Einstein schreibt[1]: „Der Glaube, dass es möglich sei, alles Wissenswerte durch bloßes Nachdenken zu finden, war im Kindeszeitalter der Philosophie ziemlich allgemein.“

Uns heutigen erscheinen viele philosophische Gedankengänge als zumindest merkwürdig, häufig sogar als absurd. Es werden dicke Bücher darüber geschrieben, was Platon, Aristoteles, etc. wohl eigentlich dachten. Ich habe aber dennoch den Eindruck, dass viele dieser Interpretationen letztlich nicht den, nennen wir es einmal, kulturellen Unterschied zwischen den antiken Philosophen und uns heute berücksichtigen. Und gerade dieser Unterschied würde uns zu einem besseren Verständnis verhelfen. Ich gebe zwei Beispiele.

In der Antike war das Paradoxon mit Achilles und der Schildkröte berühmt. Sein Erfinder, der Eleate Zenon, argumentierte so: Bewegung kann es unmöglich geben, weil der schnellere Achilles eine langsame Schildköte niemals einholen könne, jedenfalls wenn sie einen Vorsprung hat. Dies leitete Zenon logisch-rational her. Augenscheinlich widerspricht das jedoch unserer Erfahrung. Ein schneller Läufer holt immer einen langsamen ein, auch wenn er einen Vorsprung hat. Diese Erfahrungstatsache galt den antiken Denkern aber nicht als Beleg dafür, dass irgendetwas mit Zenons Argumentation falsch sein muss, nein, es galt ihnen als beunruhigender Beweis dafür, dass die Bewegung, so wie wir sie wahrnehmen, in sich widersprüchlich ist, und also nicht sein kann.

Wir heutigen können diese Schlussfolgerung nur mit großen Bauchschmerzen nachvollziehen. Offenbar werteten die alten Griechen die Wertigkeit von rational-logischen Beweise auf der einen Seite und Erfahrungstatsachen auf der anderen Seite ganz anders als wir es heute tun. Damals hatte man die Maxime: Stehen logisch-rationaler Beweis und Empirie im Widerspruch, dann vertraue eher dem rationalen Beweis. Heutzutage vertreten wir fast selbstverständlich das genaue Gegenteil: Stehen logisch-rationaler Beweis im Wiederspruch zur Empirie, so sind die Erfahrungsdaten unzweifelhaft und es muss irgendetwas mit dem Beweis falsch sein.

Ein anderes Beispiel ist Epikur. Er vertrat die Auffassung, dass Sinneswahrnehmungen ein Kriterium für wahre Erkenntnis seien. Das klingt ja erst einmal modern. Merkwürdig für uns heutige ist nur, wie ausführlich Epikur meint, diese Position begründen zu müssen. Epikur sagt, wir können unseren Sinnen Vertrauen – weil: … und nun kommt eine ausführliche Wahrnehmungstheorie, die natürlich komplett mit logisch-rationalen Argumenten untermauert wird. Und damit nicht genug: Es müssen erst die Gegenpositionen – mit rational-logischen Argumenten – widerlegt werden.

Wie anders hört sich das beispielsweise bei Kant an: „Dass all unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel…“. Kant braucht keine komplizierte Wahrnehmungstheorie oder lange Ausführungen, warum eventuelle Gegenpositionen nicht zu halten sind. Die Erkenntnis fängt mit der Erfahrung an. Punkt. Große Erklärungen für diese Behauptungen braucht Kant nicht. Und wir verstehen ihn sofort. Die Frage aber ist: Warum brauchte sie damals Epikur?

Und genau das, denke ich, ist einer der Dinge, die uns heutigen merkwürdig und im Grunde schwer verständlich erscheinen. Warum konnte Zenon mit seinem Paradoxon den Glauben seiner Zeitgenossen an sinnlichen Erfahrungen ins Wanken bringen? Und warum brauchte Epikur ausführliche logisch-rationale Begründungen dafür, dass man Sinneswahrnehmungen trauen kann? Irgendwie scheint er ja doch nicht so recht daran geglaubt zu haben, wenn er es so umfangreich begründen muss.

Dies ist ein wichtiger Aspekt des philosophischen Denkens, der uns heute zutiefst unverständlich ist. Es gibt noch weitere Aspekte, die die alten griechischen Philosophen auszeichneten, und die sich in der abendländischen Philosophie bis in die Neuzeit halten konnten, aber von den meisten Menschen heute nur noch schwer nachvollziehbar sind: Das ist beispielsweise der Anspruch, durch logisch-rationale Argumente unumstößliche philosophische Wahrheiten erkennen zu können, sowie der Glaube an so etwas wie mentale Akte, die einem allein dadurch, dass einem sozusagen ein Licht aufgeht, Zugang zu wahren Erkenntnissen verschaffen.

Auch diese beiden Aspekte ziehen sich wie rote Fäden durch die Philosophiegeschichte, angefangen bei Parmenides, und erschweren uns letztlich den Zugang zu diesen Denkern, weil sie uns im Grunde schwer verständlich sind. Eben der kulturelle Unterschied. Man könnte es auch so ausdrücken: Viele Philosophen hatten eine prinzipiell andere Sicht auf die Welt, im Großen und Ganzen ein ganz anderes Fundament ihrer Weltbilder als wir es heute haben. Und das Verständnis würde uns deutlich leichter fallen, wenn wir versuchen würden, die Welt durch ihre Augen zu sehen. Darum müssen wir aber vor allem auch begreifen, dass ihre damalige Sicht auf die Welt in manchen Punkten eine prinzipiell andere war als unsere heutige.

Heutzutage scheint es uns mehr als offensichtlich, dass man seinen Sinneswahrnehmungen trauen kann. Wir tun uns schwer damit, wenn jemand aufgrund rationaler Argumente unumstößliche Wahrheiten zu verkünden glaubt. Und so etwas wie mentale Akte, die einen direkten Zugang zur Wahrheit herstellen sollen, findet man zwar auch noch in der neuzeitlichen Philosophie, erscheinen den meisten von uns aber auch eher suspekt.

Nun waren die alten Philosophen sicherlich nicht dumm. Eher im Gegenteil. Die Frage ist also: Wie konnten die Griechen damals eine solch andere Denkkultur haben, die sich bis in die Neuzeit halten konnte? Wie konnten den früheren Philosophen Dinge als selbstverständlich erscheinen, die uns heute komplett fremd sind?

Ich glaube, dass es dazu hilfreich ist, sich die antike Mathematik anzusehen. Interessant ist zunächst, dass die damalige Mathematik andere Merkmale hatte als die moderne Mathematik. Ich werde diese Merkmale im dritten Kapitel herausarbeiten. Interessant ist ferner, dass diese Merkmale viel Ähnlichkeit mit dem haben, was ich gerade eben als den kulturellen Unterschied zwischen den Alten und uns heutigen bezeichnet habe.

Mir drängt es sich förmlich auf, dass dieser kulturelle Unterschied dadurch zu erklären ist, dass die antike Mathematik mehr oder weniger bewusst der große Orientierungspunkt für das antike Denken war. Sicher ist, dass sich manche Philosophen, wie beispielsweise Platon, ausdrücklich auf die Mathematik bezogen haben. Ich behaupte nicht, dass alle Philosophen die Mathematik ausdrücklich als Leitwissenschaft gesehen haben. Es erscheint mir aber mehr als plausibel, dass vor allem die Geometrie so etwas wie eine Geisteshaltung oder eben eine Art Denkkultur induziert hat, zumindest bei den gebildeten oder geschulten Griechen.

Diese These ist freilich schwer zu belegen. Was man aber durchaus versuchen kann, ist, ein paar Merkwürdigkeiten des abendländischen Denkens von der Antike bis in die Neuzeit von den Merkmalen der damaligen Mathematik her zu beleuchten. Ich denke, dass vieles, was uns heute seltsam und unverständlich bei Platon, Aristoteles etc. erscheint, durch einen solchen Vergleich weniger merkwürdig und verständlicher wird.

Eine Sache ist eben doch auffällig. Und zwar haben, sage und schreibe, mindestens drei weitere wichtige wissenschaftshistorische Entwicklungen mit Mathematik zu tun. In der frühen Neuzeit begann die Erfolgsgeschichte der Physik, indem Galilei das Buch der Natur in Buchstaben der Mathematik zu entziffern versuchte. Zuvor galt die Natur in ihrem Wesenskern als nicht-mathematisch.

Wie der Wissenschaftstheoretiker Helmut Pulte in seinem Buch Axiomatik und Empirie darlegt, führte die Entstehung der sogenannten reinen Mathematik im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung des modernen hypothetischen Wissenschaftsbegriffs. Und drittens gab die Entwicklung der formalen mathematischen Logik Ende des 19. Jahrhunderts durch Frege den Startschuss für die analytische Philosophie.

Es gibt also nachweislich mindestens drei bedeutende wissenschaftshistorische Entwicklungen, die allesamt durch die Mathematik wichtige Impulse erhalten hat. Insofern ist es mehr als naheliegend, dass die Mathematik auch am Anfang der abendländischen Philosophiegesichte mehr als nur eine Nebenrolle gespielt hat.

[1] Siehe Einstein [Eins01], S. 41

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