählt er Arithmetik, Geometrie, Harmonik und Astronomie als wichtige propädeutische Wissenschaften auf, bevor die eigentliche Ausbildung in Philosophie beginnen kann[2]. Immerhin veranschlagt Platon für dieses mathe­matische Studium zehn Jahre.

Der Bildungskanon der sieben freien Künste, mit dem klaren Schwerpunkt auf der Mathematik, war über mehr als tausend Jahre bestimmend. Nicht nur in der Nachfolge Platons mussten die Eleven dieses Curriculum durchlaufen, sondern die ganze Antike hindurch bis Augustinus und Boethius, die beide ausdrücklich diesen Bildungsweg empfahlen. Aber selbst im Mittelalter wurden Trivium und Quadrivium weiter gelehrt, auf deren Basis die ersten Universitäten gegründet wurden.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass die im Rahmen des Quadriviums gelehrte Mathematik sehr wenig mit dem zu tun hat, was unsere Kinder heute lernen. Nicht nur, dass Geometrie und Arithmetik damals überhaupt eine andere Gestalt hatten. Man bedenke, dass die Zahl Null erst 1202 von Fibonacci in seinem Buch Liber Abaci in Europa eingeführt wurde, in deren Folge sich die moderne Zahlendarstellung in arabischen Ziffern durchsetzen konnte. Und erst dann entstanden die heute üblichen Rechenmethoden des Addierens, Subtrahierens, Dividierens und Multiplizierens. Noch viel wichtiger erscheint mir jedoch, dass der heutige Schwerpunkt des Mathematikunterrichts auf Anwendung liegt, nicht aber auf Beweisen. Die Künste, die man im Quadrivium lehrte, galten aber genau deswegen als „frei“, weil sie eben nicht anwendungsbezogen waren. Es ging nicht darum, wie praktisch die Mathematik für alles Mögliche war, das ist ein typisches neuzeitliches Denken. Man lernte die Mathematik vielmehr als Vorbereitung für Philosophie und Theologie als eine Art Denkschule. Und dabei lag der Schwerpunkt auf mathematischer Beweisführung.

Man kann davon ausgehen, dass die gebildete Elite von der Antike bis ins Mittelalter normalerweise ein mathematisches Studium durchlaufen musste. So schreibt Zhmud[3]:

„Bezeichnend ist, dass in den Fragmenten eines Mannes wie Philolaos, der eindeutig kein Mathe­ma­tiker war, deutliche Spuren einer Ausbildung in Mathematik, Harmonielehre und Astronomie auf­scheinen… [Der Aristoteles-Schüler] Eudemos schließlich spricht ausdrücklich davon, dass Pytha­goras die Geometrie zu einem Mittel der Erziehung des freien Menschen gemacht habe (fr. 133)“

Offenbar hat auch Augustinus die sieben freien Künste in seiner Jugend studiert. Im vierten Buch seiner Bekenntnisse schreibt er ausdrücklich von Geometrie, Musik und Arithmetik, die er rasch auffassen konnte. In seiner Schrift De Ordine stellt er eine Lern- und Lehrordnung auf, die zwar die Autorität des christlichen Glaubens an den Anfang stellt, danach aber der klassischen Abfolge der sieben freien Künste mit Trivium und Quadrivium entspricht. Auf diese Weise wurden die sieben freien Künste auch die Grundlage des Bildungssystems an den mittelalterlichen Klosterschulen.

Noch einmal zurück zu Platon. Wenn er in der Politeia die Mathematik als eine wichtige Propädeutik für die Philosophie bezeichnet, dann vor allem aus einem Grunde. Weil sie, seiner Meinung nach, dabei hilft, den Menschen von der sinnlichen Wahrnehmung wegzuführen hin zur beständigen, ideellen Erkenntnis[4]. Das Studium der Mathematik hatte für ihn also eine klare anti-empiristische Zielrichtung. Ich vermute, dass dieser Anti-Empirismus die ganze Antike bis zum Mittelalter ein wichtiger Bestandteil von Ausbildung und Er­zie­hung war.

Genau das scheint auch folgende Anekdote von Diogenes (413-323 v.Chr.) zu belegen. Diogenes trug vor ein paar seiner Schüler das Argument der Eleaten vor, dass es rein logisch betrachtet keine Bewegung geben könne. Danach stand er auf und lief einfach ein paar Mal hin und her und gab vor, so das eleatische Argument widerlegen zu wollen. Als einer seiner Schüler mit diesem Argument einverstanden war, schlug ihn Diogenes mit einem Stock und sagte: „Vertraue nicht der sinnlichen Gewissheit, solange sie noch nicht in das System der logischen Deduktion Eingang gefunden hat!“ – An dieser Anekdote sieht man gut, wie junge Menschen damals zu dem rational-logischen Weltbild hin erzogen wurden.

Eine solche anti-empiristische Erziehung kennen wir heutzutage nicht mehr. Eher im Gegenteil. Wir werden von klein auf dahingehend erzogen, Erfahrungstatsachen für den festen Grund unseres Wissens halten. Ferner soll die Ausbildung heute immer möglichst anwendungsbezogen und nützlich sein. Und das ist, meiner Auffassung nach, einer der großen Hürden für uns heute, antike Philosophie zu verstehen.

Dialektische Wettkämpfe

Wie wichtig in der Antike eine Ausbildung zu rationalem Argumentieren und logischer Beweisführung war, sieht man auch an der Topik des Aristoteles. Nach Ernst Kapp verfolgt die Topik die Aufgabe, eine Methode zu finden, um möglichst als Sieger in einer „merkwürdigen Art geistiger Gymnastik“ hervorzugehen[5]. Dieser „Denksport“ läuft so ab:

Vorbereitung

Person A nimmt die Rolle des Fragenden ein, Person B die Rolle des Antwortenden.

A schlägt ein Problem vor, d.h. ein Thema, worüber man disputieren kann.

B ist frei, eine Pro- oder eine Contra-Position bezüglich des Themas einzunehmen.

A muss dann die Gegenposition zu B vertreten.

Nun beginnt der eigentliche Kampf:

A stellt B immer wieder Fragen, um ihn durch seine Antworten zu widerlegen.

B darf nur antworten, wird aber darauf achten, Widersprüche zu vermeiden.

A hat gewonnen, wenn er B innerhalb einer bestimmten Zeitspanne einen Widerspruch nachgewiesen hat. Andernfalls hat B gewonnen.

Es ist kein Zufall, dass dies an die Gespräche des Sokrates in den Platonischen Dialogen erinnert. Solche Wettstreite fanden sicherlich in Platons Akademie zu Trainingszwecken statt, als auch in der Schule des Aristoteles. Und es ist stark anzunehmen, dass solche Disputierwettkämpfe sowohl früher bei den Sophisten, als auch später in anderen Philosophieschulen trainiert wurden. Jedenfalls sieht man gut, in welch intensiven Form rationales Argumentieren und logische Beweisführung Teil der antiken Erziehung war.

Übrigens wird mit logischer Deduktion häufig ein axiomatisch aufgebautes Wissenschaftsgebäude verstanden. Das heißt, dass am Anfang der Wissenschaft Prinzipien oder Axiome stehen, die als unmittelbar wahr angenommen werden, ohne dass man sie weiter beweisen kann. Und daraus werden dann alle weiteren Sätze dieser Wissenschaft logisch abgeleitet. Dieses Modell entwirft Aristoteles in seiner Zweiten Analytik und es galt seitdem als allgemeiner Standard für wissenschaftliches Denken überhaupt. So stehen am Anfang von Euklids Elementen Axiome, auf die alles Weitere aufbaut. Und selbst Newton begann seine Physik mit physikalischen Grundgesetzen, die selbst nicht mathematisch bewiesen werden können, aus denen sich aber seine ganze Theorie logisch-mathematisch ableiten lässt.

Wichtig ist aber zu sehen, dass ein logisch-rationales Argumentieren auch außerhalb eines solchen axiomatischen Systems möglich ist. Bei Rechtsstreitigkeiten, politischen Diskussionen oder im Rahmen von Debattierklubs wird rational argumentiert, ohne vorher ein Axiomensystem aufgestellt zu haben. Aristoteles selbst kennt diesen Unterschied zwischen wissenschaftlichen und „wahrscheinlichen“ Beweisen. Ich kann mir zudem gut vorstellen, dass die ersten griechischen Mathematiker Beweise ersonnen haben, ohne bereits ein ausgearbeitetes System von Axiomen zu verwenden, wie es dann später Euklid tat. So schreibt der Wissenschaftshistoriker Herrmann[6]: „Am Anfang der griechischen Mathematik gab es ein Stadium, in dem man glaubte ‚alles‘ beweisen zu können, ohne auf willkürlich ausgewählte Axiome zurückgreifen zu müssen. Es war Aristoteles, der erkannte, dass jedes auf Beweisen basierende Wissenssystem letztlich auf unbewiesenen Prämissen beruhen muss.“

Das rational-logische Weltbild

Offenbar wurde die gebildete Elite Griechenlands in eine bestimmte Richtung hin erzogen, die uns heutzutage fremd ist. Neben der Ausbildung in Literatur und Sprache stand logisch-rationales Argumentieren, sowie mathematische Beweisführung im Vordergrund. Das Theoretische, stringent Bewiesene sollte höher geachtet werden als die sinnliche Wahrnehmung oder Erfahrungstatsachen.

Auf diese Weise ist es kein Wunder, dass es bei der obigen Auflistung der verschiedenen antiken Philosophen und deren Merkmale, eine starke Häufung von (Bw) und (antiEmp) gibt. Insgesamt glaube ich, dass man von einem logisch-rationalem Weltbild der gebildeten antiken Griechen sprechen kann. Wollte man ein solches Weltbild durch Glaubenssätze zum Ausdruck bringen, dann meine ich, könnte man das wie folgt tun:

  • Es gibt absolute, umstößlich gültige Wahrheiten, die man entweder durch bestimmte mentale Akte oder mittels rationale Beweise erkennen kann.
  • Mittels bestimmter mentaler Akte können Menschen einen direkten Zugang zur Wahrheit bekommen. Vollzieht man einen solchen Akt, das könnte eine geometrische Anschauung, ein Vernunfteinsicht oder ähnliches sein, dann ist durch die Qualität des mentalen Aktes gewährleistet, dass eine Wahrheit erkannt wird.
  • Rational-logische Beweise: Alles sollte nach Möglichkeit rational-logisch begründet werden:
    • und zwar durch Schlussketten, die zumindest den Anschein haben, logisch-stringent zu sein;
    • dabei ist die logische Klärung von Begriffen hilfreich;
    • Widersprüche gilt es zu vermeiden. Gegnerische Auffassungen sind vor allem deswegen falsch, weil sie zu Widersprüchen führen. Man kann Sachverhalte beweisen, indem man das Gegenteil annimmt und daraus einen Widerspruch herleitet.
    • Schon alleine, dass die eigene Theorie widerspruchsfrei ist, ist ein Indiz dafür, dass sie wahr ist.
  • Theorie vor Empirie: Theoretisch Erdachtes ist mehr wert sozusagen „wahrer“ als empirische Er­fah­rungs­daten.

Sieht man sich die antiken Philosophien an und berücksichtigt man, wie in der Antike die gebildete Elite erzogen wurde, halte ich es für durchaus berechtigt, davon zu sprechen, dass eben diese Elite dem logisch-rationalen Weltbild anhing. Heute haben wir ein anderes Weltbild, Jedenfalls gilt es heute als Selbstverständlichkeit, dass Erfahrungstatsachen eine Theorie widerlegen können. Und es gibt keinen Zweifel, dass wir heute insgesamt die Empire höher schätzen, als es in der Antike der Fall war.

Dieser Unterschied in den Weltbildern zwischen damals und heute würde erklären, warum den Griechen früher philosophische Ansichten plausibel erschienen, die uns heutzutage nur noch schwer verständlich sind.

[1] Zhmud [68], S. 157.

[2] Platon Politeia, 537b-d.

[3] Zhmud [68], S. 170.

[4] Politeia, 523c ff., 525a ff.

[5] Siehe Kapp [36], S. 17.

[6] Herrmann [32], S. 143.

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