John Stuart Mill

Ein wichtiger Vertreter des britischen Empirismus im 19. Jahrhundert ist John Stuart Mill (1806- 1873).

Er beschäftigte sich vor allem mit ethischen, ökonomischen und politischen Themen. Er war vertraut mit den Ideen Saint-Simons und mit Comte war er eine Zeitlang befreundet. Seine Hauptwerke sind:

  • A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, 1843. : System der deductiven und inductiven Logik, übersetzt von J. Schiel, Vieweg, 1868. Nachfolgend kurz: System der Logik.
  • Principles of Political Economy, 1848
  • On Liberty, 1859
  • Considerations on Representative Government, 1861
  • Utilitarism, 1863

Mit seiner Logik will er den Prozess der Wahrheitssuche methodisieren. In den Naturwissenschaften wird ständig anhand einer endlichen Anzahl von Erfahrungsdaten auf einen allgemeinen Zusammenhang, ein Naturgesetz, geschlossen. Ein solcher Schluss vom Besonderen aufs Allgemeine heißt Induktion. Genau diese Art von Schließen will Mill untersuchen.

Mill hält die Induktion für gerechtfertigt, wenn wie gemäß bestimmten Methoden stattfindet. Diese Methoden oder Regeln nennt er auch Kanones:

  1. Methode der Übereinstimmung
  2. Differenzmethode
  3. Methode der Elimination
  4. Variationsmethode

Nach Mill kann es der experimentellen Methode nicht nur darum gehen, die Aufeinanderfolge bestimmter Phänomene festzustellen. Vielmehr zielt die Wissenschaft auf Gleichförmigkeiten, die ausnahmslos bestehen, und somit den Charakter eines Naturgesetzes haben. Die Grundlage dafür ist die Annahme, dass etwas (eine Ursache) etwas anderes (eine Wirkung) verursacht. Dass das Geschehen in der Natur von Kausalität bestimmt wird, ist die Grundvoraussetzung des induktiven Schließens.

Im System der Logik will Mill keine neuen wissenschaftlichen Methoden finden oder gar dem praktizierenden Naturwissenschaftler vorschreiben, wie er vorzugehen habe. Vielmehr geht es ihm darum, die Methoden, wie sie faktisch in der aktuellen Forschungspraxis angewendet werden, systematisch und übersichtlich darzustellen. (Vorrede S. VII, und II.1.1, S. 333)

Alles menschliche Wissen beruht auf sinnlicher Erfahrung und Induktion

Nach Mill ist die Quelle jeglicher menschlichen Erkenntnis die sinnliche Erfahrung, es gibt keinerlei apriorisches Wissen. Selbst die Mathematik und Logik haben ihren Ursprung in der Empirie. Somit bezieht sich jedes Wissen entweder auf eine einzelne, direkt wahrgenommene Erfahrungstatsache, wie „dieser Tisch ist weiß“, oder es ist eine Verallgemeinerung auf der Grundlage von bestimmten Erfahrungstatsachen. Um eine solche Verallgemeinerung vorzunehmen, müssen nicht notwendigerweise viele Erfahrungen gemacht worden sein. Manchmal genügt dafür ein einziges Erlebnis. Beispielsweise veranlasst ein Kind eine einzige schmerzhafte Erfahrung mit einer Biene, generell bei diesen Insekten vorsichtig zu sein.

Bezogen auf die Beobachtung gibt Mill ein paar praktische Hinweise. Man sollte erstens ohne Vorurteile und Vorannahmen beobachten (Bd. 2, S. 325 ff.). Man sollte zweitens darauf achten, nichts Relevantes zu übersehen oder zu vernachlässigen. Drittens darf man nicht insofern falsch beobachten, als man etwas mit etwas anderem verwechselt (Bd. 2, 359 ff.).

Meistens jedoch gewöhnen wir uns aber daran, dass bestimmte Dinge bestimmte Merkmale haben bzw. dass bestimmte Tatsachen bestimmten anderen Tatsachen vorausgehen. Und diese Gewohnheiten lassen und allgemeine Zusammenhänge annehmen. So war bisher jeder Schwan, den wir sahen weiß, also glauben wir, dass jeder Schwan weiß ist. Oder wir sehen schwere Dinge nach unten fallen, und nehmen an, dass das generell so ist. Offenbar gibt es also falsche und richtige Verallgemeinerungen. Mill nennt korrekte Verallgemeinerungen Induktionen. Was aber ist das Unterscheidungskriterium? Mill meint, dass eine fehlerhafte Verallgemeinerung bloß auf einer subjektiven Gewohnheit beruht, während eine korrekte Induktion in der Realität begründet ist. Ja, man kann sich daran gewöhnt haben, dass jeder Schwan weiß ist, aber sobald man weinen schwarzen Schwan gesehen hat, weiß man, dass Schwäne nicht weiß sein müssen. Dass aber schwere Dinge nach unten Fallen ist nicht nur eine Gewohnheit, es ist auch dadurch begründet, dass es die Schwerkraft wirklich gibt. Oder die Aussage „alle lebenden Menschen haben ein schlagendes Herz“ ist nicht nur „gewohnheitsmäßig wahr“, sondern wahr, weil das in der Realität wirklich ist.

Interessanterweise ist für Mill die Verallgemeinerung „alle Schwäne sind weiß“, selbst dann keine korrekte Induktion, wenn das tatsächlich so der Fall wäre. Eine Allaussage die nur die die Realität richtig beschreibt ist noch keine korrekte Verallgemeinerung. Sie ist es erst dann, die Realität in ihrem Wesen trifft, wenn die Aussage durch z.B, eine tatsächlich wirksame Ursache erklärt wird. Mill behauptet beispielsweise, dass Keplers Gesetze nur eine Beschreibung sind,  die eigentliche Induktion hätte Newton vollzogen, indem er die Planetenbewegungen auf die Gravitationskraft zurückgeführt hat.

In seinem System der Logik schreibt Mill, dass „jede wohlbegründete inductive Generalisation entweder ein Naturgesetz oder ein Resultat von Naturgesetzen, welches, im Falle diese wahr sind, aus ihnen vorausgesagt werden kann.“ (S. 375)

Viele dieser Verallgemeinerungen geschehen ferner unbewusst. Wir erleben eben bestimmte Regelmäßigkeiten von Kindheit an und glauben dementsprechend, dass bestimmte Allaussagen selbstverständlich wahr sind. So werden, wie Mill meint, manchen Philosophen dazu verleitet, diese Art von Allaussagen für a priori gültig zu halten. Und auch hier gibt es solche, von denen wir lernen müssen, dass sie durch nichts in der Realität begründet und als falsch sind. Beispielsweise glaubten früher die aristotelischen Naturphilosophen, dass sich etwas nur so lange bewegt wie eine Kraft einwirkt und hielten das für eine selbstverständliche Gewissheit. Heute hingegen hat man sich an das Trägheitsprinzip gewöhnt, von dem Mill meint, dass es ein in der materiellen Welt real wirksames Naturgesetz ist.

Kritisch muss man hier natürlich anmerken, dass Mill hier eine metaphysische Grenzüberschreitung begeht, die ihm wohl selbst nicht auffällt. Denn wie, so kann man sich fragen, will Mill unterscheiden, ob eine Verallgemeinerung in der Realität begründet ist oder nicht? Dazu müsste er einen direkten, ungeschminkten Blick in das Wesen der Wirklichkeit werfen können. Und zwar unabhängig von den Erfahrungstatsachen, die konkret vorliegen. Diesen Glauben an einen direkten Realitätsbezug werden spätere Empiristen wie Ernst Mach oder Otto Neurath ablehnen. Bei Mill spielt er aber eine sehr wichtige Rolle.

Denn auch die Geometrie, die Arithmetik und die Logik sind Verallgemeinerungen, die ihren Ursprung in unseren Erfahrungen haben. Aber sie sind nicht bloße Gewohnheiten, sondern sind vielmehr in der Realität wohlbegründet. Natürlich kann jemand gewohnheitsmäßig 5 plus 8 zu 12 summieren, diese Rechnung ist aber falsch, weil immer wenn man zu 5 Dingen noch weitere 8 dazunimmt, faktisch 13 vorliegen. Die Natur ist tatsächlich so, wie es der Mathematik und der Logik entspricht. In diesem Sinne sind Mathematik und Logik nach Mill empirische Realwissenschaften.

Wie alle Naturgesetze sind auch die mathematischen Gesetze in der Natur nur annähernd verwirklicht. Denn faktisch gibt es keinen geometrischen Gegenstand in der materiellen Welt, so wie es die Geometrie fordert. Es gibt keine ausdehnungslosen Punkte, breitlose Geraden oder perfekte Kreise in der Realität. Jeder reale Kreis weicht mehr oder weniger von dem idealen Kreis ab. Das was real ist, ist natürlich nach Mill das sinnlich erfahrbare Ding, während der ideale Kreis nur eine Fiktion ist. Insofern nennt Mill die Geometrie „hypothetisch“, nämlich in dem Sinne, dass ihre Theoreme nur wahr sind unter der (falschen) Annahme, dass es in der empirischen Wirklichkeit reale geometrische Gegenstände gibt, was ja, wie gesagt, nicht der Fall ist. Sind die realen Dinge aber nah genug an den idealen Gegenständen, dann gilt auch die Geometrie für sie approximativ.

Ähnliche Überlegungen hat Mill für die Arithmetik angestellt. Mill meint, dass die Arithmetik voraussetzt, dass die Einheiten, mit denen gerechnet werden exakt gleich sind, was aber in der Realität immer nur höchstens annähernd der Fall ist. Nehmen wir z.B. 3 Pfund Bohnen, denen wir ein weiteres Pfund Bohnen hinzufügen. Faktisch werden es vielleicht 2,9995 Pfund und 1,0021 Pfund sein, so dass sie zusammengenommen nicht 3+1=4 Pfund sind, sondern genau genommen: 4,0016 Pfund sind. Nach Mill ist somit auch die Arithmetik insofern „hypothetisch“, als sie die Annahme macht, dass die Zahlen in der Realität perfekt vorliegen.

Mill ist ferner der Auffassung, dass die Mathematik nicht analytisch ist, d.h. dass mathematisches Aussagen tatsächlich das Wissen erweitern. Als Beispiel bringt er an, dass es zwei verschiedene Tatsachen sind, einmal einen Haufen von drei Äpfeln zu haben, andermal zwei Äpfel zu haben, denen man einen weiteren hinzufügt. Dass beides schließlich dasselbe ist, ist nach Mill eine Erfahrungstatsache, die zwar im Wesen der Realität begründet ist, aber dennoch keine apriorische Wahrheit darstellt.

Induktive Schlussregeln und Korrektheit der Induktion

Mill sieht die Natur (S. 374) wie ein Gewebe von Naturgesetzen:

„Wir haben indessen schon etwas gewonnen, wenn wir so weit vorgeschritten sind, um einzusehen, […] dass […] die Regelmäßigkeit der Natur ein Gewebe von unterschiedenen Fäden ist, und nur verstanden werden kann, wenn wir den einzelnen Fäden nachgehen.”

Dieses Gewebe von Naturgesetzen zu entwirren ist nach Mill die Aufgabe der experimentellen Wissenschaft. Schematisch kann man das so darstellen: für die Gesamtheit der beobachteten Naturerscheinungen x, y, z kommen als Ursachen A, B, C in Betracht. Ich schreibe: A, B, C -> x, y, z. Nun ist die Frage, welche Ursache z.B. für x verantwortlich ist. Dazu stellt Mill fünf induktive Schlussregeln auf.

(1) Methode der Übereinstimmung.

Hat man also eine Versuchsanordnung, bei der man weiß, dass insgesamt drei Ursachen A, B, C, eine Gesamtwirkung x, y, z zur Folge hat, und drei Ursachen A, D, E die Gesamtwirkung x, v, w, dann sind ja auf der Seite der Ursachen nur A gleich geblieben und auf der Seite der Wirkungen nur x, also wir wohl A die Ursache von x sein.

(2) Differenzmethode

 

(3) Indirekte Differenzmethode oder vereinigte Methode der Übereinstimmung und des Unterschieds

(4) Rückstandsmethode

 

(5) Methode der begleitenden Veränderungen

Diese Methode ist auch besonders geeignet, um quantitative Zusammenhänge herauszufinden.

Mill betont, dass er diese induktiven Schlussregeln nicht selbst erfunden hat, sondern dass er sie nur der Forschungspraxis experimentierender bzw. beobachtender Wissenschaftler entnommen hat. Tatsächlich verwendet man auch im Alltag diese Schlussregeln häufig ganz unwillkürlich. Ich versuche meinen Computer zu starten, aber ohne Erfolg. Als erstes überprüfe ich das Netzkabel, es ist aber angesteckt. Vielleicht geht die Steckdose ja nicht; also stecke ich ein anderes Elektrogerät an. Da es aber geht, weiß ich dass es nicht die Steckdose ist. Nur der Gesamtkomplex „Computer plus Netzkabel“ bringt die Wirkung „Kein Strom“ hervor. Nach der Differenzmethode kann ich schließen, dass es an dem Computer samt Netzkabel liegen muss. Als nächstes tausche ich das Netzkabel aus. Und tatsächlich funktioniert der Computer mit dem anderen Netzkabel. Also, so schließe ich wieder mit der Differenzmethode, muss das erste Netzkabel defekt sein. Um ganz sicher zu sein, können wir noch das erste Kabel an ein anderes Gerät anschließen, wenn es nun auch nicht funktioniert, dann wissen wir nach der Methode der Übereinstimmung, dass es das Kabel sein muss.

Im normalen Alltag sind wir uns auch in der Regel sehr sicher, auf diese Weise Kausalzusammenhänge zu erkennen und dass sie in der Wirklichkeit so sind. In dem obigen Beispiel wird kaum jemand etwas anderes annehmen, als dass das Netzkabel defekt ist. Und dennoch muss man natürlich kritisch anmerken, dass Mills induktive Schlussregeln gerade in komplexen wissenschaftlichen Kontexten keine hinreichend sicheren Resultate liefern kann. Mill suggeriert aber, dass die induktiven Schlussregeln, wenn man sie nur richtig anwendet, mit sehr hoher Gewissheit zu wissenschaftlichen Wahrheiten führen würde.

Bemerkenswert ist, wie Mill die Korrektheit der Induktion rechtfertigt: Weil die aristotelischen Naturphilosophen und Descartes mit seiner Wirbeltheorie die Induktion nicht richtig angewendet hatten, deswegen sind ihre Theorien falsch. Und Weil Newton die Induktion korrekt angewendet hat, deswegen ist seine Physik wahr.

Mill verkennt erstens, dass im wissenschaftlichen Bereich die Ursache nicht so klar wahrnehmbar ist wie im Alltag und vielmehr zumeist Bestandteil der Theorie ist. Newtons fernwirkende Gravitationskraft beispielsweise ist nicht direkt sinnlich erfahrbar, sondern nur ein theoretisches Konstrukt; nicht zu vergleichen mit einem Netzkabel. Mill verkennt zweitens, dass durchaus verschiedene Theorien denkbar sind, die dasselbe Phänomen zutreffend erklären können. So erklärt Newton den freien Fall durch die Gravitationskraft, Einstein hingegen durch Gravitationsfelder. Es wird später einer der Hauptkritikpunkte von Popper sein, dass Induktionslogiker häufig daraus, dass Th die Aussage A impliziert (Th->A) und der Tatsache, dass A wahr ist, schließen, dass auch Th wahr sein müsse. Tatsächlich ist das ein Fehlschluss, den wir im Alltag oft genug begehen. Manchmal hört man z.B. Argumentationen dieser Art: Wenn jemand von einem Dämon besessen ist, dann ist er krank, nun ist Peter krank, also ist er von einem Dämon besessen. Derartige Fehlschlüsse gibt es zuhauf, aber als Wissenschaftler sollte man sie nicht begehen.

Deduktive Methode

Ganz offensichtlich ist für Mill Newtons Mechanik das große wissenschaftliche Vorbild. Nun sagt Newton, dass er seine Prinzipien aus den Naturphänomenen induktiv abgeleitet habe. Andererseits leitet er eine Reihe von Theoremen rein deduktiv daraus ab, genau genommen mit dem Methoden der Mathematik. Mill wiederum behauptet, dass sich alles mathematische Schließen letztlich auf klassische Syllogismen zurückführen lässt.

Mill wendet diesen Gedanken nun auf die Wissenschaften im Allgemeinen an. Seiner Meinung nach beginnt jede Wissenschaft als experimentelle Wissenschaft, indem sie zunächst induktiv allgemeine Naturgesetze entdeckt, ohne sie aber in einen größeren theoretischen Rahmen zu bringen. Mill meint, dass sich zu seiner Zeit z.B. noch die Chemie und die Physiologie auf diesem Niveau befanden. Das Ziel sollte aber nach Mill darin bestehen, jede Wissenschaft zu einer deduktiven Wissenschaft zu machen. (Bd. 1, S. 261 ff.) Der Vorteil einer deduktiven Wissenschaft ist nämlich, dass man dadurch auch Erkenntnisse gewinnen kann über „Fälle, bei denen man nicht direct beobachten kann“ (Bd. 1, S. 363.)

Eine deduktive Wissenschaft hat man dann, wenn höhere Prinzipien A, B, C, … induktiv gefunden worden sind, aus denen ein bisheriges Naturgesetz G logisch oder mathematisch abgeleitet werden kann. Das bedeutet, dass ein Phänomen, das bisher durch G erklärbar war nun durch eine komplexe Kombination der Prinzipien A, B, C, etc. erklärt wird. Als Beispiel kann man einen Wurf nehmen, dessen Flugbahn zunächst als Parabel erkannt wird, im höheren Schritt durch das Trägheitsprinzip und das Gravitationsgesetz erklärt wird. Und aufgrund von Newtons mechanischen Prinzipien kann man auch physikalische Fälle berechnen, die man noch nicht beobachtet hat, oder die nicht beobachtbar sind. Newtons Mechanik ist offenbar ein Beispiel für eine deduktive Wissenschaft. Mill schließt nicht aus, dass noch universellere Naturprinzipien gefunden werden können, die verschiedene physikalische Teilbereiche oder auch überhaupt verschiedene Naturwissenschaften vereinigen. In einer solchen zunehmenden Verallgemeinerung sieht er einen wichtigen wissenschaftlichen Fortschritt, zumal die Wissenschaft dadurch auf nicht direkt beobachtbare Fälle ausgeweitet werden kann (Bd. 2, S. 4).

Bei deduktiven Naturwissenschaften werden so hohe Idealisierungen vorgenommen, dass sie ähnlich hypothetisch sind wie die Geometrie oder die Arithmetik. Das heißt sie sind nicht genau wahr, sondern „eine hinreichend genaue Annäherung an die Wahrheit“ (Bd.1, S. 311). Damit meint Mill folgendes: Ein perfektes System von abhängigen Massepunkten, auf denen bestimmte Kräfte einwirken, findet man nicht in der Realität, so wie man keinen perfekten Kreis in der Realität finden. Aber wenn man konkrete, wirkliche Körper vorliegen hat, dann kann man die Annahme machen, dass sie sich wie ein idealisiertes mechanisches System verhalten. Und alles was man dann theoretisch herleitet, stimmt hinreichend genau für das reale System materieller Körper. Wenn Mill also davon spricht, dass die Newtonsche Physik hypothetisch ist, dann meint er es in einem anderen Sinn als wir es heute tun.

Nach Mill besteht die deduktive Methode aus „drei Operationen“ (Bd. 1, S. 533):

  1. Induktionen,
  2. Logisch/mathematische Syllogismen und
  3. Bestätigung (Verifikation).

Die übergeordneten theoretische Prinzipien müssen zunächst durch Induktionen gefunden werden. Newton musste nach Mill seine Bewegungsgesetze und das Gravitationsprinzip zunächst durch Beobachtungen, Experimente und induktive Verallgemeinerungen erkennen. Wie gesagt, nimmt Mill an, dass es sich nur dann um eine korrekte Induktion handelt, wenn die jeweiligen Kausalitäten in der Natur tatsächlich existieren. Anschließend werden die Naturphänomene durch eine Kombination dieser Kausalitäten erklärt, d.h. eine gegebene Wirkung soll auf ein Zusammenspiel von Ursachen zurückgeführt werden, die den Prinzipien entsprechen. Dies geschieht durch logische bzw. mathematische Syllogismen.

Schließlich muss die Theorie noch verifiziert werden. Dazu wird aus den Prinzipien eine Aussage über konkrete Einzelfälle abgeleitet und empirisch überprüft, ob sie zutrifft. Ist das des öfteren der Fall, dann kann die Theorie als bestätigt gelten. Interessant ist, was Mill schreibt, falls die hergeleitete Aussage nicht ganz mit der Empirie übereinstimmt (Bd. 1, S. 541 f.):

„Wenn aber unsere Deduktionen zu dem Schlusse geführt haben, dass aus einer besonderen Combination von Ursachen eine gegebene Wirkung resultieren wird, so müssen wir in allen bekannten Fällen, wo die Existenz diese Combination bewiesen werden kann, und die Wirkung nicht erfolgt ist, im Stande sein, zu zeigen (oder wenigstens eine wahrscheinliche Vermutung aufzustellen), was sie vereitelt hat; wenn wir das nicht können, so ist die Theorie unvollkommen und noch nicht zuverlässig.“

Das heißt, dass widerstreitende Erfahrungstatsachen zunächst noch nicht eine Theorie falsifiziert. Mill meint, dass man entweder eine gute Erklärung dafür finden kann oder die Theorie noch nachverbessert. Offenbar hält er eine Theorie, sofern sie durch korrekte Induktion gewonnen wurde, für zunächst weitestgehend für unanfechtbar.

Jedenfalls schreibt Mill (Bd. 1, S.543):

„Der in ihren drei constituierenden Theilen , der Induction, dem Syllogisiren und der Bestätigung, betrachteten deductiven Methode verdankt der menschliche Geist seine rühmlichsten Triumphe in der Erforschung der Natur. Ihr verdanken wir alle Theorien, durch welche ausgedehnte und verwickelte Naturerscheinungen in wenige Gesetze zusammengefasst werden, und die, als Gesetze dieser grossen Erscheinungen betrachtet, durch directes Studium nie hätten entdeckt werden können.“

Mechanismus?

Mill schreibt, dass er es prinzipiell für denkbar hält, dass jedes Naturphänomen mechanisch oder chemisch erklärbar ist. Das weist in Richtung Mechanismus. Wo er sich aber davon distanziert ist in dem Punkt, dass er eine solche mechanische oder chemische Rückführung nicht für möglich hält bezogen auf subjektive Bewusstseinserlebnisse, konkrete individuelle Farbwahrnehmungen oder Empfindungen.

Mills Wissenschaftsmodell

Mill begreift Wissenschaft offenbar sehr ähnlich wie Newton. Beide betonen die Bedeutung der Induktion, um Naturgesetze aus den Naturphänomenen abzuleiten. Im Gegensatz zu Newton ist Mill allerdings sehr konkret, was er unter eine korrekten Induktion versteht. Er beschreibt, welche Fehler man bei der Beobachtung vermeiden sollte, formuliert induktive Schlussregeln. Nach Mill bezieht sich eine korrekte Induktion immer auf eine Struktur oder Kausalität, wie sie in der wirklichen, materiellen Welt tatsächlich vorkommen. Ansonsten handelt es sich um eine fehlerhafte Verallgemeinerung, die man für weitere Schlüsse nicht verwenden darf.

Ähnlich wie Newton will Mill eine Wissenschaft idealerweise axiomatisch aufbauen, wobei ganz oben induktiv gewonnene Prinzipien stehen, aus denen alle anderen wahren Aussagen der Theorie deduziert werden. Ein Unterschied besteht nur darin, dass Newton nur mathematische Beweise zulässt, während Mill allgemein von Syllogismen spricht, worunter er sowohl logisch-begriffliche als auch mathematische Beweise meint.

(E 1) Das Ziel der Naturwissenschaft ist es, zu Wahrheiten über die reale Welt zu gelangen, die nicht hypothetisch sind.
(E 2) In der Naturwissenschaft gibt es

a)      eine Vielzahl empirisch-induktiv gewonnener Naturgesetze  und

b)     ein paar wenige Prinzipien, mit der die Theorie zu einem einheitlichen axiomatisch-deduktiven System zusammengefasst wird.

Das Ziel ist eine axiomatisch strukturierte Theorie, aus der sich alle bekannten Naturgesetze herleiten lassen und bestenfalls noch weitere, bislang unbekannte Naturgesetze deduzieren lassen, die später tatsächlich empirisch bestätigt werden.

Die Gesetze und die Prinzipien beschreiben die Wirklichkeit nicht nur, sondern ihnen entsprechen reale Strukturen oder ursächliche Zusammenhänge.

(E 3) Induktion ist die Methode, um zunächst zu den Naturgesetzen und anschließend zu den obersten Prinzipien zu gelangen. Dabei beobachtet man genau oder befragt experimentell die Natur, und zwar vorurteilsfrei und möglichst ohne theoretische Vorannahmen („Hypothesen“). Erst wenn man diese hat, werden in einem weiteren Schritt der induktiven Verallgemeinerung theoretische Prinzipien gesucht, aus denen sich möglichst viele Naturgesetze herleiten lassen.
(E 4) Deduktionen: Alle Theoreme der Naturwissenschaft kann man aus den Prinzipien und den Axiomen logisch-begriffich oder mathematisch herleiten.

Verifikation: Leitet man aus den Prinzipien Aussagen über konkrete Einzelfälle her, die mit der Empirie übereinstimmen, dann kann die Theorie als bestätigt bzw. empirisch bewiesen gelten.

(E 5) Wenn man die obersten Prinzipien mit der korrekten Induktion gewonnen hat und sie auch durch Einzelfälle verifiziert ist, dann muss die Theorie auch dann als wahr gelten, wenn es widerstreitende Erfahrungstatsachen gibt.

 

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