Thales von Milet und die frühe Geometrie

Die abendländische Philosophiegeschichte lässt man gerne mit Thales von Milet (624-544 v.Chr.) beginnen. Er war aber auch Mathematiker. Allerdings ist von ihm selbst nichts Schriftliches erhalten.

Antike Hinweise auf seine mathematischen Leistungen gehen zurück auf eine Geschichte der Geometrie, die Eudemos etwa 330 v.Chr. verfasst hat und von der es heute auch nur noch Fragmente gibt. Immerhin schreibt Dührsen[1]: „Einige Forscher […] vertreten die Auffassung, dass sich aus der sonstigen Überlieferung für Thales das Bild einer frühen Form von geometrischer Theorie ergibt, welche zwar noch nicht – wie nachher das klassische Modell Euklids – logisch systematisiert war, gleichwohl aber schon auf die Gewinnung von allgemeinen Sätzen und Beweisen abzielte.“

Es spricht einiges dafür, dass unter anderem folgende geometrischen Sachverhalte von Thales bewiesen wurden, die alle mit der sogenannten thaletischen Grundfigur zu tun haben[2]:

  1. Der Vollkreis wird durch jeden seiner Durchmesser halbiert.
    Illustriert durch die Geraden a-c und b-d.
  2. Die Basiswinkel im gleichseitigen Dreieck sind gleich.
    Illustriert durch die Winkel in der Grundfigur.
  3. Bei zwei sich kreuzenden Geraden sind die einander gegen­über­liegenden Scheitelwinkel gleich.
    Illustriert durch die Winkel.
  4. Zwei Dreiecke sind gleich, wenn bei ihnen eine Seite und die bei­den anliegenden Winkel gleich sind.
    Illustriert durch gleiche Dreiecksflächen acb = bda.
  5. Satz von Thales: Ein in ein einen Halbkreis eingeschriebenes Drei­eck hat einen rechten Winkel.

Eudemos behauptet, dass Thales mindestens die erste Aussage bewiesen habe. Dass das wirklich so ist, dafür sprechen nach Zhmud und nach Dührsen erstens der Detailreichtum und die Genauigkeit von Eudemos‘ Darstellung. Zweitens aber auch die Erwähnung von Thales in einer Komödie von Aristophanes als großen Geometer.

Um erste Einblicke darin zu gewinnen, wie die antike Mathematik „funktioniert“ gebe ich nachfolgend den Beweis des sogenannten Satzes von Thales wieder, unabhängig davon, ob er wirklich von Thales bewiesen wurde.

Um den Satz von Thales beweisen zu können, muss man zwei Dinge wissen:

  • Die Summe der drei Winkel eines Dreiecks beträgt 180°.
  • Bei einem gleichschenkligen Dreieck sind die Basiswinkel gleich groß.

Satz von Thales:

Liegt der Punkt C eines Dreiecks ABC auf einem Halb­kreis über der Strecke AB, dann hat das Dreieck bei C immer einen rechten Winkel.

Beweis:

Man kann in das Dreieck ABC zwei gleichschenklige Drei­ecke einschreiben. Einmal ein Dreieck links mit den bei­den gleichlangen Seiten der Länge b; und rechts das Drei­eck mit den beiden gleichlangen Seiten der Länge a.

Bei diesen beiden Dreiecken müssen die Basiswinkel gleich sein.

Weil die Summe der Winkel in einem Dreieck gleich 180° ist, muss gelten β + α + (α+ β) = 180°. Also ist  2β + 2α= 2 (α+ β) = 180°. Folglich muss gelten: β + α = 180°/2 = 90°. Der fragliche Winkel ist nun genau β + α, also gleich 90°.     q.e.d

Gehen wir die Punkte (M1) bis (M5) durch, durch die ich  die antike Mathematik charakterisiert habe (Link dorthin). Dass der Satz von Thales eine unumschränkt gültige Wahrheit darstellt (M1), denke ich, wird jeder zugeben.

An diesem Beispiel kann man aber auch den Punkt (M2) erkennen, nämlich die Bedeutung der vernünftigen Einsicht. Man startet damit, irgendeinen Halbkreis zu zeichnen, in den man dann ein beliebiges Dreieck hineinzeichnet. Danach zeichnet man sich eine Hilfslinie ein, um zu erkennen, dass sich das Dreieck in zwei gleichschenklige Dreiecke zerteilen lässt. Und nun kann man sozusagen mit einem Blick erkennen, dass  β + α + (α+ β) = 180°, und somit der gesuchte Winkel gleich β+α = 90° ist.

In gewisser Weise braucht man, um die Wahrheit des Satzes zu erkennen, gar keine sprachlichen Ausführungen und erst recht keinen Formalismus (M5), sondern es genügt ein geübter Blick. Man kann die Wahrheit sozusagen sehen. Dies zeigt die Bedeutung der mathematischen Einsicht. Der Zweck des Beweises ist es offenbar, den mathematischen Sachverhalt so aufzubereiten oder darzustellen, dass einem die Wahrheit förmlich ins Auge springt.

So schreibt Szabo[3]:

„Es wurde […] schon darauf hingewiesen, dass auf einer früheren Entwicklungsstufe der Mathematik die anschauliche Evidenz offenbar noch eine sehr bedeutende Rolle gespielt haben muss. Eben dieser Hinweis legt die Vermutung nahe, dass der Beweis in der ältesten griechischen Mathematik wohl einfach nur ein konkretes Sichtbarmachen war […] dass man den betreffenden Sachverhalt konkret zeigt, sichtbar machte. Der ursprüngliche mathematische Beweis war vermutlich das Zeigen, das konkrete Sichtbarmachen selber.“

Letztlich geht es bei antiker Geometrie um mathematische Einsicht. Will beispielsweise ein Mathematiker seinem Schüler den Satz von Thales mittels Zirkel und Lineal beweisen, so ist der Lehrer letztlich darauf angewiesen, dass der Schüler am Ende des Beweises wirklich zu einer mentalen Einsicht gelangt. Es ist durchaus denkbar und bestimmt kommt es hin und wieder vor, dass ein Schüler „begriffsstutzig“ ist und die Wahrheit eines bestimmten mathematischen Sachverhalts einfach nicht sieht, so sehr sich auch der Lehrer anstrengt. Zur mathematischen Einsicht kann man nur hinführen, man kann sie aber nicht erzwingen.

Das Beispiel zeigt auch gut den Punkt (M3b), wie durch einen Beweis ein komplexes Problem in übersichtliche Teilschritte unterteilt. Da es sich um einen einfachen Beweis handelt, gibt es im Wesentlichen nur einen Teilschritt, nämlich das Einzeichnen der Hilfslinie, so dass die beiden gleichschenkligen Dreiecke erkennbar sind. Man spricht hier auch von einer Konstruktion, wobei dieser Begriff etwas in die Irre führt, weil er suggeriert, dass etwas Neues geschaffen wird. Der eigentliche Sinn einer geometrischen Konstruktion besteht aber darin, etwas was an sich schon da ist, so hervorzuheben, dass es das Erkennen unterstützt.

Noch einmal zum Thema Formalismus (M5). Wenn ein heutiger Mensch an mathematische Beweise denkt, dann denkt er vor allem an eine Fülle von schwer verständlichen Formeln und abstrakten Symbolen. Historisch gesehen wurde dieser Formalismus aber erst relativ spät entwickelt, ungefähr ab dem 17. Jahrhundert. Die ganze Antike hindurch wurden zwar Abkürzungen wie „A“, „B“, „C“ für mathematische Größen verwendet, ansonsten gab es keine formale Sprache. Auch an dem obigen Beweis sieht man exemplarisch, dass hier kein moderner Formalismus notwendig ist. In der Antike war vor allem anschauliche Argumentationen wichtig. Geometrische Figuren wurden in den Sand gezeichnet, auch Zahlen wurden geometrisch-zeichnerisch dargestellt oder mittels sogenannter Zahlensteine.

Nun zum Punkt (M4), den Anti-Empirismus. Genau betrachtet kann man an dem obigen Beispiel bereits gut erkennen, wie in der Geometrie ich möchte direkt sagen, auf ganz natürliche Weise dem theoretisch Erdachten der Vorzug gegeben wird im Vergleich zu sinnlich Erfahrbaren. Was meine ich damit?

Will man den Satz von Thales beweisen, so beginnt man damit, einen Halbkreis zu zeichnen, in den man anschließend ein Dreieck hineinzeichnet. Wenn man das macht, dann ist völlig klar, dass es sich hier um „irgendeinen“ Halbkreis und um „irgendein“ eingeschriebenes Dreieck handeln soll. Es spielt keine Rolle, wie groß man den Halbkreis tatsächlich gemacht hat, oder welche genaue Form das Dreieck hat, es muss nur mit der Ecke C den Kreisbogen berühren.

Und selbst wenn die Ecke den Kreisbogen um einen Millimeter verfehlt, oder der Halbkreis nicht perfekt gezeichnet ist, oder die Kanten des Dreiecks geringfügig von der geraden Linie abweichen; all das ist unwichtig, weil die konkrete geometrische Konstruktion auf dem Blatt Papier sowieso nur eine Art „Gedankenstütze“ ist. Sie hilft nur dabei, an perfekte Dreiecke im Allgemeinen zu denken, sofern sie in einem perfekten Halbkreis im Allgemeinen eingeschrieben sind, und zwar auf perfekte Weise.

Ich zeichne zwar Figuren auf ein Blatt Papier, die antiken Geometer haben Figuren in Sand gekratzt, aber mit den Gedanken ist man sozusagen woanders. Nämlich bei den gedachten perfekten Figuren in einer gedachten perfekten Welt. Und die mathematische Beweisführung bezieht sich auf diesen geistig-intellektuellen Bereich und nicht auf die konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Figuren.

Wenn man Geometrie im Stile der antiken Mathematik betreibt, dann fällt diese Zweiteilung sofort auf. Sie ist in gewisser Weise überhaupt die Basis dafür, dass antike mathematische Beweise funktionieren. Diese Zweiteilung in einen „geistigen“ Bereich und einen sinnlich-wahrnehmbaren Bereich ist in der Geometrie nicht nur überhaupt offensichtlich, sie geht auch mit einer extrem-einseitigen Bewertung einher. Das „Geistige“ wird nämlich deutlich höher bewertet als das sinnliche Wahrnehmbare.

Dazu ein Beispiel. Nehmen wir an, ein Geometrie-Schüler zeichnet einen Halbkreis mit einem eingeschriebenen Dreieck auf ein Blatt Papier. Der Eckpunkt C scheint gut genug den Kreisbogen zu berühren. Nun beginnt er mit einem Hochleistungsmessgerät den Winkel bei C auszumessen und kommt zu dem Ergebnis, dass der Winkel nicht 90°, sondern 89,98° beträgt. Hätte das irgendein antiker Mathematiker als Gegenbeispiel dafür akzeptiert, dass der Satz von Thales nicht gültig ist? Selbst heutige Mathematiker oder Naturwissenschaftler würden das nicht tun.

Stattdessen würde jeder sagen: „Naja, da muss eben irgendein kleiner Fehler bei der Konstruktion dieser konkreten Figuren passiert sein. Aber an sich ist klar, dass der Winkel bei C den Betrag von 90° haben muss.“ Und selbst wenn der obige Geometrie-Schüler immer wieder Beispiele konstruiert und nachmisst, dass der rechte Winkel jedes Mal nicht ganz genau vorliegt, so würden wir dennoch, diese „Messreihe“ nicht als Widerlegung des Satzes von Thales akzeptieren.

Dieser Punkt ist eigentlich erstaunlich. In der Geometrie wird das Intellektuell-Geistige, die gedachten perfekten Dreiecke und Kreise, deutlich höher bewertet als das sinnlich Wahrnehmbare, als die konkret hingezeichneten Figuren. Dazu im Gegensatz sind wir heutigen daran gewöhnt, das Empirische über das Erdachte zu stellen. Was ist eine erdachte physikalische Theorie wert, wenn sie nicht mit den konkreten Messdaten übereinstimmt? Was ist im Allgemeinen irgendeine, noch so ausgefeilte und logisch bewiesene Theorie wert, wenn man sie durch empirische Gegenbeispiele widerlegen kann?

Aber bei der Geometrie soll es genau umgekehrt sein? Dass selbst eventuelle empirische Gegenbeispiele den geometrisch erkannten Wahrheiten nichts anhaben können?

Wie gesagt, wenn man darüber nachdenkt, ist das wirklich höchst merkwürdig. Aber es ist so. In der Geometrie gilt das „Intellektuell-Theoretische“, was immer das genau sein soll, deutlich mehr als das sinnlich Wahrnehmbare.  Ausführlich beschrieben kann man den Punkt (M4) so darstellen:

  • Die gezeichneten Dreiecke, Kreise und sonstigen geometrischen Figuren auf dem Blatt Papier sind nicht das, an was ein Geometer bei seinen Beweisen oder mathematischen Sätzen denkt. Er denkt vielmehr an idealisierte, perfekte Figuren, z.B. an Linien ohne Breite, die es in dieser Perfektion in der wirklichen Welt gar nicht geben kann. Es gibt also eine Art Zweiteilung in eine sinnlich-wahrnehmbaren Welt und einen geistig-intellektuellen Bereich.
  • Die Mathematik bezieht sich mit ihren Sätzen und Beweisen eigentlich auf einen Bereich der abstrakt-theoretischen Erkenntnis, die von der sinnlich wahrnehmbaren Welt verschieden ist. Unumstößlich wahre Erkenntnisse gibt es nur bezogen auf diesen intellektuell-theoretischen Bereich.
  • Wenn eine konkrete Figur einem mathematisch bewiesenen Sachverhalt widerspricht, so bleibt die Gültigkeit des mathematischen Sachverhalts komplett unberührt, sofern er korrekt bewiesen worden ist. Im Zweifel kann man davon ausgehen, dass die konkrete Figur einen Fehler hat.

Überspitzt könnte man es so formulieren: Der intellektuell-theoretische Bereich ist der Bereich der Perfektion, der Erkenntnis der Wahrheit. Die sinnlich-wahrnehmbare Welt hingegen ist unvollkommen, lässt keine 100%ig gültige Erkenntnis oder Wahrheit zu.

Und exakt dieselbe Denkweise findet man bei einer großen Anzahl antiker Philosophen. So unterscheidet Platon die perfekten Ideen, auf deren Basis seiner Lehre nach überhaupt Wissen möglich ist, von der sinnlich erfahrbaren Welt, die ihm eine Welt des Scheins und des Nicht-Wissens ist. In der Politeia legt er die Idee des idealen Staates dar; er behauptet ferner, dass es der Perfektion dieser Idee keinen Abbruch tut, wenn dieses Ideal faktisch nirgendwo verwirklicht ist. Ich denke, dass manches bei Plato verständlicher wird, wenn man die Analogie seiner Philosophie zur antiken Mathematik sieht.

[1] Siehe Dührsen [12], S. 88/89. Zu Thales als Mathematiker siehe auch Rapp [46], S. 29 f.

[2] Siehe Dührsen [12], S. 89/90 und Herrmann [32], S. 31-33. Sowie Dührsen: Thales, in [21], S. 242 ff.

[3] Siehe Szabo [58], S. 248.

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