Schopenhauer: Gefühl statt Logik

Schopenhauer wurde 1788 in Danzig geboren und starb 1860 in Frankfurt. Auch er hat eine tendenziell wissenschaftsfeindliche Grundhaltung.

Ich zitiere Schopenhauer nachfolgend aus

  • Schopenhauer: Werke in 5 Bänden. Hg. Ludger Lütkehaus. Hamanns Verlag, 2018.

Seine wichtigsten Werke sind:

  • Über die vierfache Wurzel des zureichenden Grundes. Schopenhauers Dissertation von 1813. Zweite Auflage 1847. Band 3.
  • Die Welt als Wille und Vorstellung. Veröffentlicht 1819. Dritte Auflage 1859. Bd. 1 und 2.
  • Kritik der Kantischen Philosophie. Veröffentlicht 1819.
  • Die beiden Grundprobleme der Ethik. 1841. Mit dem ersten Teil gewann Schopenhauer den Preis, den die Norwegische

Wenn ich aber als Student erzählte, dass ich mich sowohl mit Mathematik als auch mit Philosophie beschäftige, bekam ich oft in etwa folgendes zu hören:

„Wie kannst du gleichzeitig Mathematik und Philosophie studieren? Sind das nicht denkbar gegensätzliche Fächer. Die Mathematik ist rational und trocken, wohingegen die Philosophie eher Gefühle anspricht und Themen des persönlichen Lebens behandelt.“

Heutzutage denken viele bei dem Wort „Philosophie“ an solche Fragen, die ich „persönlich-existenziell“ nennen möchte, also z.B. die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach individuellen Weltanschauungen oder nach Gott und Religion. Auf diese Weise ist Philosophie mehr „schöne“ Literatur, als trockene, theoretische Wissenschaft. Außerdem ist sie, dieser Auffassung nach, eine Angelegenheit, die jeden betrifft und nicht nur Universitätsprofessoren. Wirft man dann aber einen Blick in die Klassiker der Philosophie, beispielsweise in Schriften von Platon, Aristoteles, Descartes oder Kant, dann ist man nicht selten enttäuscht. Denn anstelle derartiger persönlich-existenzieller Fragen werden hier alle möglichen abstrakte, theoretische Themen diskutiert und umständlich rational zu beweisen versucht. Größtenteils sind sie alles andere als schön oder erbaulich zu lesen.

Wie ich bereits an anderer Stelle sagte, wurde die traditionelle Philosophie über lange Zeitstrecken von der Mathematik inspiriert. Viele Philosophen nahmen sich ausdrücklich die Mathematik zum wissenschaftlichen Vorbild.

Offenbar hat sich irgendwann einmal das Verständnis, was Philosophie ist, fundamental geändert. Ich denke, dass man hierfür vor allem Schopenhauer verantwortlich machen kann.

Zunächst vermag es Schopenhauer, wie kaum ein Denker vor ihm, seine Leser persönlich und gefühlsmäßig zu berühren. Seine Werke sind durchweg gut lesbar. Auch distanziert er sich vehement von Philosophieprofessoren und der von ihnen betriebenen „Universitätsphilosophie“ (siehe die Vorrede zur zweiten Aufl. WWV, Bd. 1, S. 23 ff.). Es ist sicher auch kein Zufall, dass Nietzsche, einer der bekanntesten Vertreter des persönlich-existenziellen Philosophierens, zeitlebens Schopenhauer gegenüber verpflichtet war.

Schopenhauers Philosophieverständnis

Schopenhauer unterscheidet zwei Arten von Wissen. Das eine Wissen besitzen wir intuitiv, gefühlsmäßig, gewissermaßen körperlich und vorsprachlich. Beispielsweise verstehen wir, ohne groß darüber nachzudenken das Wirken eines Hebels oder eines Flaschenzugs (Bd. S. 95). Ebenso intuitiv kennen wir die Flugbahn eines schweren Gegenstands, wenn wir ihn werfen; oder die Stoßgesetze beim Billardspielen (Bd. 1, S. 98). Auch das Wesen räumlicher Figuren versteht man, nach Schopenhauer, sozusagen körperlich, bereits bevor man sich mit Euklids Geometrie beschäftigt. All das haben wir sozusagen „im Gefühl“. Und dazu ist es nicht notwendig, es in abstrakten Begriffen beschrieben oder aus allgemeinen Axiomen theoretisch hergeleitet zu haben. Diese Art intuitiven Wissens besitzen offenbar auch Tiere. Schopenhauer nennt es auch konkretes oder anschauliches Wissen. Dieses Wissen bezieht sich immer auf eine konkrete einzelne Situation und ist anderen nicht mitteilbar.

Zweitens kennt Schopenhauer noch ein abstraktes, begriffliches Wissen, das nur der vernunftbegabte Mensch erwerben kann. Dieses Wissen ist sprachlich ausformuliert und anderen Menschen mitteilbar. So ist es dauerhaft verfügbar und kann vielfältig nutzbar gemacht werden. Die Aufgabe der Wissenschaft ist nun, das intuitive, konkrete Wissen zu einem begrifflich-abstrakten Wissen zu machen. So werden unsere gefühlsmäßigen Kenntnisse von Hebel, Flaschenzug etc. zur Mechanik, unser intuitives Wissen von Stoßgesetzen und Flugbahnen zur Physik und unser gefühlsmäßig-anschauliches Wissen von den räumlichen Figuren zur Geometrie. Schopenhauer behauptet, dass jede echte Wissenschaft ihr Fundament in der intuitiven, konkreten Art des Wissens haben muss. Dasselbe gilt seiner Meinung nach auch für die Philosophie:

„Zwar könnte man sagen, daß was die Welt sei, ein Jeder ohne weitere Hülfe erkenne […]. Allein jene Erkenntniß ist eine anschauliche, ist in concreto: dieselbe in abstracto wiederzugeben, das successive, wandelbare Anschauen und überhaupt alles das, was der weite Begriff Gefühl umfaßt […] als nicht abstraktes, deutliches Wissen zu bezeichnet, eben zu einem solchen, zu einem bleibenden Wissen zu erheben, ist die Aufgabe der Philosophie.“  (Bd. 1, 131)

„Intuitiv nämlich, oder in concreto, ist sich eigentlich jeder Mensch aller philosophischen Wahrheiten bewußt: sie aber in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu bringen, ist das Geschäft des Philosophen […].“ (Bd 1, S. 493)

Das ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen wiederzugeben, und es so als reflektiertes Abbild in bleibenden stets bereit liegenden Begriffen der Vernunft niederzulegen: dieses und nichts anderes ist Philosophie“(Bd. 1 S. 494)

Die korrekte Methode der Philosophie besteht somit darin, das was den Menschen über die Welt und das Leben intuitiv-gefühlsmäßig bewusst ist, in abstrakten Worten zu beschreiben. Jede wahre philosophische Aussage basiert auf einem solchen intuitiv-gefühlsmäßigem Wissen. Ich gebe nachfolgend ein paar Beispiele, wie Schopenhauer diese Methode anwendet.

(1) Jeder Mensch hat einen Leib. Und solange der Mensch lebt, will er immerzu irgendetwas. Wenn man in sich hineinfühlt, kann man sich seines eigenen Lebensdranges bewusst werden. Schopenhauer nennt ihn „Wille“. Solange man lebt, will man. Nun behauptet Schopenhauer, dass der Leib eines Menschen und sein Wille ein und dasselbe sind. Der Leib ist nur die Form, in der der Wille erscheint, bzw. sich selbst zum Objekt macht. Wie begründet Schopenhauer diese kühne These? Er schreibt (Bd. 1, S. 154):

„Die nun vorläufig dargestellte Identität des Willens und des Leibes kann nur […] nachgewiesen, d.h. aus dem unmittelbaren Bewußtseyn, aus der Erkenntniß in concreto, zum Wissen der Vernunft erhoben, oder in die Erkenntniß in abstracto übertragen werden: hingegen kann sie ihrer Natur nach niemals bewiesen, d.h. als mittelbare Erkenntniß aus einer andern unmittelbarern abgeleitet […].

Schopenhauer meint somit, dass wir eigentlich schon gefühlsmäßig wissen, dass Leib und Wille dasselbe sind. Der Philosoph bringt dieses intuitive Wissen nur in abstrakte Worte. Interessant ist auch, dass Schopenhauer ausdrücklich gegen das rationale Beweisen polemisiert, worauf ich weiter unten noch näher eingehen werde.

(2) Schopenhauer weitet das, was man individuell als Lebensdrang oder als „Wille“ empfinden kann, auf das gesamte Universum aus. Seine These ist, dass die empirische Realität in ihrer Vielheit und ihrem beständigen Werden und Vergehen, nur die Erscheinung dieses einen Welt-Willens ist. Der eine Wille ist der metaphysische Urgrund der Wirklichkeit, das eine Ding an sich hinter allen Erscheinungen. Das ist natürlich eine sehr gewagte Behauptung. Schopenhauer begründet sie mit einem „Gefühl“, das angeblich jeder mehr oder weniger besitzen würde. So schreibt er (Bd. 1, S. 162 f.):

„Wem nun, durch alle diese Betrachtungen, auch in abstracto, mithin deutlich und sicher, die Erkenntniß geworden ist, welche in conreto Jeder unmittelbar, d.h. als Gefühl besitzt, daß nämlich das Wesen an sich seiner eigenen Erscheinung […] sein Wille ist, der das Unmittelbarste des Bewußtseyns ausmacht […]“

Es sei dahingestellt, ob tatsächlich jeder Mensch ein solches intuitives Gefühl hat. Und selbst wenn das so ist, ist nicht notwendigerweise klar, dass diesem Gefühl eine Wahrheit entspricht. Immerhin hatte die Menschheit über viele Jahrtausende das intuitive „Wissen“ eines natürlichen Unten, wohin alle schweren Dinge streben, und das wir heute eher als Täuschung ansehen. So oder so sieht man die Denkweise Schopenhauers.

(3) Schopenhauer behauptet, dass die Musik eine Sonderstellung unter den Künsten hat. Während die anderen Künste immer nur nachahmen, würde die Musik den einen Willen unmittelbar darstellen. Hier die Begründung für diese Aussage (Bd. 1, S. 340):

„Indem ich meinen Geist dem Eindruck der Tonkunst […] gänzlich hingab, und dann wieder zur Reflexion […] zurückkehrte, ward mir ein Aufschluß über ihr inneres Wesen […]; welchen Aufschluß jedoch zu beweisen, ich als wesentlich unmöglich erkenne […].“

Auch hier wird eine angebliche philosophische Wahrheit durch ein intuitives Gefühl belegt, wohingegen ein rationaler Beweis abgelehnt wird.

Mittels dieser drei Beispiele sieht man gut, wie sich Schopenhauer das richtige Vorgehen in der Philosophie vorstellt. Jede philosophische Aussage soll begründet sein durch ein intuitiv-gefühlsmäßig, vorsprachliches Wissen. Vehement lehnt er ein rational-beweisendes Philosophieren als „bloße Verkettung abstrakter Begriffe“ ab (Bd. 2, S. 95). Und er erörtert weiter (S. 98):

„Der gegebenen Stoff der Philosophie ist […] kein anderer, als das empirische Bewusstsein […]. Denn dies allein ist das Unmittelbare, das wirklich Gegebene. Jede Philosophie, die, statt hievon auszugehen, beliebig gewählte abstrakte Begriffe, wie z.B. Absolutum, absolute Substanz, Gott, Unendliches, Endliches, absolute Identität, Seyn, Wesen usw.usw. zum Ausgangspunkt nimmt, schwebt ohne Anhalt in der Luft, kann daher nie zu einem wirklichen Ergebnis führen.“

Hier bezieht er sich natürlich auf seine Erzfeinde Schelling und Hegel, denen er vorwirft in „leeren Worthülsen“ zu denken und nur „hohlen Wortkram“ zu produzieren. (Bd. 2, S. 100)

Gegen begrifflich-abstrakte Beweise und Anti-Mathematik

In den Ergänzungen zur Welt als Wille und Vorstellung geht Schopenhauer eine Reihe von Denkern durch, die seiner Meinung nach Negativbeispiele für haltloses Philosophieren abgeben. Als erstes erwähnt er den antiken Autor Proklos und seine Versuche, mittels logischer Schlussfolgerungen Erkenntnisse über das Eine, das Viele, das Gute etc. zu gewinnen. Abfällig nennt ihn Schopenhauer einen „Begriffsarchitekten“. Obwohl Schopenhauer Platon eigentlich sehr schätzt, findet er auch bei ihm „grelle Beispiele“ rational-logischer Begriffsklauberei. Haltloses „Vernünfteln“ und abwegige „Algebra mit bloßen Begriffen“ sieht er desweiteren bei Dionysius Areopagita, Sallust, Maximus Tyrius und Spinoza. Kurz gesagt: Schopenhauer kommt zu dem Ergebnis, dass fast alle Philosophen nicht seine intuitiv-gefühlsmäßige Methode verwendeten, sondern Vernunfteinsicht und logisch-rationale Beweisführungen für den richtigen Weg hielten, der natürlich an das Vorgehen der Mathematiker erinnert.

Und so, wie Schopenhauer das begrifflich-abstrakte Argumentieren für ungeeignet hält, so hat er auch ein sehr ablehnendes Verhältnis der Mathematik gegenüber. So meint er, dass geniale Menschen generell eine „Abneigung gegen Mathematik“ hätten (Bd. 1, S. 356 f.), denn die Mathematik sei „unbefriedigend“ und würde „eigentliche Einsichten verschließen“. Ferner seien Mathematiker unempfänglich für Werke der schönen Kunst. Das ist, meines Wissens, die gehässigste Darstellung der Mathematik in der gesamten Philosophiegeschichte. Während die allermeisten Denker vorher die Mathematik bewunderten und als Vorbild für die Philosophie ansahen, vertritt Schopenhauer jetzt die entgegengesetzte Auffassung: Wer wirklich tief philosophieren möchte, sollte sich möglichst weit entfernt halten vom mathematischen Denken und insbesondere von abstrakten Beweisführungen. Diese anti-mathematische Einstellung Schopenhauers wird von einigen nachfolgenden Philosophen übernommen, vorneweg von Nietzsche. So setzte Schopenhauer den Samen für ist die heute landläufige Meinung, dass Philosophie und Mathematik generell unüberbrückbare Gegensätze sind.

Schopenhauer zu den Methoden der Mathematik

Schopenhauer lehnt es, wie gesagt, ab, philosophische Aussagen abstrakt zu beweisen. Stattdessen sollen sie durch ein konkretes, vorsprachliches, intuitiv-gefühlsmäßiges Wissen begründet sein. Genauso hält er auch das Beweisen in der Mathematik für einen Irrweg. Ein mathematischer Beweis mag zwar formal richtig sein, ohne eine entsprechende intuitive Anschauung jedoch ist jede geometrische Aussage, egal ob es sich dabei um ein Axiom oder ein Theorem handelt, ohne wirkliches Fundament. So schreibt er (Bd. 1, S. 116 f.):

„Daß [das], was Eukleides demonstriert, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben, warum es aber sei, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich […]. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn. […] In unsern Augen kann jene Methode des Eukleides in der Mathematik […] nur als eine sehr glänzende Verkehrtheit erscheinen.“

Schopenhauer meint, dass die Geometrie vollständig ohne Beweise auskommen müsste, dass sie eigentlich sogar gar nicht erlaubt sein sollten. Denn: So wie jedes Axiom sein Fundament in einer intuitiven Anschauung hat, so soll auch jedes Theorem nur durch eine geeignete intuitive Anschauung begründet sein, so fordert er (Bd. 1, S. 118):

„Wir brauchen und dürfen also nicht, […] das eigenthümliche Gebiet der Mathematik verlassen, um sie auf einem ihr ganz fremden, dem der Begriffe zu beglaubigen.“

Insofern haben nach Schopenhauer Philosophie und Mathematik dieselbe Methode. Beide Male soll das ausformulierte, abstrakte Wissen immer auf einem gefühlsmäßig-intuitiven Wissen gründen, so dass abstrakt-begriffliche Beweise unnötig sind.

Wie stellt sich nun Schopenhauer eine solche Geometrie vor? Seiner Meinung nach müsste man Euklids Elemente komplett umschreiben, jeder Beweis müsste beseitigt werden und durch ein Verfahren ersetzt werden, um den Inhalt des jeweiligen Theorems intuitiv-anschaulich zu machen. Auf diese Weise würden keine Theoreme mehr aus Axiomen hergeleitet werden; die Geometrie wäre keine aristotelische Wissenschaft mehr, mit Axiomen an der Spitze, als Fixpunkte für eine Netz von Lehrsätzen; – sondern jede geometrische Aussage stünde für sich und sich wäre durch eine zugehörige intuitive Anschauung begründet.

Wie das gehen soll, exemplifiziert Schopenhauer selbst anhand des pythagoreischen Lehrsatzes (Bd. 1, S. 119. Bekanntlich macht dieser Satz eine Aussage über rechtwinklige Dreiecke. Nehmen wir ein beliebiges rechtwinkliges Dreieck an mit der Hypotenuse a und den beiden Katheten b und c. Dann gilt a²=b²+c². Siehe die Figur unten links.

Euklids relativ komplexen Beweis erwähne ich an dieser Stelle nicht. Um sich dieses Theorem anschaulich zu machen, schlägt Schopenhauer vor, das Quadrat a² so nach oben zu verschieben, dass man die rechte Figur hat. Nun besteht die Figur b²+c² aus insgesamt vier Dreiecken, genauso wie das Quadrat a², und man kann mit einem Blick leicht erkennen, dass beiden gleich sind.

Schopenhauers „Veranschaulichung“ scheint tatsächlich den pythagoreischen Lehrsatz auf einfache Weise anschaulich zu machen. Man kann sich fragen, warum Euklid das nicht gesehen hat und sich stattdessen mit einem langen, komplizierten Beweis abmühte. Der Punkt ist: Schopenhauers „Veranschaulichung“ funktioniert nicht für beliebige rechtwinklige Dreiecke, sondern nur wenn sie zusätzlich eine spezielle Eigenschaft haben. Das Ausgangsdreieck muss nämlich gleichschenklig sein. D.h. Schopenhauers Verfahren setzt voraus, dass die Seiten b und c gleich sind. Sobald sie aber verschieden sind, funktioniert Schopenhauers Veranschaulichung nicht mehr. Wenn Schopenhauer also tatsächlich glaubte, durch die obige einfache Konstruktion sehr leicht und anschaulich den Satz von Pythagoras darlegen zu können, dann beging er schlicht einen logischen Fehler. Anders formuliert: Er machte eine unzulässige Generalisierung von einem ganz bestimmten Spezialfall auf die Allgemeinheit.

Interessanterweise begeht Schopenhauer solche logischen Fehler auch bei seinen philosophischen Überlegungen. Ich habe oben ausgeführt, wie er von dem Gefühl, dass mein Lebensdrang bzw. mein Wille identisch ist mit meinem Leib, darauf schließt, dass erstens jedes Ding im Universum eine Art inneren Lebenswillen besitzt, der mit dem materiellen Ding identisch ist; und zweitens, dass dieser Wille bei allen Dingen, Pflanzen, Tieren, Menschen, etc. ein und derselbe ist. Offenbar generalisiert Schopenhauer hier gleich zwei Mal auf unzulässige Weise. Sieht man sich andere Denker an, die in der Tradition Schopenhauers persönlich-existenziell philosophierten, z.B. Nietzsche, dann sind auch sie in der Regel antimathematisch eingestellt. Und auch sie begehen unentwegt vorschnelle, unzulässige Generalisierungen. Bissig formuliert, könnte man sagen, dass für diese Schriftsteller unlogisches Argumentieren schon fast ein Markenzeichen ist. Für was braucht man Logik, wenn man eine „Wahrheit“ überwältigend in sich spürt? Das mag sein, aber Philosophie hat dann nichts mehr mit Wissenschaftlichkeit zu tun, sondern gehört eher in die Kategorie der schönen Literatur oder der Poesie.

Zurück zu Schopenhauer. In der nachfolgenden Textstelle bezieht er sich auf das Parallelenaxiom und die Versuche, es zu beweisen (Bd. 2, S. 151 f.):

„Die Eukleidische Demonstrationsmethode hat aus ihrem eigenen Schooß ihre treffendste Parodie und Karikatur geboren, an der berühmten Streitigkeit über die Theorie der Parallelen und den sich jedes Jahr wiederholenden Versuchen, das elfte Axiom zu beweisen. […] Aber gerade durch die Streitigkeiten darüber, nebst den vergeblichen Versuchen, das unmittelbar Gewisse als bloß mittelbar gewiß darzustellen, tritt die Selbständigkeit und Klarheit der intuitiven Evidenz mit der Nutzlosigkeit und Schwierigkeit der logischen Ueberführung in einen Kontrast, der nicht weniger belehrend, als belustigend ist. Man will hier nämlich die unmittelbare Gewißheit deshalb nicht gelten lassen, weil sie keine bloß logische, aus dem Begriffe folgende, also allein auf dem Verhältniß des Prädikats zum Subjekt, nach dem Satz vom Widerspruch beruhende ist. Nun ist aber jenes Axiom ein synthetischer Satz a priori und hat als solcher die Gewährleistung der reinen […] Anschauung, die eben so unmittelbar und sicher ist, wie der Satz vom Widerspruch selbst […]. Im Grunde gilt dies von jedem geometrischen Theorem, und es ist willkürlich, wo man hier die Gränze zwischen dem unmittelbar Gewissen und dem erst zu Beweisenden ziehen will.“

Bekanntlich hat Euklid in seinen Elementen eine Reihe von Axiomen aufgestellt, aus denen er anschließend jeden geometrischen Lehrsatz herleitete. Zu diesen Axiomen gehörte auch das sog. Parallelenaxiom. Seit der Antike wurde immer wieder versucht, das Parallelenaxiom aus den anderen Axiomen herzuleiten. Wäre das gelungen, dann wäre das Parallelenaxiom in der Geometrie nicht mehr ein Axiom, sondern ein Theorem. Tatsächlich aber sind all diese Versuche gescheitert. Schopenhauer stellt es so dar, als wären die Mathematiker deswegen „verstritten“, was vollkommen falsch ist. Überhaupt scheint Schopenhauer das Wesentliche, warum Mathematiker immer wieder bemüht waren, das Parallelenaxiom zu beweisen, nicht verstanden zu haben. Jedenfalls war es nicht die blindwütige Sucht, möglichst alles zu beweisen, wie es Schopenhauer suggeriert. Wäre es so, dann kann man sich fragen, warum die Mathematiker nicht auch andere geometrische Axiome beweisen wollten? Warum nur das Parallelenaxiom? Was ist an ihm so besonders?

Bevor ich diese Fragen beantworte, will ich zunächst etwas sagen zum Unterschied von Axiomen und Theoremen, sowie über Beweise in der Geometrie Euklids. Bei der Frage nach dem Parallelenaxiom geht es ja darum, ob es im Gebäude der Geometrie ein Axiom ist oder ein Theorem. Da Schopenhauer jedoch den Unterschied zwischen Axiom und Theorem leugnet, muss diese Frage für ihn naturgemäß absurd sein. Egal ob Axiom oder Theorem, nach Schopenhauer, sollte jede geometrische Aussagen gleichermaßen durch eine entsprechende intuitive Anschauung begründet sein. Außerdem charakterisiert er Euklids Beweis als logisch-begrifflich. Ich werde zeigen, dass er damit falsch liegt.

Hier ein paar Beispiele von Euklids Axiomen:

  • „Zwischen zwei verschiedenen Punkten kann man immer eine Strecke ziehen.“
  • „Um jeden Punkt kann man einen Kreis mit beliebigem Radius ziehen.“
  • „Ist A=B und B=C, so ist A=C.“

Ich vermute, dass jeder diese Aussagen für unmittelbar klar und einleuchtend hält. Kaum jemand wird sie wohl anzweifeln, oder auf die Idee kommen, dass es möglicherweise auch anders sein könnte. Hier Beweise zu fordern, hätte tatsächlich etwas Absurdes. Euklid nimmt sie ohne Weiteres als wahr an, weil er sie für evident, unzweifelhaft und alternativlos hält.

Vergleichen wir diese offensichtlich wahren Aussagen mit einer Aussage wie:

„Die Winkelsumme eines jeden Dreiecks ist 180°.“

Hier ist es nicht unmittelbar klar, dass das so ist. Ein Geometrie-Anfänger mag sich vielleicht darüber wundern und sich fragen, ob es nicht vielleicht bestimmte Arten von Dreiecken gibt, bei denen es sich so verhält, und andere, bei denen es sich anders verhält. Das ist genau der Unterschied zu einem Axiom. Bei einem Axiom gibt es weder Unsicherheit, noch Zweifel. Eine Alternative erscheint absurd und undenkbar. Es gibt aber auch solche geometrische Aussagen, die für sich genommen alles andere als klar sind, deren Gültigkeit nicht unmittelbar gewiss ist, an denen man zweifeln kann und die möglicherweise falsch sind. Hier schafft erst der Beweis Gewissheit, die vorher nicht da war.

Für den Mathematiker ist das bloße Gefühl von Richtigkeit sogar besonders verdächtig, denn manchmal erscheint etwas als gültig, ohne es tatsächlich zu sein. In der Geschichte der Geometrie gibt es einige Aussagen, bei denen die meisten die Intuition hatten, dass sie gültig sein müssten, man aber erst viel später erkennen musste, dass sie es nicht sind. Beispielsweise erscheint es als durchaus plausibel, dass man einen beliebigen Winkel alleine mit Zirkel und Lineal in drei gleichgroße Winkel teilen kann. Eine Zweiteilung geht ja ziemlich leicht, warum dann nicht auch eine Dreiteilung? Das intuitive Gefühl, dass das doch gehen müsste, veranlasste die Mathematiker mehr als zweitausend Jahre lang nach einem entsprechenden Verfahren zu suchen. Bis schließlich Pierre Wantzel 1837 beweisen konnte, dass das prinzipiell unmöglich ist. Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Quadratur des Kreises. Nehmen wir einen Kreis an. Dann scheint es intuitiv klar zu sein, dass man hierzu alleine mit Zirkel und Lineal ein Quadrat konstruieren kann, das denselben Flächeninhalt wie der Kreis hat. Mathematiker bissen sich auch daran über Jahrtausende die Zähne aus. Erst 1882 konnte Ferdinand von Lindemann zeigen, dass das nicht möglich ist.

Es ist also nicht so, dass alleine das intuitive Gefühl für die Wahrheit einer Aussage in der Mathematik ein Garant dafür ist, dass das so ist. Das konnte man übrigens auch bei Schopenhauers Veranschaulichung des pythagoreischen Lehrsatzes sehen. Ja, sie ist geeignet, einem auf einfache Weise eine Intuition für die Richtigkeit dieses Theorems geben. Da diese Veranschaulichung aber nur für gleichschenklige, rechtwinklige Dreiecke gilt, ist sie ein Musterbeispiel für ein in die Irre führendes intuitives Gefühl. Schopenhauers Veranschaulichung enthält eine logische Lücke. Und genau das darf bei einem Beweis nicht passieren. Ein Beweis leistet erst dann das, was er soll, nämlich die Wahrheit einer geometrischen Aussage zu zeigen, wenn es keine logische Lücke gibt. Und dazu wird der Beweisweg in viele kleine Schritte zerlegt, bei denen jeder einzelne für sich durchaus anschaulich klar ist, auch wenn der Beweis insgesamt vielleicht komplex ist und keine zusammenfassende Anschauung liefert, wie sie sich Schopenhauer wünscht. Um dies zu exemplifizieren, gebe ich nachfolgend eine Beweisskizze für den Satz, dass die Winkelsumme jedes Dreiecks 180° beträgt:

Man zeichnet sich ein beliebiges Dreieck, z.B.

Dann verdoppelt man dieses Dreieck, so dass ein Parallelogramm entsteht:

Es ist anschaulich klar, dass die Winkelsumme dieses Parallelogramms genau 2 (a+b+g) ist, also das Doppelte der Winkelsumme des Dreiecks. Durch zwei weitere Konstruktionsschritte, bei denen die Winkelsummen immer gleich bleiben, erhält man schließlich ein Rechteck:

Bei einem Rechteck wiederum ist anschaulich klar, dass es vier rechte Winkel hat. Somit ist die Winkelsumme 4 90°= 360°. Die Winkelsumme des ursprünglichen Dreiecks muss davon die Hälfte, also 180° sein. Q.E.D.

Ich habe diesen Beweis hier nur skizziert. Mir ging es hier darum, zu zeigen, wie ein Beweis in viele kleine Teilschritte zerfällt, wobei jeder Teilschritt für sich anschaulich klar sein muss. Der Beweis ist nur dann schlüssig, wenn logisch lückenlos ist und jeder Konstruktionsschritt letztlich auf eines seiner Axiome rückführbar ist. Die Aufgabe des Beweises hingegen besteht nicht darin, so etwas wie eine einheitliche Gesamtintuition für die Richtigkeit eines Theorems zu generieren.

Unabhängig davon, mache ich darauf aufmerksam, dass Schopenhauer definitiv falsch liegt, wenn er behauptet, ein geometrischer Beweis wäre genuin unanschaulich und nur rein logisch-begrifflich. Es ist eher das Gegenteil der Fall. Bei jedem einzelnen Konstruktionsschritt wird vielmehr die Anschauung bemüht. Ferner ist ein solcher Beweis eben gerade nicht begrifflich-logisch. Die zu Schopenhauers Zeiten bekannte formale Logik war die aristotelische Syllogistik. Und alleine mit dieser Logik ist weder dem gerade skizzierten noch sonst irgendeinem euklidischen Beweis beizukommen. Dazu mussten erst Frege, Peano und andere die moderne mathematische Logik entwickeln, was mindestens zwanzig Jahre nach Schopenhauer geschah.

Und nun zum Parallelenaxiom. Euklid formulierte es etwa so:

„Wenn eine Gerade g beim Schnitt mit zwei Geraden h und k bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei rechte Winkel sind, dann werden sich h und k auf dieser Seite irgendwo schneiden.“

Das ist eine Aussage, die für sich genommen alles andere als klar ist und über die man erst nachdenken muss, bevor man sie versteht. Jedenfalls hat sie einen ganz anderen Charakter als die anderen Axiome Euklids. Hat man sich anhand einer Zeichnung verdeutlicht, was sie bedeutet, dann scheint sie tatsächlich wahr zu sein. Aber erinnern wir uns: In der Mathematik ist das intuitive Gefühl dafür, dass eine komplexe geometrische Aussage wahr ist, eigentlich zu wenig. So waren sich die Mathematiker unschlüssig, ob die anschauliche Intuition, die mit dem Parallelenaxiom verbunden ist, schon hinreicht, um es als Axiom anzunehmen, oder eben nicht. Im letzteren Fall müsste es noch bewiesen werden und hätte damit den Status eines Theorems. Da Schopenhauer alleine dem intuitiven Gefühl für die Wahrheit einer Aussage vertraute, und er sich nicht bewusst war, dass dieses Gefühl bei etwas komplexeren Aussagen durchaus trügerisch sein kann, konnte er dieses Schwanken der Mathematiker nicht nachvollziehen. Das beleuchtet aber eher sein eigenes grundsätzliches Unverständnis für die Mathematik, als das seiner Meinung nach absurde Bemühen der Mathematiker, das Parallelenaxiom beweisen zu wollen. Obwohl dieses Bemühen über viele Jahrhunderte immer wieder scheiterte, war es letztlich fruchtbar, da es den Weg bereitete für die nicht-euklidische Geometrie, die übrigens noch zu Lebzeiten Schopenhauers entstand.

Schopenhauer über Naturwissenschaft

Nach Schopenhauer hat die Naturwissenschaft vor allem die Aufgabe, nach welchem Gesetz von Ursache und Wirkung ein bestimmter Zustand der Materie einen bestimmten anderen Zustand der Materie herbeiführt (Bd. 1, S. 147). Dabei bleibt die Naturwissenschaft immer auf der Ebene der Erscheinungen. Sie kann uns aber nichts sagen über das innere Wesen der Welt, d.h. über die Naturkräfte, die hinter den Erscheinungen liegen (Bd. 1, S. 148):

„Die Kraft selbst, die sich äußert, das innere Wesen der nach jenen Gesetzen eintretenden Erscheinungen, bleibt ihr ewig ein Geheimniß, ein Fremdes und Unbekanntes, sowohl bei der einfachsten, wie bei der kompliziertesten Erscheinung […]; so ist […] die Kraft, vermöge welcher ein sTein zur Erde fällt, oder ein Körper den andern fortstößt, ihrem Wesen nach, uns nicht minder fremd und geheimnißvoll, als die, welche die Bewegungen und das Wachsthum eines Thieres herobringt.“

Somit soll sich die Naturwissenschaft nicht damit abmühen, beispielsweise die Schwerkraft, die Elektrizität oder den Magnetismus zu erklären. Solche Versuche hält Schopenhauer von vornherein zum Scheitern verurteilt. Stattdessen soll die Naturwissenschaft nur ein „Verzeichniß der unerklärlichen Kräfte und eine sichere Angabe der Regel, nach welcher die Erscheinungen derselben in Zeit und Raum eintreten, sich sucediren, einander Platz machen: aber das innere Wesen der also erscheinenden Kräfte müßte sie […] stets unerklärt lassen.“

 

 

 

2 Kommentare
  1. Thinking sagte:

    Eigentlich sind Ihre hochinteressanten Ausführungen (=Gegenpositionen) zur Philosophie Schopenhauers die Antwort auf die Frage, die Ihnen am Beginn Ihrer Studienzeit gestellt wurde “Wie kannst du gleichzeitig Mathematik und Philosophie studieren? Sind das nicht denkbar gegensätzliche Fächer”?

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    • peterreins sagte:

      Ja, das Interessante ist, dass sich das allgemeine Verständnis von Philosophie gewandelt hat. Heute sehen viele die Philosophie eher in der Nähe der Poesie und schöngeistigen Schriftstellerei, bei der “Wahrheiten” eher emotional erfühlt werden, als rational bewiesen. Dabei wird verkannt, dass die Philosophie über viele Jahrhunderte hinweg versuchte, ihre Thesen rational zu beweisen. Genau deswegen ist beschäftigten sich Philosophen mit Gottesbeweisen oder mit Logik. Und deswegen ist aus der Philosophie heraus Newtons Physik entstanden. Aus einem poetischen Zugang zur Welt, wäre das sicher nicht geschehen. Einer der Hauptverantwortlichen für diesen Wandel der Philosophie, weg von einem beweisenden, rationalen Unternehmen, hin zu einer schöngeistigen, poetischen Schriftstellerei, ist Arthur Schopenhauer. Dann aber auch in Folge vor allem Friedrich Nietzsche. Bei letzterem kann man eine ausgesprochen große Wissenschaftsfeindlichkeit ausmachen. Insgesamt sehe ich Nietzsche sehr negativ. Man kann ihn durchaus für einen Wegbereiter nationalsozialistischer Ideologie ansehen, aber auch sonst ist er so etwas wie ein philosophischer Scharlatan. Er schreibt bewusst verwirrend, unklar, verschleiert seine Quellen, stellt keck irgendwelche Behauptungen auf, und bemüht sich keinen Deut darum, seine Thesen entweder rational oder empirisch zu belegen.

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