Kirchhoff und Boltzmann: Physik ohne Metaphysik

Die Physiker Kirchhoff (1824-1887) und Boltzmann (1844-1906) waren beide hervorragende Physiker und beide machten sich Gedanken über die impliziten metaphysischen Voraussetzungen der klassischen Newtonschen Physik und wie man sie beseitigen könnte.

Kirchoff war ein deutscher Physiker, der vor allem Elektrizität erforschte. Nach ihm sind die sogenannten kichhoffschen Regeln benannt und zusammen mit Robert Bunsen entwickelte er die Spektralanalyse. Außerdem machte er sich Gedanken über die philosophischen Grundsätze der Physik, und zwar in seinen Vorlesungen über mathematische Physik.

Ludwig Boltzmann war ein österreichischer Physiker mit den Forschungsschwerpunkten Thermodynamik und statistische Mechanik. Boltzman hielt Vorträge über Naturphilosophie und die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Physik. Er gilt als einer der Wegbereiter der Relativitätstheorie und der Quantenphysik. Nachfolgend beziehe ich mich auf:

  • Boltzmann, Ludwig: Populäre Schriften. Dritte Auflage. Verlag Barth, 1925. Darin:
    • Festrede Universität Graz: Gustav Robert Kirchhoff. Gehalten 1887
    • Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik in der Naturwissenschaft
    • Vortrag München: Über die Entwicklung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit. Gehalten 1899. Kurz: Entwicklung der Methoden.
    • Antritts-Vorlesung Leipzig: Über die Prinzipien der Mechanik
    • Vorlesung: Über die Grundprinzipien und Grundgleichungen der Mechanik. Gehalten an der Clark-University 1899,

Siehe auch: Engelbert Broda: Ludwig Boltzmann: Mensch • Physiker • Philosoph.

Kichrhoff sagt in der Vorrede zu seinen Vorlesungen über Mechanik von 1876:

„Man pflegt die Mechanik als die Wissenschaft von den Kräften zu definieren, und die Kräfte als die Ursachen, welche die Bewegungen hervorbringen oder hervorzubringen streben.  Gewiss ist diese Definition bei der Entwicklung der Mechanik von großem Nutzen gewesen […]. Aber ihr haftet die Unklarheit an, von der die Begriffe der Ursache und des Strebens sich nicht befreien lassen. Diese Unklarheit hat sich z.B. gezeigt in der Verschiedenheit der Ansichten darüber, ob der Satz der Trägheit und der Satz vom Parallelogramm der Kräfte anzusehen sind als Resultate der Erfahrung, als Axiome oder als Sätze, die logisch bewiesen werden können und bewiesen werden müssen.“

Boltzmann bezieht sich darauf in seiner Festrede über Kirchhoff von 1887. Boltzmann nennt darin zwei Methoden, mit der Physiker versuchen die Naturphänomene mathematisch zu beschreiben. Mit der ersten Methode sah man „die irdischen Körper auch als Aggregate von Massepunkten, den Molekülen, an, auf die man mit gewissen Modifikationen die Bewegungsgesetze der Himmelskörper übertrug […]“ und sie würde „tiefer in das Wesen der Dinge“ dringen (S. 70).

Mit der zweiten Methode versuchte man, …

„[…] neue mathematische Begriffe zu bilden, welche die Körper, wie sie sich dem Auge darbieten, als kontinuierlich mit Masse erfüllt darstellen“ und „freier von unbeweisbaren Hypothesen“ ist. Und er führt noch weiter aus: „Nicht kühne Hypothesen über das Wesen der Materie zu bilden und aus der Bewegung der Moleküle die Bewegung der Körper zu erraten, ist das Ziel, sondern Gleichungen zu bilden, welche frei von Hypothesen möglichst getreu und quantitativ richtig der Erscheinungswelt entsprechen, unbekümmert um das Wesen der Dinge.“

Diese neue, zweite Methode schreibt Boltzmann Gustav R. Kirchhoff zu. In seiner Festrede setzt er fort (S. 70 f.);

„Ja, in seinem Buche über Mechanik will Kirchhoff sogar alle metaphysischen Begriffe, wie den der Kraft, als Ursache einer Bewegung, verbannen, er sucht bloß die Gleichungen, welche den beobachteten Bewegungen möglichst genau entsprechen. Das Staunen über diese neue Betrachtungsweise der Mechanik war anfangs allgemein, doch wich es bald der zwingenden Kraft seiner Logik. Auch die Theorie der Magnetisierung war früher auf Hypothesen über die Beschaffenheit der magnetischen Moleküle gebaut worden. Kirchhoff sucht ohne Hypothese über das Wesen des Magnetismus bloß aus den einfachsten Voraussetzungen über dessen Wirksamkeit jene Gleichungen zu gewinnen, welche alle magnetischen Erscheinungen voraus zu berechnen erlauben, und ähnliches gilt von seinen Arbeiten über Elektrizität, Wärmelehre, usw.“

In demselben Sinne schreibt Boltzmann in Entwicklung der Methoden über Kirchhoff (S. 212):

„Es sind da zunächst gewisse philosophische Bedenken gegen die Grundlagen der Mechanik zu erwähnen, welche am deutlichsten durch Kirchhoff ausgesprochen wurden. Man hatte in die alte Mechanik unbedenklich den Dualismus zwischen Kraft und Stoff eingeführt. Die Kraft betrachtete man als ein besonderes Agens neben der Materie, welches die Ursache der Bewegung ist. […] Um sich aber jedes Urteils über den Wert solcher metaphysischer Betrachtungen enthalten zu können, erklärte [Kirchhoff] alle diese dunklen Begriffe ganz vermeiden und die Aufgabe der Mechanik auf die einfachste, unzweideutigste Beschreibung der Bewegung der Körper beschränken zu wollen, ohne sich um die metaphysische Ursache derselben zu kümmern.“

Die erste Methode, die Boltzmann genannt hat, ist offenbar die traditionelle Methode, mit der Galilei, Descartes und Newton meinten, mit mathematischen Mitteln den immanenten Wesenskern der Natur zu erkennen.  Die zweite Methode bezeichnet er in Unentbehrlichkeit der Atomistik als „mathematisch-physikalische Phänomenologie“ (S. 142):

„[Deren] Differentialgleichungen […] sind offenbar nichts als Regeln für die Bildung und Verbindung von Zahlen und geometrischen Begriffen, diese aber sind wieder nichts anderes als Gedankenbilder, aus denen die Erscheinungen vorhergesagt werden können“ [meine Unterstreichung]

Und in Entwicklung der Methoden (S. 215 f.) nennt Boltzmann Heinrich Hertz als einen anderen Physiker, der Kirchhoffs mathematisch-physikalische Phänomenologie weiterführt. Seiner Meinung nach bringt Hertz …

„[…] den Physikern so recht klar zum Bewusstsein, was wohl die Philosophen längst ausgesprochen hatten, dass keine Theorie etwas Objektives, mit der Natur wirklich sich Deckendes sein kann, dass vielmehr jede nur ein geistiges Bild der Erscheinungen ist […]. Daraus folgt, dass es nicht unsere Aufgabe sein kann, eine absolut richtige Theorie, sondern vielmehr ein möglichst einfaches, die Erscheinungen möglichst gut darstellendes Abbild zu finden. Es ist sogar die Möglichkeit zweier ganz verschiedener Theorien denkbar, die beide gleich einfach sind und mit den Erscheinungen gleich gut stimmen, die also, obwohl total verschieden, beide gleich richtig sind. Die Behauptung, eine Theorie sei die einzig richtige, kann nur der Ausdruck unserer subjektiven Überzeugung sein […]“

In Grundprinzipien und Grundgleichungen der Mechanik sagt Boltzmann (S. 257):

„Kirchhoff wies es nun zurück, dass es die Aufgabe der Naturwissenschaft sei, das wahre Wesen der Erscheinungen zu enträtseln und ihre ersten metaphysischen Grundursachen anzugeben. Er reduzierte die Aufgabe der Naturwissenschaft vielmehr darauf, die Erscheinungen zu beschreiben.“

Weiter (S. 264): Fragen nach dem Wesen der Materie, Masse und Kraft sind unnötig.  Es geht nur darum, ein „brauchbares Bild der Erscheinungswelt“ zu erhalten.

Die Bedeutung der Gedanken von Kirchhoff und Boltzmann besteht darin, dass sie ähnlich wie Carl Neumann die metaphysischen Voraussetzungen der Physik herausarbeiteten und nach mataphysik-freien Alternativen suchten. Auch dies ist ein Schritt weg von der metaphysischen Mathematisierung der Natur hin zu einem hypothetischen Wissenschaftsverständnis.

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