C.G.J. Jacobi: Auch die analytische Mechanik hat keinen Bezug zur Realität

Carl Gustav Jacob Jacobi (1804-1851) war ein deutscher Mathematiker des frühen 19. Jahrhunderts. Er war enorm produktiv. Unter anderem schuf er die Theorie der elliptischen Funktionen, beschäftigte sich mit Differentialgeometrie und partiellen Differentialgleichungen und überhaupt mit vielen Themen aus dem Gebiet der Analysis.

Er verstand sich selbst als „reinen Mathematiker“, das heißt, dass er sich zunächst nicht für die praktische Anwendung der Mathematik interessierte. Das folgende Bonmot soll von ihm sein: „Alles, was in der Mathematik geschieht, dient einzig und allein der Ehre des menschlichen Geistes.“

1821 immatrikulierte er sich an der Universität Berlin und studierte anfangs unter anderem Philosophie bei G.W. Hegel und Altphilologie bei A. Böckh. Bereits 1825 habilitiert er sich und geht 1826 an die Universität von Königsberg. Zunächst praktiziert Jakobi reine Mathematik in dem Sinne, dass er sich mit mathematischen Problemen nur um ihrer selbst willen beschäftigt und kein Interesse an Anwendungen hat. Die Mathematik hatte inzwischen eine sehr formale, unanschauliche Gestalt angenommen. Pulte (S. 323): „Reine Mathematik im Sinne Jacobis ist ein logisches Operieren mit symbolischen Formen als abgekürzten Gedankenreihen.“

In Königsberg lernt er den Astronomen F.W. Bessel und den Physiker F.E. Neumann kennen. Bessel weckt bei Jacobi sein Interesse für Astronomie und mit Neumann diskutiert er regelmäßig mathematische Probleme innerhalb der theoretischen Physik. Schließlich veranlasst ein Essay des irischen Physiker W.R. Hamilton (1805-1865) Jacobi dazu, die analytische Mechanik als eine Art Teilgebiet der Mathematik zu verstehen, mit der er sich intensiv zu beschäftigen beginnt. Unter anderem entwickelt er Hamiltons Ideen weiter zur sog. Hamilton-Jacobi-Theorie, beweist das für die Mechanik wichtige Jacobi-Poisson-Theorem und formuliert das sog. Prinzip des letzten Multiplikators. In Folge dieser Beschäftigung mit der theoretischen Mechanik hält er (mindestens) zwei wichtige Vorlesungen:

  • Vorlesungen über Dynamik. Gehalten in Königsberg 1842/43. Veröffentlicht 1866.
  • Vorlesungen über Analytische Mechanik. Gehalten in Berlin 1847/48. Nach einer Mitschrift von Wilhelm Scheibner. Herausgegeben von Helmut Pulte. Dokumente zur Geschichte der Mathematik, Band 8, 1996.

Die erste Vorlesung über Dynamik von 1842/43 ist noch ganz im Geiste von Lagrange gehalten. Jacobi setzt sich darin mit dem mathematisch-theoretischen Aspekte der Physik auseinander, der naturwissenschaftlich-empirischen Gehalt scheint ihn nicht zu interessieren. Die Mechanik behandelt er somit wie ein mathematisches Teilgebiet der Analysis. Diese Vorlesung wird erst 1866, also 15 Jahre nach dem Tod Jacobis, auf der Grundlage einer Mitschrift von C.W. Borchardt veröffentlicht, und wird bald eines der wichtigsten Lehrbücher der analytischen Mechanik im deutschsprachigen Raum.

1843 verlässt Jacobi Königsberg aus gesundheitlichen Gründen, hält sich kurz in Italien auf und siedelt dann nach Berlin über. Im Wintersemester 1847/48 hält Jacobi schließlich seine Vorlesungen über analytische Mechanik. Heute ist sie auf der Grundlage der Mitschrift eines seiner Studenten Wilhelm Scheibner veröffentlicht.

Sieht man sich diese Vorlesung an, so macht sie zunächst den Eindruck eines ganz normalen Werks über analytische Mechanik. Er spricht unter anderem über die Grundlagen der Statik, die allgemeinen dynamischen Gesetze, das Prinzip der kleinsten Wirkung, über die Lagrangesche und Hamiltonsche Form der Dynamik, die Hamilton-Jacobi-Theorie, sowie die sogenannte Störungstheorie. Sie ist voll von mathematischen Formeln und Herleitungen. In mancherlei Hinsicht ist sie aber anders als die meisten Vorlesungen über analytische Mechanik. Beispielsweise schweift er immer wieder in die Geschichte der Naturwissenschaften ab, spricht über Anaxagoras, Aristoteles, Euler, d’Alembert und Lagrange.

Ferner beschäftigte Jacobi sich intensiv mit der Frage, inwiefern die analytische Mechanik einen Bezug zur Realität hat. Allein, dass Jacobi sich diese Frage überhaupt stellt, ist bemerkenswert. Denn den meisten seiner Zeitgenossen galt die Mechanik als notwendig gültige Wissenschaft von den Bewegungen den realen Dingen. Ähnlich wie die Geometrie die notwendig gültige Wissenschaft von den räumlichen Eigenschaften der realen Dinge ist. D.h. wenn sich etwas bewegt, dann, so dachte man, wäre es nicht anders denkbar, als dass dies gemäß den Gesetzen der Mechanik geschieht.

Offenbar hat Jacobis Skepsis damit zu tun, dass die analytische Mechanik zunächst nichts anderes ist als eine formale mathematische Theorie. So sagt er in der 31. Vorlesung bezogen auf das Hamilton-Prinzip und dem darin verwendeten mathematischen Formalismus[1]:

„Diese analytische Operation, die Coordinaten mittelst der Bedingungsgleichungen durch von einander unabhängige Größen auszudrücken, ersetzt die mechanische Communication der Kräfte, die mittelst dieser Bedingungsgleichungen stattfinden, man hat hier das vollkommene Gegenbild einer mathematischen Operation von dem, was in der Natur vorgeht, das ist eigentlich immer die Aufgabe der angewandten Mathematik. Bei Aufstellung der Differentialgleichungen ist gar keine Überlegung zu machen nöthig von Kräften, die durch die unendlich mannigfaltigen Bedingungen, die stattfinden können, einander modifiziren, sich gegenseitig übertragen, aufheben u.s.w., sondern Alles reducirt sich auf die mathematische Operation […].“

Jacobi beschreibt also, wie der physikalische Sachverhalt mathematisch abgebildet wird, indem bestimmte Differentialgleichungen aufgestellt werden. Sobald das aber geschehen ist, ist das Auflösen dieser Gleichungen letztlich nur ein Manipulieren mit formal-abstrakten Symbolen und „Alles reducirt sich auf die mathematische Operation“. Dass Jacobi die Mechanik als formales System sieht, erkennt man beispielsweise auch daran, dass er von einer „symbolischen Darstellung“ des sog. Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten spricht. Später, in der dritten Vorlesung gibt er auch eine geometrische Interpretation dieses Prinzip. Man erkennt aber, wie Jacobi zwischen dem Formalismus auf der einen Seite und dessen inhaltliche Interpretation auf der anderen Seite unterscheidet.

Jacobi sieht also, dass die analytische Mechanik zunächst nur ein mathematisches System ist, das mit formalen Symbolen nach formalen Regeln operiert. Das ist eine Auffassung, die grundverschieden ist von der, die Galilei oder Newton vertraten. Das ist auch kein Wunder, denn damals verwendeten sie vor allem die klassische Geometrie, bei der es so gut wie keinen Formalismus gibt. Auf jeden Fall gibt es in der Geometrie, so wie sie Galilei oder Newton nutzen, kein Operieren mit formalen Symbolen. Das ist ein typisches Merkmal der neuen Mathematik, wie sie sich in vollem Umfang erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Und Jacobi hatte selbst Anteil an dieser Entwicklung.

Bei Jacobi kann man sehr gut erkennen, wie der Übergang von der alten, anschaulichen und realitätsbezogenen Mathematik zur neuen, unanschaulich-formalen, abstrakten Mathematik alternative theoretische Auffassungen in den Bereich des Denkbaren rückt. So sagt er bezogen auf das Trägheitsprinzip[2]:

„Es ist vom rein mathematischen Standpunkt aus ein Cirkel, zu sagen, die geradlinige Bewegung ist die eigene, folglich ist zu jeder anderen eine äußere Hinzuwirkung erforderlich: denn man könnte mit demselben Rechte jede andere Bewegung als Gesetz der Trägheit eines Körpers setzen, wenn man hinzufügt, wenn er sich nicht so bewegt, ist eine Außenwirkung daran Schuld. Und wenn wir jedesmal, wenn der Körper abweicht, die äußere Einwirkung physikalisch aufweisen können, sind wir berechtigt, das Trägheitsgesetz, das nun zu Grunde lag, als Naturgesetz zu bezeichnen.“

Das heißt, dass die geradlinige Bewegung durchaus nicht notwendig ist und dass somit auch andere als das allgemein verwendete Trägheitsprinzip denkbar sind. Das herkömmliche Trägheitsprinzip ist somit, wie sich Jacobi ausdrückt, nur eine Konvention, die wir beliebig aus einer prinzipiell großen Menge möglicher Prinzipien ausgewählt haben.

Das Bewusstsein für logische Stringenz bringt Jacobi zu der Erkenntnis, dass eine Vielzahl von Theorien möglich sind. Das ist, wie ich es oben formuliert habe, ein Pluralismus denkbarer Theorien. Die formale Sichtweise, die Jacobi offenbar hat, ist ein Sprungbrett für ganz neue Geisteswelten. Jedenfalls gibt es von einem rein logischen Standpunkt keinen signifikanten Unterschied zwischen dem herkömmlichen Trägheitsprinzip und einer modifizierten Form davon. Und weil das so ist, sind auch alle Versuche, die notwendige Gültigkeit der mechanischen Prinzipien zu zeigen, zum Scheitern verurteilt.

Jedenfalls geht Jacobi in der vierten, fünften und sechsten Vorlesung auf Lagranges Versuche ein, das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten zu beweisen. Jacobi legt ausführlich dar, wo die Fehler in diesen „Beweisen“ liegen. Bezogen auf Lagranges Mécanique analytique sagt Jacobi[3]:

„Überhaupt ist die analytische Mechanik ein Buch, vor welchem man in einiger Beziehung warnen muss, es enthält Vieles, was mehr divinatorisch ausgesprochen, als streng bewiesen ist, so dass man es mit Vorsicht gebrauchen muss, um sich nicht täuschen zu lassen und zu dem Wahne verführen, man hätte Etwas bewiesen, was nicht bewiesen ist.“

Sowie:

„Sie werden in allen Lehrbüchern mit Beweisen dieses Princips betrogen, und oft ist es schwer den Punkt zu finden, rein mathematischen Raisonnement etwas Äußerliches untergeschoben ist.“[4]

Jacobi argumentiert, dass solche Versuche, ein naturwissenschaftliches Prinzip a priori rationalistisch zu beweisen, prinzipiell scheitern müssen. Auf ähnliche Weise hat man lange vergeblich versucht, die notwendige Gültigkeit des Parallelenaxioms zu beweisen.

Alle Versuche die notwendige Gültigkeit von mechanischen Prinzipien zu beweisen, müssen schon deswegen scheitern, weil eine Vielzahl alternativer Prinzipien denkbar sind, wie Jacobi mit Bezug auf das Trägheitsprinzips ausdrücklich sagt. Solange man nur eine einzige Mechanik mit ihren spezifischen Grundsätzen für denkbar hält, muss man sie für notwendig halten. Dann kann sich aber auch die materielle Wirklichkeit unmöglich anders verhalten als es diese eine Mechanik vorschreibt. Glaubt man also an die notwendige Gültigkeit der Mechanik, dann ist der Realitätsbezug der Mechanik selbstverständlich. Das ändert sich jedoch, sobald alternative Theorien denkbar sind. Dann verliert die Mechanik ihren bislang als selbstverständlich angenommenen Realitätsbezug. Man könnte sie nun als „mathematische Fictionen“ [5] bezeichnen oder als „bloße Conventionen“ [6], die letztlich willkürlich aufgestellt werden.

Erst so stellt sich die gewissermaßen ontologische Frage, wie eine rein mathematische Theorie, wie es die analytische Mechanik ja zunächst ist, wahr in dem Sinne ist, dass sie etwas über die reale Welt aussagt. Wie ist nun eine mathematische Theorie nicht nur ein abstrakt-deduktives Geplänkel, sondern eine Wissenschaft davon, wie die Dinge wirklich sind?

Jacobis Antwort, die er 1847/48 gibt, ist eine erste Formulierung des modernen hypothetisch-empirischen Wissenschaftsbegriff. Wie gesagt versteht Jacobi die Grundsätze der Physik nicht mehr als unumstößlich wahre Axiome, sondern nur noch als bloß hypothetische „Konventionen“[7]. Der Realitätsbezug einer Konvention ist weder vernünftig einsehbar (wie Aristoteles forderte) noch rational beweisbar (wie Lagrange meinte). Nach Jacobi kommt der Bezug zur Realität erst dadurch zustande, dass man Folgerungen aus der Theorie für konkrete Einzelfälle ableitet, die man dann empirisch überprüfen kann. Stimmen die deduzierten Folgerungen mit den Tatsachen überein, dann kann man sie als bestätigt bezeichnen. Als Beispiel nennt Jacobi die Bestätigung der Newtonschen Mechanik durch die Entdeckung des Neptuns (S. 3). Und in der 31. Vorlesung sagt Jacobi:

„Der weitere Inhalt der analytischen Mechanik ist dann freilich die Anwendung dieser Formeln […]. Die Natur wird da jedesmal vollständig aus den Augen gerückt, und es tritt an die Stelle der Constitution der Körper (je nachdem deren Elemente unbiegsam, ausdehnbar, elastisch u.s.w. sind) lediglich die bestimmte Bedingungsgleichung. Hier wird nun freilich in der analytischen Mechanik die Rechtfertigung vermißt, indem sie, um eine rein mathematische Disziplin zu bleiben, auch von dieser Rechtfertigung ganz abstrahirt; nämlich die Resultate bleiben richtig in Bezug auf die Voraussetzungen; wenn die Bedingungsgleichungen stattfinden, so müssen folgende Differentialgleichungen für die Bewegung der Körpertheilchen stattfinden. Wenn die Physik nun finden sollte, dass diese Bewegungsgleichung nicht den Zustand dieses oder jenes Körpers ausdrückt, so ist das Etwas, was außerhalb des Werkes liegt; wenn z.B. die tropfbaren Flüssigkeiten als absolut incompressibel angenommen werden: ist das aber nicht mehr der Fall, so ergeben sich dadurch Abweichungen der Resultate von der Wirklichkeit.“

Hier noch Helmut Pulte zu Jacobi:

„Mit Jacobi wird die rationale Mechanik zu einer prinzipienfalliblen Wissenschaft, die nicht mehr an ein fundamentum inconcussum [d.h. ein unerschütterliches Fundament] […] glaubt und mit der Fehlbarkeit und Veränderbarkeit der Grundsätze rechnet. Jacobi scheint als erster mathematischer Physiker diesen Schritt konsequent vollzogen und reflektiert zu haben, und deshalb scheint es mir berechtigt, mit ihm die ‚Moderne‘ der mathematischen Naturphilosophie beginnen zu lassen.“[8]

„Jacobi entdeckt den konkreten physikalischen ‚Einzelfall‘: Wenn der Lagrangesche Formalismus keine rein mathematische, bloß symbolische Darstellung von Gedankenreihen bleiben soll, so […] muss am Einzelfall empirisch überprüft werden, ob er unter die Darstellung fällt.“[9]

So innovativ Jacobis Gedanken waren, die er in seiner Vorlesung 1847/1848 in Berlin hielt, so begrenzt waren ihre unmittelbare Wirkung. Immerhin aber saß Bernhard Riemann (1826-1866) im Auditorium. Nach Pulte hat Jacobi insbesondere auch Carl Neumann beeinflusst. Pulte schreibt:

„Es wäre historisch naiv und wissenschaftstheoretisch anfechtbar, Riemanns und Neumanns Beiträge zur Auflösung der [klassischen mathematischen Naturphilosophie] gleichsam ‚monokausal‘ auf Jacobis Analytische Mechanik zurückführen zu wollen: Beide Mathematiker waren […] eigenständige Köpfe, und ihre Anschauungen zur mathematischen Naturphilosophie weisen unterschiedliche Einflüsse auf. Gleichwohl erscheint es mir legitim, sie […] in die Tradition Jacobis zu stellen: Zum einen lässt sich an ihnen belegen, wie ein (durch Jacobi repräsentierter) Wandel der Mathematikauffassung das weitere Verständnis mathematischer Naturgesetzlichkeit wesentlich prägt und eine neue wissenschaftstheoretische Grundlagenreflexion und -kritik erst ermöglicht. Zum anderen spielen beide eine objektive, historisch unstrittige Rolle in der weiteren, die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bestimmenden Grundlagendiskussion der Mechanik und Geometrie, die mit Einstein endet.“

Jedenfalls mündete diese Tradition, die mit Jacobi begann und von Riemann und Neumann weitergeführt wurde, letztlich in den heute üblichen empirisch-hypothetischen Wissenschaftsbegriff. Und ich hoffe, dargelegt zu haben, wie die Entwicklung der Mathematik im Laufe des 19. Jahrhunderts dazu beigetragen hat.

[1] Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik, S. 192.

[2] Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik, S. 3 f.

[3] Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik, S. 29.

[4] Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik, S. 5.

[5] Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik, S. 56.

[6] Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik, S. 3 f.

[7] Pulte [61], S. 326 ff.

[8] Pulte S. 330.

[9] S. 324.

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