Plotin und die Schau des Einen

Ähnlich wie bei Epikur oder der Stoa gibt es bei Plotin (205-277 n.Chr.) ein Primat der Ethik, und zwar im Sinne von: Wie finde ich die höchste Glückseligkeit?

Plotins Antwort darauf ist: In der kontemplativen Schau des Einen, das auch zugleich das Gute und der Urgrund allen Seins ist. Plotin beschreibt diese Schau als mystische Vereinigung, bei der der Betrachter und das Betrachtete in eins verschmelzen. Plotins Schüler Porphyrius hat eine Zeitlang in seiner Nähe gelebt. Nach seinen Berichten hat Plotin in dieser Zeit vier Mal die mystische Vereinigung erreicht.

Manche seiner Texte sind direkte Anweisungen, wie man zu einer solchen Schau des Einen gelangen kann[1]:

„[…] bei jedem einzelnen Ding gibt es ein Eines; auf das man es zurückführen kann, […] bis man schließlich bei dem schlechthin Einen anlangt: dies lässt sich nicht mehr auf ein anderes zurückführen. […] Und fasst du es [das schlechthin Eine] ins Auge, nachdem du das Sein von ihm genommen hast, so wirst du staunen vor dem Wunder; dann richte deinen Blick auf jenes, und trifft es sich, dass du in seinem Bereich zur Ruhe kommen kannst, so werde seiner inne, indem du es durch dein Hinblicken noch tiefer verstehst […]

Und dann verfahre weiter folgendermaßen! Der Geist (nous) ist ein Sehen, und zwar ein sehendes Sehen […]. Für das Sehen nun kommt die Erfüllung, gleichsam die Erreichung des Zieles, von dem Wahrnehmbaren her; beim Sehen des Geistes aber bringt das Gute diese Erfüllung … Sprichst du also das Wort ‚das Gute‘ aus, so denke nichts Weiteres hinzu; denn setzt du etwas hinzu, so wirst du es um soviel, als du hinzugesetzt hast, vermindern. So tu auch nicht das Denken hinzu …“

Christoph Horn schreibt[2]:

„Plotin situiert das vollständige menschliche Glück nicht in der irdischen Existenz, sondern ausschließlich in der oberen Welt. Dem stoischen Ideal der Apathie folgend, empfiehlt Plotin für das hiesige menschliche Leben einen Abstand von allen (scheinbaren) Gütern, die er nicht als glückskonstitutiv gelten lässt. Seine Figur des Weisen lebt bereits unter irdischen Bedingungen ganz in der Orientierung zum Intelligiblen.“

Die Schau des Einen-Guten steht somit am Ende eines intellektuellen Aufstiegs. Plotin spricht auch manchmal von notwendigen Reinigungen. Um dorthin zu gelangen, muss man seine Lebensweise fundamental ändern. Neben der intellektuellen Vervollkommnung muss man vor allem der Welt entsagen, sich zurückziehen in ein einfaches Leben. Plotins Aufforderung ist: „Lass alles weg!“[3]  Damit meint er, dass man von allem Äußeren, Sinnlichen, Materiellen lassen sollte. Selbst von anderen Menschen zieht sich der Weise zurück[4]:

„Das also ist die höchste Lebensform des Weisen. […] er sondert sich möglichst ab, lebt überhaupt nicht das Leben des Menschen, des guten Menschen wie es die bürgerliche Tugend fordert, sondern dies lässt er hinter sich, er entscheidet sich für ein andres, für das Leben der Götter; denn mit ihnen, nicht mit den guten Menschen soll die ‚Gleichwerdung‘ stattfinden…“

Plotin hält es für unmöglich, über die sinnliche Wahrnehmung die Wahrheit zu erkennen (antiEmp). Wer es zur Schau des Einen-Guten gebracht hat, hat damit höchstes Glück erreicht, gleichzeitig hat er Kenntnis vom unwandelbar Wahren erlangt und er ist ein Weiser. Das sind die Merkmale (Abs) und (mtAkt).

Dass Plotin anti-empiristisch ist, steht außer Zweifel. Bemerkenswert ist, dass er auch das rational-logischen Argumentieren letztlich überwinden will.[5]:

„Daher hat der Weise das diskursive Denken schon hinter sich; […] er ist reines Schauen; denn so ist er schon zur Einheit vorgedrungen und zum Stillsein nicht nur vor den äußeren Dingen, sondern auch vor seinem eigenen Innern: alles liegt inwendig in ihm.“

Die Dialektik beschreibt er als diejenige Kunst, „welche uns dort hinauf führt, wohin es zu wandern gilt, […] nämlich zum Guten und zum ersten Grund.“ Plotin führt weiter aus:

„Wer aber von Anlage ein Philosoph ist, der ist schon bereit und sozusagen geflügelt, […] er ist in Bewegung auf das Obere hin, und bedarf nur einer Weisung, wenn er sich nicht zu helfen weiß. So muss man es ihm weisen und ihn befreien, wie er es denn schon selbst seinem Wesen nach wünscht und eigentlich längst befreit ist. Man gebe ihm also die Mathematik, ihn zu gewöhnen das Unkörperliche zu begreifen und an es zu glauben, er wird sie leicht aufnehmen da er wissensdurstig ist; […] nach der Mathematik gebe man ihm die Sätze der Dialektik und mache ihn überhaupt zu einem Dialektiker.

Aber was ist die Dialektik? Sie ist die Fähigkeit von jedem Ding begrifflich [gemäß dem Logos] auszusagen, was es jeweils ist, worin es sich von andern unterscheidet und was es mit ihnen gemeinsam hat. […] Indem sie dann aber aufhört mit dem Umherirren im Sinnlichen, siedelt sie sich im Geistigen an und übt dort ihre Forschung, […] sie wendet die platonische Einteilungskunst an auf die Scheidung der Ideen, wendet sie an auf das wahre Wesen, wendet sie an auf die ersten Seinsarten und flicht das aus ihnen Kommende geistig aneinander, bis sie das ganze geistige Gebiet durchlaufen hat, dann löst sie es wieder auf bis sie zum Urgrund zurückgelangt, dann aber hält sie sich ruhig (sie ist also insoweit dort oben im Zustand der Ruhe), nun ist sie frei von der Geschäftigkeit, sammelt sich zur Einheit und schaut; die sogenannte logische Forschung, die es mit Prämissen und Syllogismen zu tun hat, überlässt sie […] einer anderen Disziplin, sie hält manches davon für eine ‚notwendige Vorstufe ihrer Wissenschaft‘ […]“

Plotin sieht sowohl die Mathematik als auch logisch-rationales Philosophieren nur als Vorstufe, um sich intellektuell zu trainieren und vorzubereiten auf die Schau des Einen-Guten, bei dem sich der Betrachter zugleich mit dem Betrachteten mystisch vereint.

So findet man in Plotins Schriften zwar auch rational-logische Begründungen, aber in erster Linie kann man sie als Hinführungen zu genau jener mystischen Schau verstehen. Dabei ist klar, dass unsere herkömmliche Sprache letztlich versagt. Über das Eine-Gute kann man eigentlich nichts sagen. Sobald man es versucht, entzieht es sich der mystischen Schau. Und jeder Versuch, es zu beschreiben oder selbst zu ihm hinzuführen, kann nach Plotin nur mittels einer widersprüchlichen Sprache geschehen. Hier noch weitere Zitate[6]:

„Entschließt sich aber die Seele, sich rein für sich allein auf die Schau des Einen zu richten, dann sieht sie es indem sie mit ihm zusammen und Eines ist, und eben weil sie dann mit ihm Eines ist, glaubt sie noch gar nicht zu haben, was sie sucht, weil sie von dem Gegenstand ihres Denkens selbst nicht unterschieden ist. Dennoch muss eben in dieser Weise verfahren, wer über das Eine philosophieren will.“

„Es beruht aber diese Schwierigkeit hauptsächlich darauf, dass man des Einen gar nicht auf dem Wege des wissenschaftlichen Erkennens, des reinen Denkens wie der übrigen Denkgegenstände inne werden kann, sondern nur vermöge einer Gegenwärtigkeit welche von höherer Art ist als Wissenschaft (episteme). Die Seele erleidet ja einen Abfall vom Einssein und ist nicht völlig eines, wenn sie die wissenschaftliche Erkenntnis einer Sache gewinnt; denn die Wissenschaft ist Begriff (logos); der Begriff aber ist ein Vieles; […] So muss sie [die Seele] also über die Wissenschaft hinauseilen, darf in keiner Weise aus dem Einssein heraustreten, sondern muss ablassen von der Wissenschaft und dem Wissbaren, […] Darum lässt sich von ihm weder reden noch schreiben, sondern wir reden und schreiben nur davon, um zu ihm hinzuleiten, aufzuwecken aus den Begriffen zum Schauen und gleichsam den Weg zu weisen dem der etwas erschauen will; denn nur bis zum Wege, bis zum Aufbruch reicht die Belehrung, die Schau muss dann selbst vollbringen, wer etwas zu sehen gewillt ist.“

[1] Plotin, III 8, 10, 11.

[2] Riedweg, Horn [48], S. 1300.

[3] Siehe Plotin V 3 17, 38; I 2 1 3; VI 9 11, 51; I 6 9,8.

[4] Plotin I 2. Die Tugenden 7.

[5] Plotin III 8, 8.

[6] VI 9 Das Gute (das Eine), 3 und 4.

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