Parmenides und Zenon: Das Sein und die Unmöglichkeit von Bewegung

Parmenides (520-460 v.Chr.) versucht mittels rational-logischer Argumente zu erschließen, wie das Seiende gestaltet sein müsse: unentstanden, unvergänglich, unveränderbar, eines (d.h. unteilbar) und kugelförmig[1]. Nur dieses wirklich Seiende ist erkennbar, das Nicht-Seiende ist nicht erkennbar.

So heißt es in Fragmenten von Parmenides:

„dasselbe nämliche ist zu denken/zu erkennen und zu sein“ (Fragment B3)

„… denn das, was nicht ist, kannst du weder denken noch kannst du es sagen.“ (Fragment 2)

Für uns heutzutage ist an Parmenides sehr erstaunlich, dass er das logisch-rationale Schließen offenbar höher wertete als den offensichtlichen Augenschein. Denn sein Seiendes können wir ja nirgendwo sehen oder erfahren. Es steht vielmehr zu unserer alltäglichen Erfahrung im Widerspruch. Das ist für Parmenides aber kein Argument dafür, dass dieses Seiende, so wie er es erschlossen hat, nicht existieren würde. Vielmehr ist es ihm ein – uns absurd erscheinendes – Argument dafür, dass die Realität, wie wir sie normalerweise erleben, nicht ist.

Genau dieselbe Stoßrichtung haben die Paradoxien von Zenon. Seiner Argumentation nach, kann der schnelle Achilles niemals eine Schildkröte einholen, wenn sie nur einen Vorsprung hat. Offenbar wird aber Achilles in einem tatsächlich stattfindenden Rennen die Schildkröte einholen. Wir heutigen würden, meine ich, keine Sekunde zögern, um einen Fehler in Zenons logischer Argumentation zu vermuten. Denn den offensichtlichen Augenschein würde man als Beleg dafür ansehen, dass irgendetwas nicht mit Zenons Schlüssen stimmen kann.

Umso erstaunlicher (jedenfalls für uns heutige) ist es, dass die antiken Griechen Zenons Paradoxien sehr ernst genommen haben; und dass sie Zenon als stichhaltige Beweisführung dafür ansah, dass Parmenides recht hatte und die augenscheinliche Wirklichkeit nicht sein könne. Offenbar haben die alten Griechen logisch-theoretische Darstellungen, die in sich schlüssig sind, höher bewertet als die augenscheinlichen Erfahrungstatsachen. Auch die Gegner von Parmenides und Zenon bis hin zu Aristoteles haben nicht etwa auf das Offensichtlich-Erfahrbare verwiesen, um ihn zu widerlegen, sondern haben den Eleaten ausschließlich durch logisch-theoretische Argumente gekontert.

Für die weitere Philosophiegeschichte waren Parmenides und Zenon sehr wichtig. Das Argument, dass etwas, das (wirklich) ist, nicht entstehen noch vergehen kann, haben die Griechen wohl als sehr stark empfunden. Dieser Gedanke wird von den antiken Atomisten aufgegriffen. Was bei Parmenides ein unentstandenes, unvergängliches, unteilbares, kugelförmiges Seiendes ist, wird bei ihnen zu einer unendlichen Menge unentstandener, unvergänglicher und unteilbarer Atome, aus denen sich die Welt zusammensetzt. Selbst Platons Ideen erinnern an das unentstandene, unvergängliche und unteilbare Seiende des Parmenides.

Meines Erachtens sind bei Parmenides und Zenon das erste Mal eindeutig alle oben aufgezählten Merkmale gegeben;

(Abs) Parmenides stellt seine Darlegungen als unumschränkt gültig und wahr dar.

(Bw) Parmenides sieht seine rational-logischen Beweise als schlüssig an und die erschlossenen Wahrheiten gelten ihm als unumstößlich. Ähnlich wie Euklid einen Zusammenhang zwischen kommensurablen Größen und natürlichen Zahlen zweifelsfrei beweist, glaubt Parmenides zweifelsfrei zu beweisen, dass das Seiende nicht entstanden sein kann.

Parmenides schreibt im Fragment 9: „Sie treiben dahin, gleichermaßen blind, verblüfft, Völkerschaften, die nicht zu urteilen verstehen, denen das Sein und Nichtsein als dasselbe und auch wieder nicht als dasselbe gilt und für die es eine Bahn gibt, auf der alles in sein Gegenteil umschlägt.“

Offenbar spielt der Widerspruch bei Parmenides eine Rolle. Er schreibt, dass sich die normalen Menschen, die nicht das „Seiende“ kennen, wie Parmenides es erschlossen hat, sich in Widersprüche verwickeln. Man kann also annehmen, dass er seine Auffassung vom „Seienden“ für widerspruchsfrei hält.

(mtAkt) Parmenides hat den Anspruch, dass man mittels geistiger Einsicht Wahrheiten erkennt. In seinem Lehrgedicht heißt es: „Denn dass man es erkennt, ist dasselbe, wie dass es ist.“ Das erinnert an die mathematische Einsicht, die der geometrische Beweis erzeugen soll, damit der mathematische Sachverhalt als wahr gelten darf. Analog hätte ein antiker Mathematiker formulieren können: „Denn dass man einen mathematischen Sachverhalt erkennt, ist dasselbe, wie dass er wahr ist.“

(antiEmp+) Parmenides‘ Gegenstand des Philosophierens ist das „Seiende“ und seine Eigenschaften. Dieses „Seiende“ ist in der normalen Welt der wahrnehmbaren Dinge nicht anzutreffen. Genaugenommen stehen die Schlussfolgerungen des Parmenides im krassen Widerspruch zur Empirie. Das ist ihm aber nur ein Beleg dafür, dass die sinnlich-wahrnehmbare Welt nicht wirklich ist. Bei Parmenides ist das erste Mal in der Philosophiegeschichte klar der Bereich des Geistig-Intellektuellen in Gestalt des „Seienden“ von der sinnlich wahrnehmbaren Welt unterschieden. Das Seiende ist das wirklich Wahre und zugleich das, für das es nach Parmenides alleine unumstößliche Erkenntnis gibt. Die sinnliche Welt ist für ihn letztlich unwahr und nicht erkennbar.

Die Paradoxa von Zenon (490-430 v.Chr.) wollen die Philosophie von Parmenides unterstützen genau dadurch, dass er zu zeigen versucht, dass die normale, sinnlich wahrnehmbare Erscheinungswelt in sich widersprüchlich ist.

Jetzt ist noch die Frage, ob Parmenides explizit die Mathematik als Vorbild für seine philosophische Beweisführung erwähnt hat. Das kann man erst einmal nicht erkennen. Parmenides selbst verweist nicht auf die Mathematik als Vorbild.

Übrigens hat Szabo in die Vermutung formuliert[2], dass es eine Beziehung zwischen der altgriechischen Mathematik und Parmenides gab. Er begründete seine These damit, dass sich bei beiden eine „antiempirische Tendenz“ nachweisen lässt. Im Gegensatz zu mir, sah Szabo darin ein Indiz dafür, dass die spezifisch griechische Mathematik ein Seitenzweig der eleatischen Philosophie war. Ich vermute, wie gesagt, eher umgekehrt, dass die eleatische Philosophie stark von der damaligen Mathematik beeinflusst war.

Eine klare Verbindung zur Mathematik sieht man bei Parmenides‘ Schüler Zenon, denn seine Paradoxa sind vor allem mathematischer Natur. Hier sein berühmtestes Paradoxon:

Achilles und die Schildkröte

Das Paradoxon handelt von einem Wettlauf zwischen dem schnellen Achilles und einer lang­sa­men Schildkröte. Beide starten zum selben Zeitpunkt, aber die Schildkröte erhält anfangs einen Vor­sprung. Obwohl Achilles schneller ist, kann er sie niemals einholen.

Beweis:  Nehmen wir an, die Schildkröte hat z.B. 10 m Vorsprung und Achilles ist doppelt so schnell wie die Schildkröte. Wenn Achilles die ersten 10m geschafft hat, also den Startpunkt der Schildkröte erreicht hat, ist die Schildkröte 5m weitergelaufen. Schafft Achilles die nächsten 5m, dann hat die Schildkröte 2,5m zurückgelegt, und so weiter.

 

D.h. immer, wenn Achilles die jeweilige Ausgangsposition der Schildkröte erreicht hat, ist sie wieder ein Stück weitergekommen. Und Achilles wird sie nie einholen können. Dies widerspricht der Erfahrung. q.e.d.

Da die Argumentation in sich schlüssig und logisch ist, kann etwas mit unserer Erfahrung nicht stimmen. Das untermauert die Lehre des Parmenides, dass es Bewegung nicht geben kann.

Hier handelt es sich offensichtlich um eine mathematische Beweisführung. Zenons Paradoxien waren in der Antike berühmt. Man hat sie sehr ernst genommen und verschiedene Personen, darunter auch Aristoteles, versuchten, dieses Paradoxon aufzulösen.

Mit Mitteln der modernen Mathematik kann man erkennen, wo Zenons Fehler liegt: Er berücksichtigt nicht, dass eine unendliche Reihe einen endlichen Wert haben kann. Eine Auflösung des Paradoxon kann man hier finden.

Fazit: Mit der eleatischen Schule, die mit Parmenides beginnt und von Zenon fortgesetzt wird, hat sich etwas historisch Neues gezeigt. Vorher erklärten die Philosophen die Welt, sie erhoben aber anscheinend nicht den Anspruch, ihre Positionen logisch-rational zu beweisen. Die vernünftige Einsicht hatte noch nicht den Stellenwert, den sie später hatte und es war noch kein Anti-Empirismus ausgeprägt. All das war aber mit einem Schlag bei den Eleaten da: (Bw) Rationales Beweisführung, (Abs) der Anspruch auf absolute Wahrheit, (mtAkt) die Herausstellung der vernünftigen Einsicht, sowie (antiEmp) ein klarer Anti-Empirismus.

Parmenides und Zenon hatten sicherlich den Anspruch, durch ihre logisch-rationalen Argumente zu unumstößlichen Wahrheiten zu gelangen, was dem Merkmal der geometrischen Methode entspricht. Letztlich aber sind sie beide gescheitert. Denn ihre Beweise sind nur scheinbar logisch-rational und schlüssig. Sie scheiterten, weil sie eine Sache nicht erfüllen, die bei der Mathematik gegeben ist: In der Mathematik sind alle verwendeten Begriffe, z.B. Kreis, Dreieck, kommensurable Größen, präzise geklärt. Die Begriffe der Eleaten jedoch sind „seiend“, „ungeworden“, „unvergänglich“ etc. und hierbei handelt es sich um hochgradig vage Begriffe.

[1] Für die Details der parmenideischen Argumentation verweise ich auf Rapp [46], S. 129 ff.

[2] Siehe Szabo [58], S. 289 ff.

1 Kommentar
  1. Thinking sagte:

    Es ist ja äußerst spannend, dass das Paradoxon zwischen Achilles und der Schildkröte erst mit der modernen Mathematik widerlegt werden kann.

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