Noch einmal: Was ich über die antike Philosophie zeigen will
Ich habe bislang die sogenannten Vorsokratiker behandelt. Ich will zeigen, dass es eine gewisse Strukturähnlichkeit zwischen der antiken Philosophie und der antiken Mathematik besteht.
Ich muss zugeben, dass ich diese nicht bei den ganz frühen Philosophen wie Thales oder Heraklit zeigen konnte. Bei Pythagoras hingegen ist ein Bezug zur Mathematik offensichtlich. Bei der eleatischen Philosophie (Parmenides, Zenon) ist auch ein mathematische Denken erkennbar, insofern mittels Beweisen versucht wird, absolute Wahrheiten zu belegen, die auch noch der Empirie widersprechen. Auch bei den Sophisten kann man eine Vorliebe für rationales Argumentieren feststellen, das keine Scheu davor hat, das Erfahrungsmäßig-Augenscheinliche wegzuargumentieren.
Bevor ich mich Platon zuwende, möchte ich hier noch einmal die relevanten Merkmale aufzählen, die ich der antiken Philosophie nachweisen möchte:
(Abs) Anspruch auf absolute, unumstößliche Wahrheit
Die allermeisten antiken Philosophen stellten ihre Theorien mit dem Anspruch auf unumstößliche Wahrheit auf. Das gilt mit Sicherheit für Parmenides, Platon und Aristoteles. Bemerkenswert aber ist, dass auch die Stoa und Epikur diesen Anspruch hatten. Man kann sich fragen, wie die Philosophen auf diese Idee gekommen sind, zumal man ja gut sehen kann, wie die philosophischen Theorien immer wieder im Laufe der Geschichte in Frage gestellt wurden. Wie konnten dann die Philosophen in jeder Generation immer wieder aufs Neue glauben, dass sie es jetzt endlich schaffen könnten, ihre Theorien so darzulegen, dass sie unumstößlich wahr seien?
Ich halte es für plausibel, dass sie es deswegen taten, weil sie ein großes Vorbild hatten. Denn die antike Mathematik schaffte es, dass ihre Erkenntnisse über Jahrhunderte hinweg als unumstößlich wahr galten.
Interessant ist ferner, welche Philosophenschulen nicht versuchten, unumstößliche Wahrheiten zu erreichen, nämlich die Sophisten und die Skeptiker. Beide glaubten sehr wohl an die Methode des logisch-rationalen Beweisens. Das Problem war nur, dass sie meinten, zu allem, was man beweisen könne, immer auch dessen Gegenteil beweisen zu können.
(mtAkt) Annahme mentaler Akte, die einen privilegierten Zugang zur Wahrheit gewähren
Auch dies ist ein roter Faden durch die antike Philosophie. Sowohl Parmenides, Platon als auch Aristoteles sprechen vom Nous, auf Deutsch „Geist“ oder „Vernunft“. Wir Menschen seien demnach fähig, mittels unserer Vernunft die absolut gültigen Wahrheiten einzusehen. Auch die Stoa nimmt eine Vernunft an, mit der wir Menschen mit dem göttlichen Verstand verbunden sind und die es uns ermöglicht, die unveränderlichen Gesetze des Kosmos zu erkennen. Und selbst Epikur kannte eine „Fokussierung des Denkens“, mittels derer wir uns innerlich auf einen Sachverhalt konzentrieren können, um so Wahrheiten einzusehen.
Die Sophisten als auch die Skeptiker hingegen kennen keinen mentalen Akt, der einen privilegierten Zugang zur Wahrheit garantiert. Das ist aber auch nicht weiter erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie auch nicht an die Erkennbarkeit unumstößlicher Wahrheiten glaubten.
Die Ähnlichkeit zu (M 2) der antiken Mathematik ist auf der Hand liegend. Auch in der Mathematik gibt es einen mentalen Akt, das Begreifen eines mathematischen Sachverhalts. Und das Besondere daran ist, dass alleine durch diesen mentalen Akt der Einsicht gewährleistet wird, dass eine unumstößlich gültige Wahrheit erkannt wird.
(Bw) Logisch-rationale Beweise
Wenn man nicht bereits durch vernünftige Einsicht oder einen ähnlichen mentalen Akt die unumstößliche Wahrheit eines Sachverhalts erkennen kann, dann kann man sie rational-logisch beweisen
- und zwar durch Schlussketten, die logisch-stringent sind (bzw. zumindest den Anschein haben);
- dabei ist die logische Klärung von Begriffen hilfreich;
- Widersprüche gilt es zu vermeiden. Gegnerische Auffassungen sind vor allem deswegen falsch, weil sie zu Widersprüchen führen. Man kann Sachverhalte beweisen, indem man das Gegenteil annimmt und daraus einen Widerspruch herleitet.
Schon alleine, dass die eigene Theorie widerspruchsfrei ist, ist ein Indiz dafür, dass sie wahr ist.
Dieser rote Faden durchzieht die antike Philosophie am konsequentesten. Parmenides, die Sophisten, Platon, Aristoteles, die Stoa, Epikur: All ihre Werke sind voll mit rationalen Beweisen (oder zumindest Beweisversuchen). Die einzigen Ausnahmen sind die spätantiken Philosophen Plotin und Augustinus, bei denen diskursiv-rationale Beweise nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.
Die Ähnlichkeit zur Mathematik scheint mir offensichtlich zu sein.
(antiEmp) Anti-Empirismus
Es gibt keinen Zweifel, dass Parmenides und Platon nicht viel von der sinnlichen Erfahrung hielten. Ihnen galt die sinnlich erfahrbare Welt als Reich des Nicht-Seins und der Unwahrheit. Aber auch Aristoteles schreibt, dass es Wissen nur bezogen auf das Allgemeine gibt. Sein Wissenschaftsmodell, das er in der Zweiten Analytik entwickelt und das über viele Jahrhunderte hinweg bestimmend war, sieht keine Bestätigung oder Widerlegung durch Erfahrungstatsachen vor.
Epikur und die Stoa gelten als Philosophieschulen, die der sinnlichen Wahrnehmung einen hohen Stellenwert gegeben haben. Recht besehen stellen aber auch sie eine wohlbegründete Theorie über die Empirie. Genau genommen kann man einen schwachen von einem starken Anti-Empirismus unterscheiden.
(antEmp-) Theorie vor Empirie: Theoretisch Erdachtes ist mehr wert als sinnliche Erfahrungswerte.
(antEmp+) Theorie schlägt Empirie: Steht eine schlüssige Theorie mit Erfahrungstatsachen im Widerspruch, dann wird eher an der Theorie festgehalten und die Empirie verworfen als umgekehrt.
Dieter Bremer schreibt hierzu[1]:
„Von der Entwicklung der griechischen Philosophie her betrachtet, wie sie von ihren ersten Anfängen bis zur Vollendung bei Platon und Aristoteles ihren Gang nimmt, dürfte die Hochschätzung des theoretischen Wissens sein, das Aristoteles bereits für Thales als den Archegeten der Philosophie in Anspruch genommen hat. Und nicht zuletzt ist es die Abwertung der sinnlichen Erfahrung gewesen, wie sie, zuerst bei Parmenides fassbar, seit Platon ein Konstitutionsmerkmal der Metaphysik wird […]“
Der Anti-Empirismus ist ein Aspekt der altgriechischen Philosophie, der uns heutzutage besonders unverständlich ist. Wenn uns jemand eine Theorie vorlegt, die noch so schlüssig „bewiesen“ wurde, aber mit dem im Widerspruch liegt, was wir mit unseren eigenen Sinnen wahrnehmen, dann zögern wir keine Sekunde, die Theorie zu verwerfen. In der Antike dachte man offenbar anders. Ich behaupte, dass man gerade den Anti-Empirismus der antiken Philosophen sehr gut durch den Verweis auf die antike Mathematik erklären kann.
[1] Bremer, Dieter: Der Ursprung der Philosophie bei den Griechen, in [21], S. 85. Siehe auch Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie.
Mir ist auf der “Zeittafel” aufgefallen, dass z. B. zwischen 624 und 428 v. Chr. Philosophen und Mathematiker entweder in Ionien oder Süditalien lebten. Wie muss man sich den Austausch der Ideen über diese Distanz in der damaligen Zeit vorstellen?
Die Griechen waren ein Seefahrervolk und sehr mobil. Sie waren Händler, aber auch Piraten. Insofern ist ein Gedankenaustausch auch über die Distanz von Süditalien bis ins Gebiet der heutigen westlichen Türkei gut erklärbar. Hier kann ich Bücher von Edith Hall empfehlen, z.B. “Die alten Griechen – Eine Erfolgsgeschichte in zehn Auftritten”. Empfehlenswert ist auch das Buch von Robin L. Fox: “Reisende Helden”. Immerhin wurde beispielsweise Pythagoras in Samos in Ionien geboren, und beendete sein Leben in Süditalien.