Helmhotz’ metaphysische Hypothesen
Anhand seiner Schrift Ueber die Erhaltung der Kräfte von 1847 und seinem Vortrag Das Denken in der Medizin von 1877 kann man eine bemerkenswerte Entwicklung bei Helmholtz feststellen. Während er zunächst noch unreflektiert die mechanistische Naturauffassung vertritt, reflektiert er später seine eigenen Annahmen und erkennt, dass es sich dabei um eine metaphysische „Hypothese“ handelt.
In Ueber die Erhaltung der Kraft von 1847 bezeichnet er es als Aufgabe der experimentellen Naturwissenschaft die Gesetzmäßigkeiten der sichtbaren Naturphänomene herauszufinden, während die theoretische Naturwissenschaft die dahinterliegenden „letzten unveränderlichen Ursachen“ erkennen soll. Anschließend nennt er die beiden „Abstraktionen“: Materie und Kraft. Beide gehen über die sinnliche Erfahrung hinaus und sind, recht betrachtet, metaphysische Begriffe. Nun wird die Materie nach Helmholtz ausschließlich durch „räumliche Vertheilung“ und „Quantität (Masse)“ bestimmt, was ich als Mathematisierung der Natur bezeichne. (Erhaltung S. 5):
„[…] wir unterscheiden an [der Materie] die räumliche Vertheilung und die Quantität (Masse), welche als ewig unveränderlich gesetzt wird. Qualitative Unterschiede dürfen wir der Materie an sich nicht zuschreiben […]“
Dass es sich hierbei um eine metaphysische Position handelt, war dem jungen Helmholtz offenbar noch nicht klar.
In dem Vortrag Das Denken in der Medizin von 1877 schildert Helmholtz zunächst die Wissenschaft der Medizin, wie sie noch zu seiner Studentenzeit betrieben wurde. Diese ältere Medizin war dogmatisch, wurde vor allem aus Büchern heraus gelehrt, Experiment und Empirie spielten nur eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt (S. 824):
„Um den Grundfehler jener älteren Zeit gleich mit einem Worte zu bezeichnen, möchte ich sagen, dass sie einem falschen Ideal von Wissenschaftlichkeit nachjagte in einseitiger und unrichtig begrenzter Hochschätzung der deductiven Methode.“
Dabei wurden einzelne Prinzipien voreilig nur aufgrund von ein paar Indizien aufgestellt, um dann eine ganze Reihe von medizinischen oder physiologischen Phänomenen daraus ableiten zu wollen. Helmholtz spricht von einem „Wahn, dass es wissenschaftlicher sei, alle Krankheiten auf einen Erklärungsgrund zurückzuführen.“ (S. 828) Die damaligen Mediziner glaubten, dass sie so eine „vollendete Einsicht in den Causalitätszusammenhang der Naturprozesse“ (S. 825) haben könnten, sozusagen ein gottähnliches, unfehlbares Wissen.
Als Beispiel führt er Albrecht von Haller an (S. 830). Haller hatte die Nerven und Muskeln abgeschnittener Glieder untersucht und bestimmte Muskelzuckungen festgestellt. Aufgrund dieser einen Beobachtung schloss er, dass diese Art von Erregungszuständen ein allgemeines Prinzip des tierischen Lebens wäre und übertrug es – ohne weitere Prüfung – auf die übrigen Organe und Gewebe des Körpers. Aus diesem Prinzip versuchte er anschließend die verschiedenen Krankheiten abzuleiten. Dies ist letztlich das klassische aristotelische Wissenschaftsverständnis: Anhand von ein paar Beispielen glaubt man, ein allgemeines Prinzip intuitiv zu erkennen, aus dem dann andere Allaussagen deduktiv hergeleitet werden. Helmholtz kritisiert, dass die traditionelle, deduktive Wissenschaft schnell in den Dogmatismus abgleitet, kritische Diskussionen und sachliche Auseinandersetzungen verhindert.
Helmholtz propagiert stattdessen ein anderes wissenschaftliches Vorgehen, das man empiristisch nennen könnte und offenbar an Bacon angelehnt ist. Man sollte nicht damit beginnen, oberste Prinzipien aufstellen zu wollen. Stattdessen sollte man sich mittels Experimenten und Beobachtungen mit den Dingen selbst ausführlich beschäftigen, um schließlich Allaussagen der unteren Stufen an den empirischen Tatsachen abzulesen. Diesen arbeitsreichen Weg der Erkenntnisgewinnung nennt Helmholtz Induktion. Zu den erkannten Allaussagen werden dann eventuell oberste Prinzipien gefunden, aus denen sich wiederum die zuvor induktiv gewonnen Aussagen deduktiv herleiten lassen.
Diese von der traditionell-aristotelischen Wissenschaft voreilig aufgestellten Prinzipien nennt Helmholtz „Hypothesen“. Ihnen gegenüber stellt er Naturgesetze, die man durch sorgfältige Induktion gewonnen hat. Diese Naturgesetze sind mit aufwendiger Arbeit an den Dingen selbst mittels Beobachtung und Experimenten erkennbar, und wenn man sie erkannt hat, dann sind sie, ganz im Sinne Newtons, keine Hypothesen, sondern Wahrheiten. Solche zu erlagen, so sagt Helmholtz, ist das Ziel des Mediziners (S. 837 f. und siehe auch S. 841):
„Wer aber, wie der Arzt, den Heil oder Verderben bringende Kräfte gegenübertreten soll, dem obliegt unter schwerer Verantwortlichkeit die Verpflichtung, die Kenntnis der Wahrheit und nur der Wahrheit zu suchen, ohne Rücksicht, ob, was er findet, den Wünschen der einen oder anderen Art schmeichelt. […] Er muss streben, voraus zu wissen, was der Erfolg seines Eingreifens sein wird […]. Um dieses Vorauswissen des Kommenden […], haben wir keine andere Methode, als dass wir die Gesetze der Thatsachen durch Beobachtung kennen zu lernen suchen; und wir können sie kennen lernen durch Induction, durch sorgfältige Aufsuchung, Herbeiführung, Beobachtung solcher Fälle, die unter das Gesetz gehören. Glauben wir ein Gesetz gefunden zu haben, dann tritt auch das Geschäft des Deducirens ein. Dann haben wir die Consequenzen unseres Gesetzes möglichst vollständig abzuleiten, aber freilich zunächst nur, um sie an der Erfahrung zu prüfen […] und um durch diese Prüfung zu entscheiden, ob das Gesetz sich als gültig bewähre und in welchem Umfange. Dies ist eine Arbeit, die eigentlich nie aufhört. […] So kommt er freilich nie zur unbedingten Wahrheit, aber doch zu so hohen Graden an Wahrscheinlichkeit, dass sie praktisch der Gewissheit gleichstehen.“
Helmholtz schreibt zwar, dass die durch sorgfältige Induktion erkannten Gesetzmäßigkeiten niemals 100%ig sicher sind, letztlich hört die empirische Prüfung niemals auf. Dennoch sind die durch sorgfältige empirische Induktion gewonnenen Erkenntnisse keine Hypothesen. Diese Bezeichnung trifft nur auf voreiligen Verallgemeinerungen zu, an denen man selbst dann, wenn empirische Gegenbeispiele vorliegen, dogmatisch festhält. Als Hypothesen bezeichnet er ferner alle Prinzipien, die nicht mehr empirisch überprüfbar sind und eigentlich in den Bereich der Metaphysik gehören.
Schließlich, und dies ist meiner Meinung nach bemerkenswert, bezeichnet er auch den mechanistischen Materialismus, den er selbst vertritt, als metaphysische Hypothese. Zwar behauptet er, dass sie „sich im Gebiete der Naturwissenschaften […] als sehr fruchtbar erwiesen hat“(S. 840/841), aber immerhin nennt er sie eine Hypothese, d.h. eine Auffassung, die möglicherweise nicht wahr ist. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und warnt davor, den Materialismus zu einem Dogma zu machen, das dann eventuell den wissenschaftlichen Fortschritt hemmen könnte (S. 841). Und wenn der Materialismus nur eine Hypothese ist, dann kann es selbstverständlich auch andere gleichberechtigte metaphysische Hypothesen geben. Helmholtz nennt hier die „vitalistische Hypothese“ (S. 835), der sein Lehrer Johannes Müller anhing, oder Kants Auffassung, dass der (euklidische) Raum eine reine Anschauungsform ist (S. 840). Und in der Rede Die Thatsachen in der Wahrnehmung (1878) stellt er seiner materialistisch-realistischen Hypothese die idealistische Hypothese gegenüber (S. 909 f.):
„Ich sehe nicht, wie man ein System selbst des extremsten subjektiven Idealismus widerlegen könnte, welches das Leben als Traum betrachten wollte. […] Die realistische Hypothese dagegen traut der Aussage der gewöhnlichen Selbstbeobachtung, […]. Sie sieht als unabhängig von unserem Vorstellen bestehend an, was sich in täglicher Wahrnehmung so zu bewähren scheint, die materielle Welt ausser uns. Unzweifelhaft ist die realistische Hypothese die einfachste, die wir bilden können, geprüft und bestätigt in ausserordentlich weiten Kreisen der Anwendung […] für mehr als eine ausgezeichnet brauchbare unpräcise Hypothese können wir die realistische Meinung nicht anerkennen; nothwendige Wahrheit dürfen wir ihr nicht zuschreiben, da neben ihr noch andere unwiderlegbare idealistische Hypothesen möglich sind.“
Der nachfolgenden Textstelle, ebenfalls aus Die Thatsachen in der Wahrnehmung von 1878, kann man entnehmen, dass auch der späte Helmholtz zwar die mechanistische Naturauffassung eine Hypothese hält, die Naturwissenschaft insgesamt aber sicher nicht hypothetisch versteht (S. 889):
„Die Naturwissenschaft […] sucht abzuscheiden, was Definition, Bezeichnung, Vorstellungsform, Hypothese ist, um rein übrig zu behalten, was der Welt der Wirklichkeit angehört, deren Gesetze sie sucht.“
Sein Begriff der Hypothese bezieht sich nicht auf mühsam induktiv gefundene Gesetzmäßigkeiten, sondern auf voreilige Verallgemeinerungen oder eben auf metaphysische Weltanschauungen. Bei voreiliegen Verallgemeinerungen ist die empirische Basis noch zu klein oder zu oberflächliche ausgewertet; bei metaphysischen Weltanschauungen gibt es gar keine Möglichkeit für eine empirische Überprüfung.
Dies alles zeigt, dass Helmholtz ein Empirist im Sinne Newtons und Bacons ist. Deren Maxime war: Bleib bei den Dingen selbst! Lass die Dinge selbst „sprechen“! Halte dich mit vorgefassten Meinungen und voreiligen Verallgemeinerungen zurück! Derartige voreilige Verallgemeinerungen, die entweder gar keine empirische Basis haben oder zu wenig aus den empirischen Tatsachen abgeleitet sind, nennt Newton „Hypothesen“. Die Methode, nur aufgrund hinreichender empirischer Tatsachen ein allgemeines Naturgesetz zu finden, heißt Induktion. Wurde es auf korrekte Weise mittels Beobachtung und Experimenten gefunden, dann darf es den Anspruch haben, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wahr zu sein.
Helmholtz vertritt, wie gesagt, einen materialistischen Mechanismus, bei dem alle Naturvorgänge letztlich auf räumliche Anhäufungen und räumlichen Bewegungen von Elementarteilchen und quantifizierbaren Kräften zwischen ihnen erklärbar sein sollen. Diese Betonung des Raumes und der Quantifizierbarkeit sehe ich in der Tradition der Mathematisierung der Natur, die sich bis Galileis „neue Wissenschaft“ zurückführen lässt. Danach ist das Buch der Natur in Buchstaben der Geometrie geschrieben, das heißt, dass das immanente Wesen der Natur als mathematisch aufgefasst wird. Seit Galileis Zeiten hat das fast jeder Naturwissenschaftler als selbstverständlich angenommen. Für den späten Helmholtz ist dies aber nur noch eine Hypothese. Ich vermute, dass diese Hypothetisierung die Folge seiner Beschäftigung mit nicht-euklidischen Geometrien ist.
Denn so lange es nur eine Mathematik bzw. nur eine Geometrie gibt, ist es naheliegend zu glauben, dass sie sowohl denknotwendig ist als auch in der objektiven Realität real notwendig ist. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erkannten die Mathematiker allerdings, dass neben der bekannten euklidischen Geometrie noch unendlich viele nicht-euklidische Geometrien denkbar sind. Sowohl Riemann als auch Helmholtz folgerten daraus, dass der tatsächliche reale Raum möglicherweise nicht der euklidischen Geometrie entspricht. Damit hat aber auch die vielleicht „naiv“ zu nennende Identifikation vom Wesen der Natur mit der Mathematik einen ersten Riss bekommen. Denn nun kann nicht mehr ein geometrisches Argument alleine genügen, um eine naturwissenschaftliche Aussage zu beweisen, man muss zudem belegen, dass die angenommene ideale Geometrie sich auch in der Wirklichkeit wiederfindet. Jedenfalls steht aufgrund der Erkenntnis, dass es viele verschiedene Geometrien geben kann, die metaphysische Annahme der Mathematisierung der Natur überhaupt zur Disposition. Und genau dies tut Helmholtz in seinen späteren Vorträgen, Das Denken in der Medizin (1877) und Die Thatsachen in der Wahrnehmung (1878).
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