Inkommensurable Größen

Zunächst könnte man vermuten, wie es ja auch die Pythagoreer taten, dass man für beliebige Strecken a und b  eine Einheit e finden kann, so dass  a= n x e  und b= m x e. Wäre diese Vermutung richtig, dann stünden alle Größen zueinander in einem ganzzahligen Verhältnis.

Dass dies nicht der Fall ist, zeigte um 450 v.Chr. der Pythagoreer Hippasos von Metapont an Quadraten. Bekanntermaßen ist ein Quadrat ein Rechteck, dessen Seiten alle dieselbe Länge haben. Siehe (1) rechts. Hippasos konnte beweisen, dass die Seitenlänge eines Quadrats und dessen Diagonale inkommensurabel sind.

Leider ist sein Beweis nicht überliefert, aber Otto Toeplitz hat versucht, ihn zu rekonstruieren[1]. Ich gebe an dieser Stelle nur eine grobe Skizze des rekonstruierten Beweises wieder. Er ist deswegen interessant, weil er zeigt, warum in der Geometrie Linien keine Breiten haben.  Das ist natürlich ein eklatanter Widerspruch zur erfahrbaren Wirklichkeit, denn jede (materielle) Linie in der wirklichen Welt hat eine gewisse Breite.

Sei also ein Quadrat mit der Seitenlänge s und der Diagonalen d gegeben.

Behauptung: Es gibt keine Größe e, so dass d = n x e und s = m x e für natürliche Zahlen n und m.

Beweis durch Widerspruch (Skizze): Nehmen wir an, dass es eine Größe e gibt und Zahlen n und m, so dass d = n x e und s = m x e. Zu zeigen ist, dass daraus ein Widerspruch folgt.

Die Idee ist, dass man immer kleinere Quadrate mit Seitenlängen s_i und Diagonalen d_i konstruiert, die immer noch Vielfache der Einheit e sind. Siehe unten (3). Aber egal wie klein e ist, irgendwann ist ein Punkt erreicht, bei dem die Quadrate kleinere Seitenlängen haben müssen als e. Ab dann aber können die Seitenlängen nicht mehr ein Vielfaches von e sein, so dass ein Widerspruch vorliegt.

Zunächst setzt man s_0:= s und d_0:=d.

Für das nächste Quadrat wählt man die Seitenlänge

s_1:=d_0 – s_0 = n x e – m x e = (n-m) x e  .

Also ist s_1 wieder ein Vielfaches von e. Siehe unten (2).

Man kann geometrisch zeigen (was ich an dieser Stelle überspringe), dass die Diagonale des neuen Quadrats d_1=s_0 – s_1 ist. Damit ist aber auch wieder ein Vielfaches von e, denn:

d_1 = s_0 – s_1 = m x e – (n-m) x e = (2m-n) x e.

Nun haben wir also ein deutlich kleineres Quadrat, dessen Seitenlänge und dessen Diagonale wieder Vielfache von e sein müssen. Daraus kann man nun aber auf dieselbe Weise ein weiteres Quadrat konstruieren, das wieder kleiner ist und dessen Seitenlänge und Diagonale wieder Vielfache von e sein müssen. Und so weiter. Siehe (3) unten.

Irgendwann erreicht man so ein Quadrat, dessen Seitenlänge kleiner als e ist, so dass dessen Seitenlänge kein Vielfaches von e sein kann. Widerspruch! q.e.d.

Sehen wir, welche Merkmale der Antiken Mathematik man daraus ablesen kann.

Bei diesem Beweis sind zwei Dinge erwähnenswert. Erstens, dass es sich um einen Beweis durch Widerspruch handelt, womit der Punkt (M3c) abgedeckt wird. Zweitens verdeutlicht dieser Beweis ganz besonders gut den Punkt (M4) Anti-Empirismus. Denn dieser Beweis funktioniert nur für eine Geometrie mit breitelosen Linien, die es aber in der tatsächlichen Welt nicht gibt. Nehmen wir nämlich stattdessen an, Linien hätten eine gewisse Breite b. Dann könnte es ja sein, dass die Einheit e im Beweis kleiner als b ist. Somit muss die Konstruktion der Quadrate irgendwann abbrechen, bevor die Seitenlängen eines Quadrats e unterschritten hat. So lautet auch Euklid zweite Definition in den Elementen: „Eine Linie hat eine Länge aber keine Breite.“

[1] Toeplitz [63], S. 4-5, sowie Felgner [17], S. 5-7.

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