Pythagoras: Harmonik und ganze Zahlen

Pythagoras (570-510 v.Chr.) stammte von der Insel Samos, die gegenüber von Milet liegt, wanderte aber nach Süditalien aus und gründete dort die philosophisch-religiöse Sekte der Pythagoreer. Diese Gruppierung war in Süditalien auch politisch sehr aktiv, wodurch sie aber immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt wurden, bis sie sich etwa 350 v.Chr. auflösten.

Aristoteles schreibt[1]:

„Während dieser Zeit und schon vorher befassten sich die sog. Pythagoreer mit der Mathematik und brachten diese zuerst weiter, und darin eingelebt, hielten sie deren Prinzipien für die Prinzipien alles Seienden … sie nahmen an, die Elemente der Zahlen seien Elemente alles Seienden und der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl…

Da sie [die Pythagoreer] nun auch drauf aufmerksam wurden, dass die Verhältnisse und Gesetze der musikalischen Harmonie sich in Zahlen darstellen lassen, und da auch alle anderen Erscheinungen eine natürliche Verwandtschaft mit den Zahlen zeigen, die Zahlen aber das erste in der gesamten Natur sind, so kamen sie zu der Vorstellung, die Elemente der Zahlen seien die Elemente alles Seienden und das gesamte Weltall sei eine Harmonie und eine Zahl.“

Man schreibt Pythagoras die Entdeckung der theoretischen Harmonielehre zu.

Gemäß der theoretischen Harmonik lassen sich Akkorde als Verhältnisse von ganzen Zahlen auffassen. Dabei spannt man eine Saite auf und unterteilt sie in zwölf gleiche Teile.

Nehmen wir an, dass die Saite frei schwingend ein tiefes E erklingen lässt. Halbiert man nun die Saite, indem man sie genau bei der Unterteilung 6 gedrückt hält; dann erhält erklingt das eine Oktave höher liegende e. Das ist ein Verhältnis 12 zu 6, das ergibt gekürzt: 2 zu 1.

So kann man jedem akustischen Intervall ein Zahlenverhältnis zuordnen. Einer Quinte entspricht 12:8=3:2. Einer Quarte entspricht 12:9 = 4:3.

Aristoteles meinte, dass diese Entdeckung Pythagoras dazu veranlasst hat zu glauben, dass alles in der Welt ganzzahligen Verhältnissen entspricht. In jedem Fall dachten die Pythagoreer viel über Zahlen nach.  Offenbar verwendeten sie Steinchen, um Zahlen zu anschaulich darzustellen[2]:

Solche Darstellungen mit Steinchen werden auch figürliche Zahlen genannt. Jedenfalls kann man an diesen anschaulichen Darstellungen gut sehen, wie die alten Mathematiker zu ihren Zahlen­einteilungen gekommen sind. Man sieht einfach, dass bestimmte Zahlen in zwei gleiche Hälften geteilt werden können und manche nicht. Dies führt zur Unterteilung der Zahlen in gerade und ungerade Zahlen; eine Unterteilung die die Pythagoreer mindestens bereits 480 v.Chr. gemacht haben. Denn es gibt eine alte griechische Komödie, die um diese Zeit entstanden ist und in der bereits diese Unterteilung erwähnt wird[3].

Ebenso sieht man, dass es spezielle Zahlen gibt, deren Steinchen in einem Quadrat angeordnet werden können; solche Zahlen werden dann „quadratisch“ genannt. Man sieht ebenso auf einen Blick, dass die 8 durch 4 und die 9 durch 3 teilbar ist. Anhand dieser Steinchen-Darstellung versteht man auch gut Euklids Definition von Zahlen in den Elementen: „Eine Zahl ist eine aus Einheiten zusammengesetzte Menge.“

Jedenfalls schreibt Helmuth Gericke[4]: „Hier tritt eine neue Auffassung von ‚Zahl‘ auf. Eine Zahl ist nicht nur ein Hilfsmittel, mit dem man zählt, misst und rechnet, sondern sie ist selbst Gegenstand der Untersuchung, sie hat Eigenschaften, sie kann z.B. gerade oder ungerade sein, sie kann Teiler haben, Primzahl oder zusammengesetzte Zahl sein usw.“

Interessanterweise konnten die Pythagoreer mit figürlich dargestellten Zahlen auch allgemeine mathematische Sachverhalte beweisen:

Analysieren wir dies wieder gemäß den Punkten (M1) bis (M5), wie ich sie hier angegeben habe. Die bewiesene Aussage ist ohne Frage unumschränkt gültig (M1).  Um den spezifischen Charakter der antiken Mathematik klar zu machen, gebe ich nachfolgend den Beweis desselben Sachverhalts, nur mit Mitteln der modernen Mathematik bewiesen.

Offenbar ist der antike Beweis anschaulich, man kann die Richtigkeit der Behauptung regelrecht sehen (M2). Der moderne Beweis aber alles andere als anschaulich, dafür aber sehr formal. Der antike Beweis benötigt hingegen nur Zählsteine und die Umgangssprache, ist also überhaupt nicht formal (M5).

Der antike Beweis arbeitet erstens mit einer anschaulichen Darstellung der Summe , und zweitens mit dem Zwischenschritt, bei dem das Ausgangsdreieck zu einem Rechteck erweitert wird. Dies zeigt sehr schön (M3a) und (M3b).

Nun zu (M4) Anti-Empirismus. Inwiefern ist der antike Beweis anti-empiristisch?

In dem obigen Beispiel habe ich die Zählsteine ja nur für n=3 tatsächlich hingelegt. Und eigentlich wurde der Satz nur für n=3 bewiesen. Dennoch begreift man sofort, dass das Argument für ein beliebiges n gilt; insbesondere auch für solche Zahlen, die so groß sind, dass man sie sich niemals tatsächlich wie in dem Beweis beschrieben in Dreiecksform hinlegen könnte.

Natürlich kann jemand die Vermutung äußern, dass der Satz für n = 1 Milliarde nicht gilt. Aber um ihn davon zu überzeugen, dass das schon der Fall ist, wird wahrscheinlich niemand auf den Gedanken kommen, tatsächlich ein entsprechend riesiges Dreieck aus Zählsteinen zu legen.

Nehmen wir nun an, jemand würde tatsächlich versuchen, den obigen Satz für eine große Zahl wie n=1000 empirische nachzuzählen. Der Satz behauptet nun, dass

Nehmen wir nun weiter an, dass er beim tatsächlichen Abzählen auf eine andere Zahl kommt, als eigentlich herauskommen sollte, beispielsweise auf  . Ich denke, dann wird jeder zunächst annehmen, dass er sich verzählt hat. Und selbst wenn er noch einmal ein solches Experiment machen würde und diesmal auf  Steine kommt, würde man dies nicht als Hinweis darauf verstehen, dass der Satz falsch ist, sondern eher darauf, dass er sich erneut verzählt hat. Auch hier steht das theoretisch Bewiesene klar über der Empirie. Das theoretisch-mathematisch Bewiesene kann nicht durch Erfahrungstatsachen widerlegt werden, eher nimmt man an, dass bei den Erfahrungstatsachen etwas falsch ist.

Der Anti-Empirismus, wie er beispielsweise bei Parmenides oder bei Platon, aber auch bei Aristoteles auftritt, erscheint uns heutzutage oft vollkommen unverständlich. Verständlich kann er werden, wenn wir sehen, dass diese Philosophen ihre Behauptungen für ähnlich stringent bewiesen ansahen, wie das obige mathematische Beispiel. Und ähnlich wie in dem obigen Beispiel das tatsächliche Nachzählen für eine große Zahl nicht den mathematischen Satz widerlegen kann, so glaubten diese Philosophen eher der Theorie als der Empirie, wenn es zu einem Konflikt kam. Bezogen auf das mathematische Beispiel, denke ich, können wir den Anti-Empirismus gut nachvollziehen.

[1] Aristoteles Metaphysik I, 985b ff.

[2] Herrmann [32], S. 51, und Wußing [66], S. 174 f.

[3] Gericke [27] , S. 81 f.

[4] Gericke [27] , S. 82.

1 Kommentar
  1. Thinking sagte:

    Dieses ist ein sehr anschauliches Beispiel, wie die revolutionäre griechische Mathematik entstanden ist. Ein sehr schöner moderner Beweis (q.e.d.)

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