Von der antiken Mathematik zur antiken Philosophie

Wie gesagt bin ich der Meinung, dass es um 600 v.Chr. zu einer wissenschaftlichen Revolution gekommen ist, indem die Griechen den mathematischen Beweis entdeckten. So entstand zunächst die antike griechische Mathematik. Meine These ist, dass diese Revolution in Folge auch zur Ausbildung der griechischen Philosophie geführt hat.

Um diese These zu belegen, habe ich zunächst fünf Merkmale herausgearbeitet, durch die die antike griechische Mathematik charakterisiert werden kann, nämlich:

  • (M1) Die Erkenntnisse der Mathematik haben den Anspruch auf absolute, unumstößliche Wahrheit.
  • (M2) Vernünftige Einsicht: Die unumstößliche Wahrheit eines mathematischen Sachverhalts kann man mental einsehen.
  • (M3) Den mathematischen Beweis benötigt man, um einen komplexen mathematischen Sachverhalt einsichtig zu machen. Dazu werden folgende Methoden verwendet:
    1. Unterteilung in Teilschritte,
    2. Klärung der Begriffe,
    3. Beweis durch Widerspruch.
  • (M4) Anti-Empirismus.
    1. Bedeutung der Theorie: Die Wahrheit kann durch bloßes Nachdenken gewonnen werden.
    2. Manche mathematischen Beweise lassen sich empirisch faktisch gar nicht durchführen, sondern nur gedanklich.
    3. Theorie schlägt Empirie: Eine theoretisch gut begründete Theorie kann selbst dann als wahr gelten, wenn sie den Erfahrungstatsachen widerspricht.
  • (M5) Antike Mathematik hat kaum Formalismus im Vergleich zur heutigen Mathematik.

In bemerkenswerter Analogie zu dieser Charakteristik kann man den meisten antiken Philosophen entweder alle oder einige der nachfolgenden Merkmale zuordnen:

  • (Abs) Anspruch auf absolute, unumstößliche Wahrheit.
    Die meisten antiken Philosophen stellen ihre Theorien mit dem Anspruch auf absolut gültige, unumstößliche Wahrheit auf.
  • (mtAkt) Annahme eines mentalen Aktes, der einen privilegierten Zugang zur Wahrheit gewährt.
    Die meisten antiken Philosophen sprechen von bestimmten mentalen Akten, die dem Menschen einen direkten Zugang zur Wahrheit vers­chaffen. Vollzieht man einen solchen Akt, das könnte eine geometrische Anschauung, ein Vernunfteinsicht oder ähnliches sein, dann ist durch die Qualität des mentalen Aktes gewährleistet, dass eine Wahrheit erkannt wird.
  • (Bw) Logisch-rationale Beweise.
    Fast alle antiken Philosophen glauben an die Macht des logisch-rationalen Beweises.
    Wenn man nicht bereits durch vernünftige Einsicht oder einen ähnlichen mentalen Akt die unumstößliche Wahrheit eines Sachverhalts erkennen kann, dann kann man sie rational-logisch beweisen, und zwar

    1. durch Schlussketten, die logisch-stringent sind (bzw. zumindest den Anschein haben);
    2. wobei die logische Klärung von Begriffen hilfreich ist;
    3. und Widersprüche zu vermeiden sind. Gegnerische Auffassungen sind vor allem deswegen falsch, weil sie zu Widersprüchen führen. Man kann Sachverhalte beweisen, indem man das Gegenteil annimmt und daraus einen Widerspruch herleitet. Schon alleine, dass die eigene Theorie widerspruchsfrei ist, ist ein Indiz dafür, dass sie wahr ist.
  • (antiEmp) Anti-Empirismus.
    Fast alle antiken Philosophen stellten das theoretisch Erdachte über Erfahrungstatsachen. Genau genommen kann man einen schwachen von einem starken Anti-Empirismus unterscheiden.
    (antEmp-) Theorie vor Empirie:  Theoretisch Erdachtes ist mehr wert als sinnliche Er­fah­rungs­wer­te.
    (antEmp+) Theorie schlägt Empirie: Steht eine schlüssige Theorie mit Erfahrungstatsachen im Widerspruch, dann wird eher an der Theorie festgehalten und die Empirie verworfen als umgekehrt.

Wenn die Mehrzahl der antiken Philosophen tatsächlich diese Punkte erfüllen, wie behauptet, dann besteht offenbar eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen antiker Philosophie auf der einen Seite und der antiken Mathematik auf der anderen Seite:

Merkmal antiker Philosophie

Korrespondierendes Merkmal antiker Mathematik

(Abs)

(M 1)

(mtAkt)

(M 2)

(Bw)

(M 3)

(antiEmp)

(M 4)

Ich behaupte also, dass die Mathematik höchstwahrscheinlich die Philosophie inspiriert hat, und nicht umgekehrt. Präziser formuliert:

  • Der Glaube antiker Philosophen an absolut gültigen Wahrheiten fiel nicht einfach so vom Himmel. Wahrscheinlich ist es vielmehr, dass die Philosophen deswegen nach absolut gültigen Wahrheiten strebten, weil sie sahen, dass dies in der Mathematik gelang.
  • Auch der Glaube an mentale Akte, die einen direkten Zugang zu Wahrheit erlauben sollen, ist nicht vollkommen unmotiviert entstanden. Wahrscheinlich ist es vielmehr, dass antike Philosophen auf diesen Gedanken kamen, weil sie sahen, dass man in der Mathematik auf diese Weise erfolgreich arbeitet.
  • Nicht die Philosophen haben den logisch-rationalen Beweis erfunden. Wahrscheinlich ist es vielmehr, dass sie die Macht des logisch-rationalen Beweises im Rahmen der Mathematik kennenlernten.
  • Die Philosophen kamen nicht von sich aus auf den Gedanken, dass das Theoretische den Erfahrungsdaten vorzuziehen ist. Wahrscheinlich ist es vielmehr, dass sie sahen, dass selbst dann mathematisch Bewiesenes unanfechtbar gültig ist, wenn Erfahrungsdaten dazu im Widerspruch stehen.

Meine These ist, dass die Beeinflussung von der Mathematik hin zur Philosophie stattfand und nicht umgekehrt. Manchmal kann man die gegenteilige Behauptung lesen. Demnach hätte Parmenides (520-460 v.Chr.) mit seiner Philosophie des Seins den Startschuss für das Beweisen zunächst in der Philosophie, dann aber auch in der Mathematik gegeben. Mir erscheint diese These aber unplausibel, da es genügend Hinweise darauf gibt, dass Pythagoras (570-510 v.Chr.) und seine Pythagoreer schon vorher Mathematik betrieben und wohl auch schon mathematische Sachverhalte bewiesen haben. Und wahrscheinlich hat Thales von Milet bereits hundert Jahre vor Parmenides angefangen, geometrische Sätze zu beweisen.

Der Anspruch auf unumstößliche Wahrheit, Vernunfteinsicht, rationale Beweise und Anti-Empirismus haben im Rahmen der antiken Mathematik ihre Berechtigung. Dies verstehen auch wir heute. Aber der Versuch, diese Merkmale auf nicht-mathematisch Philosophisches zu übertragen, stößt bei uns heutzutage größtenteils auf Unverständnis. Denn wir sind heutzutage eher von einem empiristischen Weltbild und einer hypothetischen Wissenschaftsauffassung geprägt, wie es im Laufe des 19. Jahrhunderts aufkam. Diese moderne Prägung, denke ich, erschwert es uns normalerweise einen Zugang zur antiken Philosophie zu finden. Ein Verständnis dafür, denke ich, erreicht man vor allem dann, wenn man begreiflich macht, dass die altgriechische Philosophie die antike Mathematik als Vorbild hatte.

Um dies zu belegen, gehe ich in den nachfolgenden Beiträgen verschiedene altgriechische Philosophen durch, gebe eine kurze Darstellung ihrer Theorien und versuche die genannten Merkmale nachzuweisen. Ferner stelle ich dar, ob und inwiefern die jeweiligen Philosophen von der Mathematik beeinflusst wurden.

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