Epikur und das Glück

Epikur (341-271 v.Chr.) gründete eine Schule, die ähnlich wie die Stoa etwa 500 Jahre existierte. Ein bekannter Epikureer war der Lukrez (99-56 v.Chr.). Einige römische Kaiser haben die epikureische Schule gefördert. Oft wird behauptet, dass die Epikureer die Empiristen der Antike gewesen seien. Ich hingegen will zeigen, dass sie ähnlich wie Platon, Aristoteles oder die stoische Philosophie daran glaubten, dass durch logisch-rationale Beweisketten zu unumstößlichen Wahrheiten kommen kann, und dass auch sie für ihre Beweisführungen sinnlichen Erfahrungen letztlich eine untergeordnete Rolle spielten.

Kurzdarstellung von Epikurs Philosophie

Die epikureische Philosophie unterteilte sich in „Kanonik“, Naturphilosophie und Ethik, wobei die Ethik im Sinne einer guten Lebensführung am wichtigsten ist. Epikurs primäres Anliegen besteht darin, zu erklären, wie man ein glückliches Leben führen kann. Das Rezept dafür sieht er unter anderem in folgendem:

  • Man sollte unbegründete Ängste überwinden, also z.B. die Angst vor Göttern oder vor dem Tod.
  • Man sollte Unlust und Schmerz meiden. Wenn sie aber da sind sollte man erkennen, dass Unlust und Schmerz immer begrenzt sind, um ihnen durch diese Erkenntnis sozusagen den Stachel zu nehmen.
  • Man sollte „nichtige Begierden“ meiden, also z.B. das Streben nach Ruhm, Macht, großem Reichtum und Luxus.
  • Man sollte einen aggressiven Egoismus vermeiden und vielmehr wohlwollend mit anderen Menschen umgehen und auf wechselseitiges Geben und Nehmen setzen.

All dies, Ängste, Unlust, nichtige Begierden und aggressiver Egoismus, führen zu einer beständigen inneren Unruhe und Rastlosigkeit. Epikur will mit seiner Philosophie genau das beseitigen, so dass der Mensch zur Seelenruhe und einem beständigen Glücksgefühl gelangt[1]. Die beiden anderen Zweige der epikureischen Philosophie, Kanonik und Naturlehre, sind dem Zweck untergeordnet, dem Menschen zu einem solch glücklichen Leben zu verhelfen.

Im Gegensatz zur Stoa interessierte sich Epikur nicht für Logik. Auch die zeitgenössische Mathematik hielt er für unnötig. In seiner Kanonik geht es vor allem darum, wie man sicheres Wissen erlangen kann. Epikurs Physik legt dar, dass alles, was existiert, körperlich ist. Jeder Körper setzt sich aus Atomen zusammen. Atome sind unteilbar, ungeworden und können nicht zerstört werden. Das Werden und Vergehen, das wir beobachten, ist nur ein Zusammensetzen und wieder Auseinandergehen von Atomen. Selbstverständlich gibt es auch keine unsterbliche Seele.

Epikur glaubte, dass alles in der Welt determiniert ist, und zwar durch mechanistische Kausalketten. Auch die Stoiker meinten, dass alles vorherbestimmt ist, der Unterschied war nur, dass die Stoiker ein aktives göttliches Prinzip annahmen, während nach Epikur kein göttliches Wesen Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen kann.

Die atomaren Partikel unterscheiden sich vor allem in ihrer Gestalt, woraus ihre verschiedenen Eigens­chaften folgen. Nach Epikur gibt es unendliche viele Atome in einem unbegrenzten Raum, der vor allem leer ist. Dieses eher trostlose, man kann fast sagen nihilistische Bild auf die Welt, soll dem Menschen dabei helfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich aus seinem Leben hier und jetzt das Beste zu machen.

Epikur und die Merkmale (Abs), (mtAkt), (Bw) und (antiEmp) (siehe hier)

Diogenes Laertius schreibt[2]: „Im Kanon erklärt Epikur …, Kriterien der Wahrheit seien die Sinneswahrnehmungen, die Vorbegriffe und die Gefühle; die Epikureer fügen außerdem die Fokussierung des Denkens zu Vorstellungen hinzu.“ Aus diesem Zitat will ich vor allem zwei Dinge herausgreifen:

  1. Sinneswahrnehmungen sind ein Kriterien für die Wahrheit, aber auch
  2. die sogenannte Fokussierungen des Denkens.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Epikureer die Sinneswahrnehmungen positiv bewerteten. Dass Epikur sie als Kriterium der Wahrheit bezeichnet, heißt: Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, kann man anhand entsprechender Sinneswahrnehmungen entscheiden.

Das klingt erst einmal modern. So schreibt auch Lukrez[3]: „…also ergibt sich…, dass alles was die Vernunft über die Welt zustande bringt, notwendig schief und falsch ist, wenn es auf falsche Sinneswahrnehmungen gegründet ist.“

Für uns aber etwas schwerer verständlich ist es, wenn Epikur auch von „allgemeinen Sinnes­wahrnehmungen“ spricht, die sich auf „allgemeine Sachen“ beziehen[4]. Epikur meinte offenbar, dass man irgendwie auch eine Gesamtheit von Körpern sinnlich wahrnehmen kann.

Wie weit Epikur tatsächlich von unserem heutigen Weltbild weg ist, sieht man vor allem daran, dass er sich genötigt sieht, die Zuverlässigkeit der Sinneswahrnehmung logisch-rational begründen zu müssen. Für uns gibt es beobachtbare Tatsachen. Punkt. Wir vertrauen der Empirie. Und es muss uns niemand eine Theorie von der sinnlichen Wahrnehmung präsentieren, damit wir uns vollends sicher sein können, dass wir uns auf die Empirie verlassen können.

Epikur hingegen erklärt, dass die Gegenstände kontinuierlich feinstoffliche „Bilder“ ausströmen, die dann auf unsere Sinne stoßen. Sinneswahrnehmung ist somit ein passives Erleiden von materiell-atomaren Ausströmungen der Dinge[5]. Diese Ausströmungen würden gewährleisten, dass in uns „evidente Einsichten von den äußeren Dingen“ hervorgerufen würden.

Somit erklärt Epikur etwas, was uns unmittelbar vertrauenswürdig ist, nämlich die sinnliche Wahrnehmung durch eine Theorie, die uns heute eher als fragwürdig erscheint. Besonders bemerkenswert ist ja auch, dass diese Wahrnehmungstheorie selbst so überhaupt nicht auf Empirie beruht. Epikur hat sicherlich nicht mit eigenen Augen beobachten können, wie bestimmte Körper feinstoffliche Bilder aussenden. Er hat auch sicher nicht selbst empirisch überprüft, wie diese materiellen Bilder in unseren Sehorganen „evidente Einsichten“ erzeugen. All das ist hochgradig theoretisch, und hochgradig nicht-empirisch.

Meiner Auffassung nach sieht man gerade hier, wie sehr bei Epikur tatsächlich die Merkmale (Bw) und (antiEmp) erfüllt sind. Er glaubt, dass man Sinneswahrnehmungen nur dann vertrauen kann, wenn man eine rationale Theorie hat, die dieses Vertrauen rechtfertigt, und zwar durch eine Theorie, die selbst nicht empirisch ist. Sinneswahrnehmung wird so buchstäblich auf den Kopf gestellt. Und man sieht, dass Epikur doch im Kern der rational-logischen Begründung mehr vertraut als der sinnlichen Wahrnehmung.

Offenbar scheint sich Epikur so auch die „allgemeine Wahrnehmung“ zu erklären. Dass nämlich von vielen Körpern gleichzeitig feinstoffliche Bilder absondern, um sich zu einem Bild zu verdichten, in dem nur die allgemeinen Merkmale der absondernden Körper übrigbleiben, um so in uns eine allgemeine Einsicht hervorzurufen.

Schließlich spricht Epikur noch von der Fokussierung des Denkens als ein Kriterium der Wahrheit. Was ist darunter zu verstehen? Epikur meint damit keine direkte Wahrnehmung, sondern einen mentalen Akt, bei dem man sich innerlich auf einen bestimmten äußeren Sachverhalt konzentriert. Erstaunlich ist, dass er einen solchen mentalen Akt als Wahrheitskriterium gelten lässt. Das heißt: wenn man über eine bestimmte Sache nachdenkt, ohne dass man sie direkt vorliegen hat, und man entscheiden möchte, ob eine Aussage darüber wahr oder falsch ist, dann genügt es, sich innerlich auf diese Sache zu konzentrieren und dabei ist es möglich, dass man erkennt, ob die Aussage wahr oder falsch ist. Dies belegt (mtAkt). Long/Sedley schreiben nun auch[6], dass sie es für seltsam halten, „…  dass wir eine Theorie über äußere Gegenstände allein dadurch prüfen können, dass wir unsere Augen schließen und uns die Gegenstände vorstellen.“

Epikurs Fokussieren ist weniger seltsam, wenn man es mit der vernünftigen Einsicht vergleicht, die man bei einem geometrischen Beweis haben kann. Man kann sich z.B. innerlich auf die Figur konzentrieren, durch die der Satz von Thales bewiesen wird, und dabei noch einmal für sich die Wahrheit dieses Satzes erkennen. So gesehen, ist Epikurs Fokussieren ein weiteres Indiz dafür, dass auch er das rational-logische Weltbild vertreten hat, bei dem man durch bloßes Nachdenken zu theoretischer Erkenntnis gelangen kann. Trotz dem also, dass Epikur die sinnliche Erfahrung für wichtig erachtet hat, ist bei ihm offenbar das Merkmal (antiEmp) gegeben.

In diese Richtung geht auch die Aussage Epikurs, dass eine Meinung dann als wahr gelten darf, „wenn es keine Zeugnisse für sie und keine Zeugnisse gegen sie gibt“[7]. Das bedeutet, dass nach Epikur „wissenschaftliche Theorien über das Nicht-Offenkundige verifiziert [werden], wenn sie durch evidente Dinge ‚keinen Widerspruch erhalten‘, und falsifiziert [werden], wenn sie durch sie ‚Widerspruch erhalten‘.“[8]

Zu guter Letzt will ich noch zwei Beispiele für epikureische Beweise geben. Einmal den „Beweis“ des Lukrez für die Existenz der Leere[9], andermal ein „Beweis“ über die Unbegrenztheit der Welt nach Epikur[10]:

Behauptung: Das Leere existiert.

Beweis durch Widerspruch. Annahme, es gäbe keine Leere. Dann stoßen alle Körper gegeneinander und würde sich gegenseitig Widerstand leisten. Nichts könnte sich vorwärts oder rückwärts bewegen, so dass es letztlich keine Bewegung geben kann. Dies ist ein Widerspruch dazu, dass es augenscheinlich Bewegung gibt. Also muss es das Leere geben.

oder:

Behauptung: Die Gesamtheit der Körper ist unbegrenzt.

Beweis. Annahme: Das Leere ist unbegrenzt, die Gesamtheit der Körper jedoch begrenzt. Dann werden die Körper nicht bleiben, sondern sich immer weiter zerstreuen, weil sie ja durch nichts aufgehalten werden. Solange, bis tatsächlich die Gesamtheit der Körper unbegrenzt ist.

Annahme: Das Leere ist begrenzt. Dann gäbe es nicht genügen Raum für die unendlich vielen Körper.

Also muss die Welt unbegrenzt sein.

Ich denke, dass es heute niemanden mehr gibt, der sich durch solche Art von „Beweisen“ überzeugen lässt. Sie zeigen deutlich, wie rational-logisch die Epikureer argumentiert haben.

Erstaunlich ist ja vor allem auch ein Punkt, und das gilt gleichermaßen für Epikur wie die Stoiker. Beiden ging es ja vor allem um die richtige Lebensführung. Man kann sich fragen, warum sie überhaupt eine solch aufwendige theoretische Untermauerung ihrer Ethik benötigten. Auch heute gibt es massenhaft Ratgeber-Literatur, wie man glücklich wird. Man stelle sich vor, dass jeder dieser Ratgeber mit Übungen im logischen Schließen beginnen, um danach erst einmal die gesamte Welt physikalisch zu erklären, – nur um dann am Ende auszuführen, wie man sein Glück finden kann. Ich vermute, dass sich solche Bücher heutzutage nicht verkaufen lassen würden. Bemerkenswert ist ja auch, dass es Literatur gibt, die heutigen Menschen darlegen wollen, was sie für ihre Lebensführung von der alten stoische Philosophie lernen können. Kaum eines dieser Bücher hält es für notwendig, die stoische Logik und Naturphilosophie zu erklären.

All dies zeigt, meiner Meinung nach, wie sehr die Merkmale (Abs), (mtAkt), (Bw) und (antiEmp) auf Stoiker und Epikureer zutrafen.

[1] Siehe Knoll [36], S. 332 ff. und Long/Sedley [35], S. 6 f.

[2] Zitiert nach Long/Sedley [35], S. 101.

[3] Zitiert nach Long/Sedley [35], S. 92.

[4] So schreibt es Epikur in seinen Brief an Herodot, siehe  [35], S. 102.

[5] Siehe Long/Sedley [35], S. 84 ff, sowie Knoll [36], S. 330.

[6] Long/Sedley [35], S. 105.

[7] Zitiert nach Long/Sedley [35], S. 85.

[8] Long/Sedley [35], S. 110.

[9] Zitiert nach Long/Sedley [35], S. 36.

[10] Zitiert nach Long/Sedley [35], S. 51.

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