Sophistik: die Kunst alles beweisen zu können

Die Sophistik ist eine vielschichtige Bewegung im 5. Jahrhundert v.Chr. Nach den Perserkriegen blühte Athen auf.

Da Athen demokratisch war, war ein Bürger vor allem dann erfolgreich, wenn er gut Reden halten konnte und überhaupt ein gutes Auftreten hatte. So entstand eine Nachfrage nach Lehrern, die vor allem Rhetorik, sowie politische Kenntnisse und Fertigkeiten lehren konnten. Diese Nachfrage bedienten die Sophisten. Neben den genannten politischen Themen vermittelten sie aber auch Bildung im weitesten Sinne: Grammatik, Interpretation von Dichtungen, Mythologie, aber auch kosmologische Theorien und mathe­matisches Wissen der damaligen Zeit. Wichtige Vertreter der Sophistik sind: Protagoras (490-411 v.Chr.), Gorgias (485-396 v.Chr.), Hippias, Prodikos, Kritias, Thrasymachos und Kallikles.

Philosophiehistoriker haben die Sophisten auch als Enzyklopädisten und erste Aufklärer bezeichnet. Immerhin verschafften sie damals einer Vielzahl von Menschen einen Zugang zum damals aktuellen Wissen. Sie entwickelten auch eigene Theorien, aber entweder waren sie nicht von großer Bedeutung oder sie sind verloren gegangen.

Dass sich die Sophisten mit Techniken des rational-logischen Argumentierens beschäftigt haben, ist unstrittig und klar. Immerhin ist eine solche Art des Argumentierens ein wichtiger Bestandteil der Rhetorik. Prodikos beschäftigte sich explizit mit Begriffsabgrenzungen und Begriffsbestimmungen[1].

Ein Teil der rhetorischen Ausbildung der Sophisten bestand darin, zwei Schülern beliebige entgegengesetzte Positionen einnehmen zu lassen, um dann gegeneinander zu diskutieren. Das Ziel solcher Debat­tier­wettkämpfe bestand darin, dass sich einer von beiden argumentativ gegen seinen Kontrahenten durchsetzt[2]. Ohne Zweifel ging es dabei unter anderem auch um ein Training in logisch-rationaler Beweisführung bzw. darum, dem Kontrahenten einen Widerspruch nachzuweisen.

Auffällig ist ferner, dass sich einige Sophisten offenbar intensiv mit der eleatischen Philosophie des Parmenides und Zenon auseinandergesetzt haben. Beispielsweise hat Protagoras eine Schrift „Über das Seiende“ verfasst, die sich gegen die Auffassung des „Einen“ als „Seiendes“ wendeten. Und eine Schrift des Gorgias hatte den Titel „Über das Nicht-Seiende oder Über die Natur“, die zwar nicht erhalten ist, in der er aber nach der Überlieferung eleatische Positionen angreift. Auch andere Sophisten haben Werke verfasst, in denen sie sich argumentativ mit dem Seienden auseinandersetzen, ob es erkennbar ist und inwiefern man darüber sprechen kann.

Es ist davon auszugehen, dass all diese Werke in demselben rational-logischen Stil verfasst worden sind, wie die eleatischen Schriften. Ferner kann man davon ausgehen, dass kein Sophist einfach so argumentiert hat: „Parmenides behauptet, das Seiende sei unteilbar Eines, ungeworden und unvergänglich. Außerdem könne es keine Bewegung geben. Nun kann ich nirgendwo ein solches Seiendes empirisch finden, und ferner sieht man ja, dass sich Dinge bewegen können. Also hat Parmenides augenscheinlich unrecht, egal welche rationalen Argumente er hat.“ So würden wir heute argumentieren. Kaum jemand von uns heute käme auf den Gedanken, Parmenides argumentativ-logisch widerlegen zu wollen.

Offenbar sahen sich Protagoras und Gorgias genötigt, logisch-rationale Beweisketten zu entwickeln, um die eleatische Philosophie anzugreifen. Dies werte ich als Indiz dafür, dass die Sophisten das Theoretisch-Logische über die Empirie stellten. Aber auch andere überlieferte Aussagen kann man in diese Richtung auslegen.

Der berühmte Homo-Mensura-Satz von Protagoras wird normalerweise so übersetzt: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, des Seienden für sein Sein, des Nichtseienden für sein Nichtsein.“ Es gibt verschiedene Ansätze, diesen Satz zu interpretieren[3]. Im Kern sagt er gemäß den meisten Fachleuten wohl: Wenn sich zwei Erscheinungen direkt widersprechen, beispielsweise weil der eine den Wind als kalt empfindet und ein anderer ihn nicht als kalt empfindet, dann dürfen beide Aussagen als wahr gelten: a) „Der Wind ist kalt“ und b) „Der Wind ist nicht kalt“. Dies steht auch in Einklang mit einem anderen von Protagoras überlieferten Satz: „Es gibt über jede Sache zwei einander entgegengesetzte Aussagen (Logoi)“.

Meine Vermutung aber ist, dass man den Homo-Mensura-Satz auch so verstehen kann: Egal welche Position jemand einnimmt, man kann immer eine Gegenposition vertreten und sie als gut geschulter Rhetoriker so überzeugend vortragen, dass schließlich jedem Zuhörer diese Gegenposition als wahr erscheint. Und das gilt selbst für solche Aussagen, die jedem als offensichtlich wahr erscheinen.

So verstanden wäre der Homo-Mensura-Satz ein weiterer Beleg dafür, dass die Sophisten, bzw. zumindest Protagoras, das Theoretische über die Empirie stellten. Denn ein gut geschulter Rhetor müsste durch seine logisch-rationale Argumentation fähig sein, offensichtlich scheinende Tatsachen zu widerlegen. Dem einen Menschen erscheint eine Tatsache als augenscheinlich wahr, der andere Mensch jedoch hat sich von einer sophistischen Rede davon überzeugen lassen, dass diese Tatsache unwahr ist. Dinge sind also nicht an sich wahr oder falsch, sondern der Mensch ist das Maß dafür, ob etwas ist oder nicht.

In diese Interpretationslinie würden dann auch Gorgias‘ Schriften Lobrede Helenas und Verteidigung für Palamedes passen. Nach der antiken Mythologie hat Helena Schuld auf sich geladen, indem sie ihren Ehemann verlassen hat und aus Liebe Paris nach Troja gefolgt ist. An dieser Schuld dürfte wohl kein alter Grieche gezweifelt haben, sie wird als offensichtliches Faktum gegolten haben. Gorgias verteidigt nun Helena in seiner Lobrede und „beweist“, dass sie unschuldig ist.

Ähnlich ist Gorgias‘ Schrift Verteidigung für Palamedes konzipiert. Palamedes war ein kluger Heerführer der Griechen im Trojanischen Krieg und ein Gegenspieler des Odysseus. Odysseus stellte ihm eine Falle, indem er Gold in Palamedes‘ Zelt versteckte, sowie einen gefälschten Brief, in dem der trojanische König Palamedes eine hohe Belohnung für einen Verrat an den Griechen zahlen würde. Nach der Ilias wurde Palamedes angeklagt und aufgrund der offensichtlich gegen ihn sprechenden Sachlage zum Tode verurteilt. Gorgias entwirft nun eine Verteidigungsrede, die trotz der unumstößlich scheinenden Indizien die Unschuld des Palamedes beweisen sollen.

Beidemale wählt Gorgias einen Sachverhalt, der dem Augenschein nach unzweifelhaft ist, um ihn durch seine Redekunst zu widerlegen. So stellen die Sophisten die logisch-rational argumentierende Rede, somit das, was man eine überzeugend klingende Theorie nennen könnte, über sinnlich wahrnehmbare Tatsachen.

Die Sophisten scheinen mir somit in einige der oben aufgelisteten Punkten zu erfüllen. Sie klärten die verwendeten Begriffe, versuchten ihr Positionen mit rational-logischen Beweisketten zu belegen und stellten das rational Theoretische über die augenscheinliche Empirie.

Woran sie aber nicht glaubten, war, dass man mittels eines mentalen Aktes, z.B. einer vernünftigen Einsicht, zu unumstößliche Wahrheiten gelangen kann. In diesem beiden Punkten unterscheiden sich die Sophisten von den rational-logischen Glaubenssätzen.

Möglicherweise lag das auch daran, wohin die Sophisten ihren Schwerpunkt legten. Denn es war sicherlich nicht die Mathematik. Sicherlich gab es auch Sophisten, die ihre Schüler in Mathematik unterrichteten, aber eigentlich ging es ihnen vor allem um rhetorische Fähigkeiten, politische Kenntnisse und dergleichen. Von Protagoras ist eine Schrift „Über die Mathematik“ überliefert, in der zu widerlegen versucht, dass eine Tangente einen Kreis nur in genau einem Punkt berührt. Das wiederum klingt nicht danach, dass er wirklich tiefgehende geometrische Kenntnisse hatte.

Fazit

Für die Lehren der Sophisten war sicherlich der Einfluss der eleatischen Philosophie wichtig, die Mathematik eher nicht. Von den Eleaten übernahmen die Sophisten das rational-logische Argumentieren (Bw), sowie den Vorzug des Theoretischen im Vergleich zum augenscheinlich Gegebenen. Denn das augenscheinlich Gegebene könne man ja mit guter Rhetorik und plausibel scheinenden logischen Gründen „wegreden“ (AntiEmp+). Was die Sophisten aber nicht von den Eleaten übernahmen, war deren Anspruch auf unumstößliche Erkenntnis sowie den Glauben an eine Art vernünftiger Einsicht in das Wesen der Dinge.

[1] Siehe [Flash2], S. 61.

[2] Siehe [Flash2], S. 21-22.

[3] Siehe [Flash2], S. 32 ff.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert