Maxwell: Elektromagnetische Feldgleichungen (1865)
Was Newton für die frühe Neuzeit war, war der Schotte James Clerk Maxwell (1831-1879) für das 19. Jahrhundert. Er gehört zu den bedeutendsten Physiker und gilt als Vollender der klassischen Physik.
Maxwell hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Beobachtungen Faradays in eine passende mathematische Form zu bringen. Faraday war ein genialer Experimentator. So paradox das klingen mag, aber ein Glücksfall war vielleicht, dass er nur relativ wenig physikalische Theorie gelernt hatte. Auf diese Weise ging er manchmal unbefangener an seine Experimente als so manch einer seiner besser ausgebildeten Kollegen; ganz im Sinne eines von Bacon propagierten, vorurteilsfreien Naturforschers. So gelangte er unter anderem zu zwei Erkenntnissen, die den meisten damaligen Physikern, gelinde gesprochen, merkwürdig vorkamen. Erstens stellte er elektrische und magnetische Kraft- oder Feldlinien aufgrund seiner Experimente bildlich dar. Zweitens brachten ihn seine Beobachtungen zu der Idee, dass elektromagnetische Kräfte keine fernwirkenden Kräfte sind, wie es Newton für die Gravitation annahm, sondern ein bestimmter Zustand des Mediums für die elektromagnetischen Kraftwirkungen verantwortlich ist.
Maxwell schreibt über Faraday (Treatise, zitiert nach Simonyi, S. 343):
„Faraday sah im Grunde die den ganzen Raum durchdringenden Kraftlinien, wo die Mathematiker fernwirkende Kraftzentren sahen; Faraday sah ein Medium, wo sie nichts al Abstände sahen; Faraday suchte das Wesen der Vorgänge in den reellen Wirkungen, die sich in dem Medium abspielen, jene waren aber damit zufrieden, es in den fernwirkenden Kräften der elektrischen Fluida gefunden zu haben. […]
Vielleicht gereichte es der Wissenschaft zum Vorteil, dass Faraday […] kein Berufsmathematiker war.
So war er nicht der Versuchung ausgesetzt, sich in die vielen interessanten, rein mathematischen Forschungsarbeiten zu verstricken, zu welchen ihn seine Entdeckungen veranlasst hätten, wenn er sie in mathematischer Form dargestellt hätte; und er fühlte sich weder dazu verpflichtet, seine Ergebnisse in eine dem mathematischen Geschmack der Zeit entsprechende Form einzuzwängen, noch sie in einer Form auszudrücken, die die Mathematiker hätten angreifen können. Son konnter er seine eigenständige Arbeit unbehelligt fortsetzen, seine Ideen den Tatsachen anpassen und sie in einer natürlichen, untechnischen Sprache ausdrücken.“
Das ist Baconscher Forschungsethos par excellence.
Im Jahre 1855 veröffentlichte Maxwell seine Arbeit Über die Faradayschen Kraftlinien, worin er erstmals versuchte, Faradays empirischen Forschungsergebnisse mit einem theoretisch-mathematisches Kleid zu versehen. Bemerkenswert ist, dass er es anfangs noch mechanische Modelle verwendet, um elektromagnetische Erscheinungen zu erklären. Er vermutete, dass bestimmte Wirbel in einem ätherischen Medium die elektromagnetischen Feldlinien erzeugen würden. Hier ist die graphische Darstellung eines seiner Modelle:
Nur so glaubte er, die quantitativ-mathematischen Zusammenhänge herauskristallisieren und verstehen zu können. Allerdings musste er feststellen, dass jedes mechanische Modell zu falschen Vorhersagen führte. Schließlich verzichtete Maxwell ganz auf mechanische Erklärungsversuche und beschränkte sich darauf, die elektromagnetischen Phänomene mathematisch zu beschreiben. Das tat er in seinen Arbeiten:
- A Dynamical Theory of the Electromagnetic Field. 1865 veröffentlicht in: Philosophical Transactions of the Royal Society. Band 155, S. 459–512. Deutsch: Eine dynamische Theorie des elektromagnetischen Feldes.
- A Treatise on Electricity and Magnetism, 2 Bände, Oxford 1873. Deutsche Ausgabe: Lehrbuch der Electrizität und des Magnetismus, 2 Bände, Springer Verlag, Berlin 1883,
Darin veröffentlichte er die nach ihm benannten Maxwell-Gleichungen, das ist ein System miteinander verknüpfter Differentialgleichungen, die den Elektromagnetismus mathematisch modellieren. Und zwar beschreiben sie, wie sich elektrische und magnetische Felder verhalten und mit Materie wechselwirken. Aus seinen Gleichungen leitete er ab, dass es Wellen von elektromagnetischen Feldern geben müsse, die sich etwas mit Lichtgeschwindigkeit und auch im leeren Raum ausbreiten würden. Diese Vermutung konnte Heinrich Hertz (1857-1894) im Jahre 1884 experimentell bestätigen. Maxwells theoretische Überlegungen und Hertz‘ Erkenntnisse ermöglichten die daraufhin entstehende Funktechnik.
Wissenschaftsgeschichtlich ist Maxwells Theorie von enormer Bedeutung, weil sie offenbar eine gute mathematische Beschreibung dessen ist, was man beobachten kann, – ohne aber zu wissen, was in Wirklichkeit tatsächlich geschieht. Jedenfalls scheiterten alle Modelle, Maxwells Gleichungen mechanisch zu erklären, was manche Physiker noch bis Ende des 19. Jahrhundert versuchten (Lord Rayleigh z.B.). Simonyi schreibt (S. 348 f.):
„Den Physikern jener Zeit ist es scher schwer gefallen, die Maxwellschen Gleichungen und die gesamte von Faraday und Maxwell stammende Konzeption auf konkrete Probleme anzuwenden. Das rührte daher, dass eine im Sinne der Mechanik unmittelbar anschauliche Darstellung fehlte. Im Geiste von Descartes und Huygens erzogen, hatte man sich daran gewöhnt, in Begriffen der Mechanik zu denken […] Wie stark das Bestreben nach einer mechanischen Deutung der elektromagnetischen Erscheinungen gewesen ist, lässt sich anhand der Vielzahl der unterschiedlichen und oft mit großem Scharfsinn ersonnenen Modelle ermessen, die zu jener Zeit zu Anschauungszwecken konstruiert worden sind […]. Durch [die Maxwellsche Theorie] sind die Physiker genötigt worden, die Naturerscheinungen abstrakter aufzufassen und den in der abstrakten Beschreibung vorkommeneden Größen eine reale Existenz auch dann zuzubilligen, wenn sie nicht mit Hilfe mechanischer Modell […] anschaulich gemacht werden können.“
Auf dem Kontinent hat sich Maxwells Theorie erst mit Heinrich Hertz‘ Buch Über die Grundgleichungen der Elektrodynamik für ruhende Körper (1890) endgültig durchgesetzt.
Ich erinnere daran, wie Kirchhoff in seiner Rede Über das Ziel der Naturwissenschaften von 1865 das mechanistische Wissenschaftsprogramm formuliert hat (S. 16):
„Wir müssen hiernach gestehen, dass wir von dem Zustande, in dem sich die Materie befindet, wie von den Kräften, die ihre Theile auf einander ausüben, gegenwärtig nur sehr geringe Kenntnisse besitzen, und dass unser Verständnis der Naturerscheinungen […] bis jetzt ein sehr unvollkommenes ist. In höherem Maasse noch gilt das von den viel complizierteren Vorgängen, welche in Pflanzen und Thierkörpern stattfinden. Hier wie dort ist das wahre Verständnis nicht gewonnen, so lange die Zurückführung auf die Mechanik nicht gelungen ist.“ [meine Unterstreichung]
Maxwells Theorie konnte die elektromagnetischen Naturerscheinungen mathematisch umfassend und zutreffend beschreiben, erlaubte korrekte Vorhersagen und wurde später sogar technisch nutzbar gemacht. Es spricht also alles dafür, sie als wahr anzunehmen. Aber leider ist es ganz und gar nicht möglich, sie auf die Mechanik zurückzuführen. Somit ist das mechanistische Wissenschaftsprogramm gescheitert.
Sehen wir uns aber genauer an, was genau gescheitert ist. Man kann den Elektromagnetismus nicht auf ein System von Massepunkten reduzieren, deren Bewegungen durch Kräfte bestimmt werden. Wie aber Helmholtz bereits 1847 in Über die Erhaltung der Kraft geschrieben hat, sind die „Massepunkte“ und „Kräfte“ Abstraktionen, die die sinnliche Erfahrung überschreiten und eigentlich metaphysische Begriffe sind. Recht besehen sind sie Ausdruck dessen, was ich Mathematisierung der Natur genannt habe. Der Wirklichkeit werden alle Qualitäten genommen und stattdessen wird ihr Wesenskern so gesehen, dass sie eigentlich nur aus geometrischen Punkte und Kräftevektoren besteht. Diese schöne Metaphysik ist seit Maxwell nicht mehr haltbar. Ja, die Mathematik hat sich bewährt in der äußerlichen Beschreibung der Naturphänomene, die Mathematik hilft aber nicht mehr dabei, das tiefere Wesen der Natur zu verstehen. Was der Elektromagnetismus tatsächlich und an und für sich ist, können die Physiker nicht sagen, sie können nur noch seine Erscheinungsform mathematisch beschreiben. Die Mathematisierung der Natur, wie sie bei Galilei, Descartes und Newton vorhanden ist, geht von einer, man könnte fast sagen, naiven Identifikation von Wirklichkeit und Mathematik aus, die jetzt zerbrochen ist.
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