Die heutige Schulbildung und der mathematische Beweis

Von dem antiken Mathematiker Euklid wird die folgende Anekdote erzählt. Ein neuer Schüler fragte ihn, wozu Geometrie gut sein solle und was er damit verdienen könne. Euklid rief nach einem Sklaven und sagte ihm: „Gib ihm drei Obolus, denn er muss mit dem, was er lernt, etwas verdienen.“

Diese Anekdote, denke ich, zeigt schön, dass es den alten Griechen bei der Mathematik nicht um ihre Anwendung ging. Dies steht im krassen Widerspruch dazu, wie man heute größtenteils Mathematik lehrt und beibringt. In der Schule beschäftigen sich die Kinder normalerweise nicht mit geometrischen Beweisen, sondern damit, wie bestimmte mathematische Regeln korrekt angewendet werden. Daher kommt auch der Eindruck so vieler, dass Mathematik etwas Langweiliges, Stupides und Eintöniges, ja direkt Geistloses ist. Man lernt eine bestimmte Regel wie ein Kochrezept und muss dann hundert Aufgaben bearbeiten, bei denen es nur darum geht, diese Regel in verschiedensten Variationen anzuwenden.

Ich möchte das heutige Schulsystem nicht kritisieren. Ich will einfach nur die Tatsache festhalten, dass die Mathematik in der Schule vor allem als Hilfswissenschaft behandelt wird. Die Mathematik soll dabei helfen, dass unsere Kinder in bestimmten Situationen richtig rechnen können. Es geht hier ganz eindeutig um den Nutzen bzw. die Anwendbarkeit. Es wird nicht versucht, den Schülern zu vermitteln, dass Mathematik eine intellektuelle Freude bereiten kann, wenn man z.B. einen bestimmten mathematischen Sachverhalt begreift und vielleicht auch mittels eines eleganten Beweises begründen kann.

Viele lernen die Mathematik nie so kennen, wie man Mathematik an der Universität betreibt, und wie die Mathematik eigentlich ganz anders sein kann im Vergleich zu dem, wie man sie in der Schule lernt. Denn die Mathematik ist alles andere als eine eintönige, geistlose Betätigung, sie ist vielmehr eine extrem kreative und ästhetische Wissenschaft. Das Auffinden eines mathematischen Beweises ist normalerweise eine höchst kreative Denkleistung. Und das, was dabei herauskommt, der mathematische Beweis, ist im Idealfall schön, eine Art intellektueller Genuss.  Manchmal ist der Beweis zwar richtig, aber unschön, dann beschäftigen sich Generationen von Mathematikern damit, eine „schöne“ Variante zu finden. Das heißt Schönheit ist ein echter Antrieb in der mathematischen Forschung. Von all dem bekommt man nichts mit, sofern man ausschließlich die normale Schulausbildung durchlaufen hat.

Und genau diese Unkenntnis, denke ich, macht es vielen von uns Heutigen schwer, erstens die antike Mathematik zu verstehen, zweitens aber auch den tieferen, man könnte sagen, mathematischen Kern der antiken Philosophie. Man hat Mathematik in der Schule gehabt und verbindet damit, wie gesagt, stupides Anwenden bestimmter Regeln, hat aber keine Vorstellung von den intellektuellen Freuden, die ein mathematischer Beweis bereiten kann, und fängt dann an, Platon oder Aristoteles zu studieren; und wundert sich, dass bei diesen Philosophen auf Schritt und Tritt versucht wird, Dinge logisch-rational zu beweisen. Ich gehe jede Wette ein, dass sich so mancher Philosophiestudent gewünscht hätte, Aristoteles hätte bitte seine Theorien einfach vorgestellt und hätte auf das mühsame Beweisen verzichtet, das uns heutzutage sowieso meistens sehr wackelig erscheint.

Interessanterweise werden die antiken Philosophen selbst in anspruchsvollen Büchern sehr häufig genau so dargestellt. Ihre Gedanken und Theorien werden beschrieben, aber es wird auf die Beweisführung verzichtet, mittels derer die antiken Denker ihre Positionen zu bergründen versuchten. Ich habe auch schon Texte gelesen, die ausführlich das Verhältnis von antiker Philosophie zur Mathematik besprechen, in denen viel von Zahlen und Geometrie gesprochen wird, aber nicht einmal das Wort „Beweis“ fällt. Damit wird aber eine Hälfte des Denkens dieser Philosophen einfach ignoriert. Meiner Meinung nach geht auf diese Weise ein ganz wesentlicher Aspekt des antiken Philosophierens verloren.

1 Kommentar

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert