Übergang zum hypothetisch-empirischen Wissenschaftsverständnis
Galileis „neue Wissenschaft“ war eine quantitativ-geometrische Modifikation des aristotelischen Wissenschaftsmodells. Selbstverständlich nutzte Galilei die Mathematik dazu, Naturphänomene zu beschreiben.
Vor allem aber war sie ihm ein Mittel, um die Empirie zu überschreiten und Einblicke in das Wesen der Natur zu gewinnen. So wie Aristoteles auch glaubte Galilei an Wesenserkenntnis und Deduktion, der Unterschied war nur, dass es bei Galilei eine quantitativ-geometrische Wesenserkenntnis ist und eine mathematische Deduktion, wohingegen Aristoteles die Anwendung der Mathematik in der Naturphilosophie ablehnte.
Mit Galileis neuer Wissenschaft einher ging eine neue Auffassung vom Wesen der materiellen Wirklichkeit, der Wesenskern der Natur wurde nämlich als immanent quantitativ-geometrisch aufgefasst. Am besten ist dies an dem damals zum wissenschaftlichen Standard werdenden Atomismus zu sehen, dem unter anderem Galilei und Newton anhingen. Demnach besteht die materielle Welt aus kleinsten Teilchen, die sich ausschließlich durch quantitativ-geometrische Eigenschaften auszeichnen, also z.B. Gestalt und Größe, deren einzige relevante Bewegungsart die der Ortsbewegung ist. Von allen Bewegungsarten, die Aristoteles unterschied, ist die Ortsbewegung die einzige, die quantitativ-geometrisch erfassbar ist. Nun sind die Atome zu klein, als dass wir sie wahrnehmen könnten. Stattdessen nehmen wir Dinge und qualitative Eigenschaften wahr. Nach den Atomisten ist das eine Welt des subjektiven Scheins. Die wahre Welt des Seins ist die der Atome, die uns aber, wie gesagt, nicht direkt empirisch zugänglich ist.
Ohne Zweifel handelte es sich bei der mathematischen Naturauffassung um eine Art Metaphysik. Mit ihr als Grundlage glaubten die frühneuzeitlichen Naturwissenschaftler die Dinge so erkennen zu können, wie sie an sich sind. Der Höhepunkt der mathematischen Naturerkenntnis bildete die Newtonsche Mechanik. Anfangs war sie zwar naturphilosophisch umstritten. Aber die gemeinsame Basis war die Mathematik, die die Naturwissenschaft so erfolgreich machte, dass man sich über alle philosophischen Bedenken hinwegsetzen konnte. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde Newtons Physik zur analytischen Mechanik perfektioniert und das Selbstbewusstsein der Naturwissenschaftler wuchs ins Unermessliche. Inzwischen galt sie als alternativlos und daher notwendig gewiss, ähnlich wie die Mathematik. Eine Vielzahl von Wissenschaftlern vertraten inzwischen die mechanistische Naturauffassung, der gemäß die Newtonsche Mechanik zum großen Vorbild für alle Naturwissenschaften erhoben wurde. Die Hoffnung war, dass man irgendwann jede Naturerscheinung, egal ob chemisch oder biologisch, auf die Prinzipien der Mechanik zurückführen können würde.
Diese Hoffnung löste sich allerdings in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf und die Selbstgewissheit der mechanistischen Naturwissenschaftler bekam Kratzer. Und zwar aufgrund von mehreren Entwicklungssträngen, die teils unabhängig voneinander teils mehr oder weniger miteinander verflochten sind.
Eine bislang für selbstverständlich gehaltene Annahmen war, dass die Mathematik einen Bezug zur Realität hat und daher auch die analytische Mechanik, die im Wesentlichen ein Teilgebiet der Analysis ist. Dass sich etwas Räumliches anders als gemäß der euklidischen Geometrie verhalten würde, galt als nicht vorstellbar, also musste die euklidische Geometrie auch für die räumliche Wirklichkeit gelten. Dass sich etwas Zählbares anders als gemäß der Arithmetik verhält, war nicht vorstellbar, also verhielt sich auch die zählbare Wirklichkeit so. Dass sich ein System von sich bewegenden Massepunkten anders als gemäß der Mechanik verhält, war nicht vorstellbar, also musste die analytische Mechanik auch für die sich in Bewegung befindliche materielle Wirklichkeit gelten.
Da sich nun aber die Anschauung in der infinitesimalen Analysis als falscher Freund erwiesen hatte, suchten die Mathematiker Anfang des 19. Jahrhunderts ein besseres Fundament für ihre Wissenschaft. Sie fanden es in formal sauberen Definitionen, die stringente Beweisführungen ermöglichten ohne Zuhilfenahme von Intuition oder Anschauung. Dadurch erschloss sich der Mathematik eine fast grenzenlose neue geistige Welt, die offensichtlich nichts mit der materiellen Wirklichkeit zu tun haben kann. Man findet nun mal keine fünf-dimensionale Räume oder überabzählbar unendliche Mengen in der sinnlich wahrnehmbaren Realität. Damit war aber der Bezug der Mathematik zur materiellen Welt keine Selbstverständlichkeit mehr. Da aber die analytische Mechanik zunächst ein rein mathematisches System ist, musste man jetzt auch ihren Realitätsbezug neu überdenken, wie Jacobi erstmals 1847 hervorhob. Damit wird aber die metaphysische Basis der neuzeitlichen Naturwissenschaft, nämlich dass die Natur ihrem Wesenskern nach mathematisch erkennbar ist, in Frage gestellt. Galilei konnte noch glauben, mit rein geometrischen Argumenten etwas über die materielle Wirklichkeit, wie sie an sich ist, zu erschließen. Diesen Glauben konnte man seit Jacobis nicht mehr haben. Zwischen mathematischer Erkenntnis und Naturerkenntnis lag nun eine Kluft.
Wie gesagt, für Jacobi hatte eine mathematische Theorie nicht automatisch bzw. notwendigerweise einen Realitätsbezug. Er musste erst hergestellt werden. Jacobis Lösung ist wegweisend, indem er sagt, dass die mathematische Theorie immer zunächst einen hypothetischen Charakter hat und erst anhand ihrer empirisch überprüfbaren Konsequenzen bestätigt wird und somit ansatzweise einen Bezug zur Realität bekommt.
Nachdem man erkannte, dass auch nicht-euklidische Geometrien denkbar sind, verlor auch die Geometrie ihren bislang als selbstverständlich angenommenen Realitätsbezug. Denn den hatte sie vor allem deswegen, weil bislang keine andere Geometrie vorstellbar war. Somit konnte die räumliche Wirklichkeit nicht anders als euklidisch sein. Dies galt jetzt aber nicht mehr. Die materielle Realität konnte nun mit demselben Recht euklidisch wie nicht-euklidisch sein. Um eine Verknüpfung zwischen theoretischer Geometrie und empirischer Wirklichkeit zu gewährleisten, schlug Riemann 1854 einen ähnlichen Weg vor, wie Jacobi vorher für die analytische Mechanik. Jede Geometrie, die man zur Beschreibung der Wirklichkeit verwendet, ist erst einmal hypothetisch, man kann höchstens versuchen, sie durch empirische Messverfahren zu bestätigen.
Carl Neumann greift die Behauptung an, Newtons Prinzipien seien unmittelbar von den Naturerscheinungen abgeleitet und somit empirisch gewonnen. Dazu zeigt er, wie Newtons Trägheitsprinzip auf den Vorstellungen eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit beruhen, die beide keine empirischen Begriffe sind. Damit der absolute Raum ein empirischer Begriff wäre müssten wir einen Körper Alpha im Weltall kennen, von dem wir wüssten, dass er in vollkommener Ruhe befindlich ist. Da wir einen solchen Körper unmöglich kennen können, ist der absolute Begriff nicht empirisch. Wenn der absolute Raum, die absolute Zeit und somit auch der Trägheitssatz keine aus den Naturerscheinungen empirisch abgeleiteten Prinzipien sind, dann sind sie offenbar willkürlich angenommene Hypothesen. Auch wenn sich die damit begründete physikalische Theorie bislang gut bewährt hat, insofern man dadurch eine Vielzahl von Phänomenen erklären kann, diese Prinzipien werden dennoch immer hypothetisch bleiben. Weil sie selbst nicht empirisch überprüfbar sind.
Schließlich wurde das mechanistische Weltbild schwer erschüttert durch Maxwells mathematischer Beschreibung des Elektromagnetismus durch seine Feldgleichungen. Denn, wie sehr sich die Wissenschaftler auch bemühten, sie fanden kein mechanisches Erklärungsmodell dafür. Das war auch deswegen gravierend, weil es keine Kritik von außen war. Vitalisten und Idealisten, so glaubte man, brauchte man nicht ernst nehmen. Aber hier ist ein mechanisch unlösbares Problem innerhalb der physikalischen Naturwissenschaft aufgetaucht. Wenn man aber schon eine so elementare Naturerscheinung wie den Elektromagnetismus nicht mechanistisch erklären kann, dann wird die mechanistischen Naturauffassung insgesamt in Frage gestellt. Man kann sie also nicht mehr für die einzig rationale Welterklärung ansehen, sondern nur noch sozusagen als Arbeitshypothese.
In diesem Sinne erkannte auch beispielsweise Helmholtz, dass auch die mechanistischen Naturauffassung eine metaphysische Position ist, die man durchaus vertreten kann. Man sollte sich nur darüber im Klaren sein, dass sie empirisch nicht überprüfbar ist, und dass somit andere alternative Positionen gleichberechtigt sind.
Bei all diesen Fällen gibt es Gemeinsamkeiten:
(1) Der Anspruch, dass eine naturwissenschaftliche Theorie notwendig wahr sein soll, ist aufgegeben worden. Eine naturwissenschaftliche Theorie Stattdessen bleibt eine Theorie immer hypothetisch. Selbst dann, wenn sie offenbar mit sehr gut mit der Realität übereinstimmt und sich bislang bewährt hat. Dies ist ein Gedanke, der Galilei und Newton völlig fremd war.
(2) Kein Anspruch mehr auf Wesenserkenntnis. Die Kluft zwischen Theorie auf der einen Seite und der empirischen Wirklichkeit auf der anderen Seite ist größer geworden. Eine Theorie, selbst wenn sie empirisch bestätigt ist, gewährt keinen Blick ins Innere der Natur. Man ist bescheidener geworden.
(3) Eine Theorie erhält ihren Bezug zur Realität mittels empirisch überprüfbarer Konsequenzen, die aus ihr abgeleitet werden. Während der gesamten bisherigen Wissenschaftsgeschichte standen vor allem die obersten Prinzipien im Fokus. Sie für sich genommen sollten als wahr erkannt werden, entweder durch Vernunfteinsicht oder durch rationalistische Beweise. Oder sie sollten induktiv aus Naturphänomenen abgeleitet werden. Die Idee war, dass, wenn man weiß, dass die obersten Prinzipien wahr sind, auch alle Folgerungen daraus gelten müssen. Nun hingegen haftet jedem Prinzip etwas Beliebiges an. Ob es evident, plausibel, beweisbar oder wahr ist, spielt keine Rolle mehr. Jetzt zählt nur noch, welche Konsequenzen man aus den Prinzipien herleiten kann und ob sie sich empirisch bestätigen lassen.
In diesen drei Punkten sehe ich den Kern des heutigen, modernen Wissenschaftsverständnis. Es hat sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet, nachdem das bisherige Wissenschaftsmodell in die Krise geriet, das an eine Naturwissenschaft glaubte, unumstößliche Erkenntnisse über das innerste Wesen der Natur gewinnen zu können. Wissenschaftstheoretisch ging das bisherige Wissenschaftsmodell auf die Zweite Analytik des Aristoteles zurück und wurde in der frühen Neuzeit unter anderem von Galilei quantitativ-geometrisch modifiziert.
Das neue Wissenschaftsmodell war zwar unter anderem bei Jacobi, Riemann und Neumann angedeutet, es war aber noch keine entsprechende Wissenschaftstheorie formuliert. Das taten schließlich Ernst Mach, Henri Poincaré, Pierre Duhem, sowie später im Rahmen des Wiener Kreises Rudolf Carnap, Otto Neurath und Karl Popper.
Selbstverständlich hat sich das neue Wissenschaftsverständnis nicht mit einem Schlag durchgesetzt. Es gab genug Wissenschaftler und Philosophen, die versuchten an dem bisherigen Wissenschaftsmodell festzuhalten.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!