Hegel: Idealistische Kritik an der Mathematisierung der Natur

Hegel (1770-1831) und Schelling (1775-1854) sind die beiden wichtigsten Vertreter des Deutschen Idealismus.

Im Zentrum von Schellings Philosophie stand das absolute Ich, das der Urgrund aller Erscheinungen sei, aber selbst weder begrifflich noch mittels des normalen bewussten Denkens erfassbar sei. Stattdessen würde es sich durch die sog. intellektuelle Anschauung unmittelbar erschließen, die aber nichts mit Vernunft oder logisch schließenden Verstand zu tun hat.

Hegels Philosophie gleicht in vielem der von Schelling, nur dass er meint, dass die Selbsterkenntnis des Absoluten begrifflich-rational stattfinden müsse. Und zwar hat der absolute Geist zu sich gefunden und alle Gegensätze sind aufgehoben in der Hegelschen Philosophie selbst. Die gesamte Welt setzt sich aus verschiedenen Entwicklungssträngen zusammen, bei denen sich die verschiedenen Entwicklungsstufen dialektisch entwickeln. D.h. jede Stufe beinhaltet bestimmte Widersprüche und indem diese aufgelöst werden, erscheint die nächste Stufe, die ihrerseits dann selbst Widersprüche enthält. Und so weiter bis eine oberste Stufe erreicht ist, die alle Widersprüche in sich aufhebt. Das ist die Stufe des Absoluten. Derartige Entwicklungsstränge sieht Hegel in der Natur, in der er eine Hierarchie von einfacher Materie bis zum vernunftbegabten Lebewesen sieht, deren dialektische Darstellung die Naturphilosophie ist. Eine weitere Entwicklung sieht er in der menschlichen Geschichte und hier insbesondere die Geschichte der Philosophie. Letztere ist deswegen besonders wichtig, weil sie den Weg darstellt, wie das Absolute allmählich sich selbst erkennt und schließlich durch Hegels Philosophie vollendet.

Dabei vollzieht Hegels Philosophie die Dialektik dieser philosophiegeschichtlichen Entwicklung nach, d.h., wie sich jede philosophische Auffassung aus ihren Widersprüchen heraus zur nächst folgenden weiterentwickelt, bis Hegel sie alle in einem umfassenden System in sich aufnimmt. Seine Idee ist, dass dieser Fortgang durch eine innere Dialektik vorangetrieben wird. Das heißt, dass jede Epoche an ihren eigenen Widersprüchen zugrunde geht und im Versuch, einen jeweiligen Widerspruch zu lösen, die nächste Entwicklungsstufe erreicht wird.  Damit ist Hegels Philosophie ein System, das jede Form des Wissens an einen bestimmten Platz stellt und einen durchgängigen großen Zusammenhang herstellen will.

Dementsprechend hat selbstverständlich auch die neuzeitliche Naturwissenschaft, wie sie auf Galilei und Newton zurückgeht, als auch die Mathematik ihre jeweiligen klar definierten Plätze und feste Interpretationen in Hegels System. In einer bisher nie dagewesenen Weise bäumt sich die Philosophie als Königin der Wissenschaften auf. Jede Erkenntnis soll ihrem letztgültigen Urteil unterworfen sein.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Wichtigste Werke:

  • Phänomenologie des Geistes, veröffentlicht 1807.
  • Wissenschaft der Logik, erste Veröffentlichung 1816, überarbeitet 1831
  • Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, erstmals gehalten 1805/1806.
  • Enzyklopädie

Um Hegels Denken zu exemplifizieren möchte ich zwei Beispiele aus seiner Phänomenologie geben. Darin nimmt er seinen Ausgang vom „natürlichen Bewusstsein“, d.h. einer Einstellung gegenüber der Welt, wie sie die normalen Menschen gewöhnlich haben. Hegel will zeigen, wie dieses Bewusstsein in sich widersprüchlich ist und auch sich selbst heraus nach und nach verschiedene Bewusstseinsstufen entwickelt bis hin zum absoluten Wissen. Das wiederum der Startpunkt für Hegels eigentliche Philosophie sein soll.

Als erstes Beispiel skizziere ich den Gedankengang, den Hegel mit „sinnliche Gewissheit oder das Diese und das Meinen“ überschreibt. Damit bezieht er sich offenbar auf eine extrem empiristische Position, bei der alleine das augenblicklich sinnliche Wahrgenommene als wahr angesehen wird. Interessanterweise findet man eine solche Position tatsächlich beispielsweise bei Moritz Schlick

Behauptung: Nur das gerade eben sinnlich Wahrgenommene ist absolut sicher und wahr[1].

Ich mache ein Gedankenexperiment und konzentriere mich darauf, was ich gerade ganz konkret hier und jetzt auf unmittelbarste Weise sinnlich wahrnehme. Wie kann ich das sprachlich ausdrücken? Nun ist die ganz konkrete sinnliche Wahrnehmung, recht betrachtet, so einzigartig und singulär, dass ich sie eigentlich nur durch ein hinweisendes „dieses da!“ ausdrücken kann. Ich könnte höchstens noch hinzusetzen: „Dieses da, hier und jetzt!

Ich kann aber das, was ich gerade konkret sinnlich wahrnehme, nicht fixieren, es ändert sich ständig. Somit meine ich mit „Dieses da, hier und jetzt!“ ein wenig später etwas anderes als am Anfang des Gedankenexperiments. Also kann sich dieser Ausdruck auf alles Mögliche beziehen, genau genommen auf schlechthin alles, was ich sinnlich wahrnehme. Folglich ist dieser Ausdruck „Dieses da!“ der allgemeinste Ausdruck überhaupt. Und ich komme zu dem Paradoxon, dass das Allerkonkreteste nur durch den allerallgemeinsten Ausdruck ausgedrückt werden kann.

So werde ich dadurch, dass ich über das Allerkonkreteste nachdenke, zu seinem Gegenteil, nämlich dem Allerallgemeinsten, geführt.

An diesem Beispiel sieht man, wie sich Hegel die Funktionsweise der dialektischen Methode vorstellt. Zunächst ist es klar, dass es sich um keine formal-logisch Deduktion handelt, die er als für die Philosophie ungeeignet ansieht[2]. Stattdessen soll die Dialektik eine inhaltliche Logik sein, bei der „das Denken der Bewegung der Sache selbst folgt“. Dabei denkt man über eine bestimmte Sache vorurteilsfrei nach, lässt sich vollständig auf sie ein, folgt dabei ihrem inneren Widerspruch und wie er sich auflöst. Auf diese Weise würde man die inhaltliche Notwendigkeit erkennen, mit der sich „die Sache selbst entfaltet“. Methodologisch ist solches dialektische Nachdenken wie gesagt keine logisch-rationale Deduktion, sondern eher eine beobachtende Erfahrung. Hegels Methode erinnert sogar bis zu einem gewissen Grad an Bacon. Hegel schreibt: „Diese dialektische Bewegung […] ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ Auch der Hegel-Forscher Charles Taylor schreibt[3]: „Wir können seine Methode als ‚deskriptiv‘ bezeichnen […] denn es ist Hegels Ziel, einfach der Bewegung in seinem Studienobjekt zu folgen.“ Und Sebastian Ostritsch bezeichnet Hegels Phänomenologie als ein „philosophisches Gedankenexperiment“.

Wichtig ist, dass Hegel den Fortschritt der dialektische Methode nicht willkürlich, sondern für notwendig hält; und zwar meint er eine Notwendigkeit, die durch die Sache selbst gegeben ist: „Das wissenschaftliche Erkennen erfordert […], sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben oder, was dasselbe ist, die innere Notwendigkeit desselben vor sich zu haben und auszusprechen.“

Hier noch ein weiteres Beispiel aus der Phänomenologie, das ich wie folgt zusammenfasse:

Herrschaft und Knechtschaft[4]

In der Antike gab es Kämpfe zwischen zwei Kriegern um Leben und Tod, z.B. Achill gegen Hektor. Hegel interpretiert solche Kämpfe archetypisch so, dass es darin eigentlich um Anerkennung geht. Beide Krieger wollen sich im Kampf selbst beweisen, streben nach Anerkennung und riskieren dabei ihr Leben. Beide bewähren sich dabei auf Leben und Tod. Würde einer von beiden sein Leben nicht riskieren wollen, so würde er auch keine Anerkennung erlangen. Am Ende muss aber einer von beiden sterben. Sobald nun der Kampf vorbei ist, ist der Verlierer tot. Das ist aber auch für den Gewinner eigentlich schlecht, weil er sich nun aufs Neue beweisen muss, um Anerkennung zu finden.

Aus diesem Kreislauf von Kampf, Sieg und Tod kommt man erst heraus, wenn einer von beiden es scheut, sein Leben zu riskieren, und sich unterwirft. Damit bleibt der Unterlegene am Leben, wird aber Knecht des Siegers, welcher nun dessen Herr ist. Der Herr übt Macht auf den Knecht aus und genießt die Früchte seiner Arbeit. Der Herr ist unabhängig und erhält dauerhafte Anerkennung, der Knecht ist abhängig und ihm mangelt es an dauerhafter Anerkennung.

Schließlich aber kehrt sich das Abhängigkeitsverhältnis um. Der Herr ist nur Herr, weil es den Knecht gibt und weil er für ihn arbeitet. Ohne den Knecht wäre der Herr nichts. Der eigentlich Selbständige hingegen ist der Knecht, denn er könnte auch ohne den Herrn leben.

Derartige dialektische Analysen können durchaus erhellend und interessant sein. Sie können helfen, gesellschaftliche, geschichtliche oder auch psychologische Zusammenhänge zu verstehen.

Kritisch ist allerdings anzumerken, dass man beim besten Willen keine Notwendigkeit bei dieser dialektischen Entwicklung erkennen kann. Hegels „Herr und Knecht“ ist wie eine gute Geschichte, deren Verlauf man für durchaus logisch und nachvollziehbar halten kann. Aber selbstverständlich hätte es auch alternative Verläufe geben können: Warum, sollte der Kampf auf Leben und Tod nicht ununterbrochen weitergehen? Warum muss es zu einer Unterwerfung kommen? Könnte es nicht auch eine andere Lösung des Konflikts geben? Z.B. dadurch, dass sich beide Kämpfer miteinander befreunden? Warum muss der Unterworfene notwendigerweise Knecht des Siegers werden? Sind nicht auch andere Ausgänge denkbar?

Dazu kommt noch, dass Hegel reichlich unbestimmt ist. Bei meiner Darstellung habe ich vermutet, dass Hegel eine Kampfsituation meint, wie es sie wohl in der Antike gab und wie sie Homer z.B. in der Ilias beschrieben hat. Diesen Bezug stellt Hegel aber nicht explizit her. Vielmehr besteht sein Stil darin, mit seiner dialektischen Ausführung zu beginnen und den Leser lange im Dunkeln zu lassen, worum es überhaupt gehen soll. Stattdessen streut Hegel im Text Hinweise, so dass einem gebildeten Zeitgenossen Hegels der Bezug offensichtlich wird. Durch diesen stilistischen Kunstgriff lässt Hegel das zu Interpretierende während der Interpretation sozusagen vor dem inneren Auge des Lesers erscheinen, so dass der Eindruck eines Archetyps entsteht, bei dem die Interpretation und das zu Interpretierende ein und dasselbe ist. So kann auch der Eindruck der Notwendigkeit entstehen. Recht besehen ist das, wie gesagt, aber definitiv nicht der Fall. Das erkennt man schon daran, dass es einem Leser, der nicht die entsprechende Bildung hat, schwer fällt, Hegels Ausführungen zu verstehen.

Weitere Beispiele dafür, wie Hegel in der Phänomenologie angeblich notwendige Selbstentfaltungen von Archetypen beschreibt, faktisch aber Interpretationen bestimmter historischer Ereignisse, Lebensumstände, philosophischer oder religiöser Einstellungen gibt, sind: der Stoizismus, das Asketentum, Naturbeobachtung, die Entdeckung logischer Denkgesetze durch Aristoteles, die griechische Polis, Sophokles‘ Antigone, die christliche Religion und vieles mehr.

Er versucht diese Deutungen in ein Gesamtsystem einzufügen, in dem das eine zu dem anderen dialektisch hinüberleiten soll. Man kann es aber nicht anders formulieren, als dass diese Überleitungen in der Regel sehr erzwungen und alles andere als in sich schlüssig sind.

Dessen ungeachtet sind diese einzelnen Ausführungen über Stoizismus, das Asketentum, etc. für sich alleine betrachtet interessant und können bis heute erhellend sein, so wie die genannte Dialektik von Herrn und Knecht. Man muss sie nur als das nehmen, was sie tatsächlich sind: Interpretationen. Nun liegt es, möchte ich sagen, in der Natur von Interpretationen, dass es niemals nur eine allein wahre und notwendige gibt, sondern fast immer unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten. Alles, was Hegel in seiner Phänomenologie interpretiert, kann man auch anders deuten, und daher ist beispielsweise Hegels Interpretation von Stoizismus oder vom Asketentum, etc. nicht notwendig. Bei Hegel klaffen somit Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander.

Immerhin hat Hegel eine neue Methode, wenn nicht eingeführt, so doch auf besondere Weise kultiviert, nämlich die Methode der Interpretation. Und damit war er überaus richtungsweisend. Denn die Methode der Interpretation ist die Schlüsselmethode schlechthin in den Geisteswissenschaften. Sieht man sich beispielsweise die heutige Philosophie an, dann besteht sie zum Großteil darin, das, was irgendein Denker von sich gegeben hat, auszulegen und zu interpretieren. Ein Kunstgeschichtler interpretiert das Werk eines Künstlers, ein Literaturwissenschaftler das Werk eines Schriftstellers, ein Geschichtswissenschaftler den Verlauf bestimmter historischer Geschehnisse. All dies steht ohne Zweifel in der Tradition Hegels. Der Unterschied freilich ist, dass Hegel seinen Interpretationen „Notwendigkeit“ zuschrieb, während heutige Geisteswissenschaftler viel bescheidener geworden sind.

Die Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie, die mit Descartes begonnen hat, mündete mit Hegel in eine Trennung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft, die bis heute anhält.

Hegel über Mathematik und Naturwissenschaft

Hegel entwarf ein System, an dem jedes Wissen und jeder Wissensgegenstand seinen genauen, angeblich notwendigen Platz hatte. Das galt auch für die Mathematik und die Naturwissenschaften, was die meisten Mathematiker und Naturwissenschaftler als Anmaßung empfanden. Das beginnt schon damit, dass Hegel mehr als einmal herabsetzte[5]. Beispielsweise behauptet er in der Logik, dass man die ganze Infinitesimalrechnung innerhalb einer halben Stunde lernen könne. Außerdem verwendet er eine Sprache, die für Nicht-Philosophen kaum verständlich war. Hier als Beispiele Hegels Definitionen von Raum und Zeit.

Der Raum als „die erste und unmittelbare Bestimmung der Natur ist die abstrakte Allgemeinheit ihres Außersichseins“ (Enzyklopädie II, § 254)

„Die Negativität, die sich als Punkt auf den Raum bezieht und in ihm ihre Bestimmung als Linie und Fläche entwickelt, ist aber in der Sphäre des Außersichseins ebensowohl für sich und ihre Bestimmungen darin, aber zugleich als in der Sphäre des Außersichseins setzend, dabei gleichgültig gegen das ruhige Nebeneinander erscheinend. So für sich gesetzt, ist sie die Zeit.“

Weder ein Mathematiker noch ein Physiker kann mit einem solchen Text etwas anfangen. So schrieb Gauß in einem Brief:

„Dass Sie einem Philosophen ex professo keine Verworrenheit in Begriffen und Definitionen zutrauen, wundert mich fast; nirgends mehr sind solche ja zuhause als bei den Philosophen, die keine Mathematiker sind. […] Sehen Sie sich doch nur bei den heutigen Philosophen um, bei Schelling, Hegel, Nees von Esenbeck und Konsorten, stehen Ihnen nicht die Haare zu Berge?“[6]

Andererseits fühlte sich Hegel durchaus berufen, sich in mathematische Themen einzumischen. Immerhin schwelte zu seiner Zeit die Grundlagenkrise der Analysis. Seit seiner Erfindung durch Newton und Leibniz hatten die Mathematiker den Differenzialkalkül verwendet und sprachen vom „Unendlichkleinen“ und „unendlichen Summen“ und ähnlichem. Hegel geht in seiner Wissenschaft der Logik Bd I (Buch 1, 2. Abschnitt, 2. Kap. C.c. Anmerkung 1 279 ff. Anmerkung 2(322 ff.) ausführlich darauf ein. Nun verstanden die Philosophen traditionell die Mathematik als die Lehre von den endlichen Größen. Nach dieser Auffassung verlässt die infinitesimale Analysis eigentlich den Bereich der Mathematik. Hegel schreibt:

„Indem das Unendlichgroße oder -kleine ein solches ist, das nicht mehr vermehrt oder vermindert werden könne, so ist es in der Tat kein Quantum als solches mehr.“ (S. 283)

Nach Hegel wird das Unendliche zu einer „qualitativen Bestimmtheit“ (S. 285). Daher sei es nur verständlich, dass der Mathematik – als Lehre von den endlichen Größen – nicht aus sich selbst eine Begründung der Analysis gelingen könne.

„Denn die Rechnung des Unendlichen erlaubt und erfordert Verfahrensweisen, welche die Mathematik bei Operationen mit endlichen Größen durchaus verwerfen muss, und zugleich behandelt sie ihre unendlichen Größen wie Quanta.“[7] (Vorlesung über die Geschichte der Philosophie 3)

„Über die Natur der Analysis […] ist im ersten Teile dieser Logik ausführlicher gehandelt worden. Daselbst wurde gezeigt, dass hier eine qualitative Größenbestimmung zugrunde liegt, welche allein durch den Begriff gefasst werden kann. Der Übergang zu derselben von der Größe als solcher ist nicht mehr analytisch; die Mathematik hat daher bis diesen Tag nicht dahin kommen können, die Operationen, welche auf jenem Übergang beruhen, durch sich selbst, d.h. auf mathematische Weise zu rechtfertigen, weil er nicht mathematischer Natur ist.“[8]

Hegel glaubte offenbar, dass die Mathematik alleine unzulänglich sei und dass ihr erst durch die Philosophie ein festes Fundament gegeben würde. Nun konnten erstens die Mathematiker mit Hegels philosophischer Grundlegung der Mathematik nichts anfangen. Zweitens aber gelang es Cauchy und anderen Mathematikern tatsächlich, die problematischen Begriffe der Analysis, insbesondere das „Unendlichkleine“ und den „infinitesimalen Grenzübergang“, mathematisch sauber zu definieren. Drittens konnte man unmöglich den Mathematikern einen festgeschriebenen, eng umgrenzter Platz in Hegels System zuweisen. Gerade Anfang des 19. Jahrhunderts hatte die Mathematik eine zu große Innovationskraft. Unterm Strich empfand man Hegels philosophischen Ansprüche als unerträgliche Bevormundung.

Ähnliches gilt für Hegels Beziehung zur Physik. Seine Begründungsversuche waren für Physiker weder verständlich noch hilfreich, seine Haltung war arrogant, und eine sich dynamisch entwickelnde Naturwissenschaft auf einen festen Platz in einem philosophischen System einzuschränken war inakzeptabel. Aber all das wird übertroffen dadurch, dass Hegel die Mathematisierung der Physik in Frage stellte[9]:

„Es wird für einen Triumph der Wissenschaft ausgegeben, durch den bloßen Kalkül über die Erfahrung hinaus Gesetze […] zu finden. […]

Ich aber trage kein Bedenken, diese Manier für nicht mehr als eine bloße Taschenspielerei und Charlatanterie des Beweisens anzusehen und hierunter selbst Newtonsche Beweise zu rechnen […], wegen welcher man Newton bis an den Himmel über Kepler erhoben hat, das, was dieser bloß durch Erfahrung gefunden, mathematisch dargetan zu haben.

Das leere Gerüst solcher Beweise wurde errichtet, um physische Gesetze zu beweisen. Aber die Mathematik vermag überhaupt nicht Größenbestimmungen der Physik zu beweisen, insofern sie Gesetze sind, welche die qualitative Natur der Momente zum Grunde haben; aus dem einfachen Grunde, weil diese Wissenschaft nicht Philosophie ist, nicht vom Begriffe ausgeht, und das Qualitative daher, insofern es nicht lemmatischer Weise aus der Erfahrung genommen wird, außer ihrer Sphäre liegt.“

Ferner[10]:

„[…] mathematisches Erkennen und Methode ist bloß formelles Erkennen und ganz und gar unpassend für die Philosophie. Das mathematische Erkennen stellt den Beweis an dem seienden Gegenstande als solchem dar, gar nicht als begriffenem; es fehlt durchaus der Begriff, der Inhalt der Philosophie ist aber der Begriff und das Begriffene.“

Hegel diskreditiert hier offenbar die mathematische Methode der modernen Physik im Allgemeinen, und Newtons Werk im Besonderen. Ohne Zweifel müssen solche Zeilen, in denen die Mechanik als „Taschenspielerei“ und „Charlatanerie“ abgetan wird, für einen zeitgenössischen Physiker über die Maßen arrogant geklungen haben. Abgerundet wird Hegels Haltung gegenüber der Physik noch dadurch, dass er Newtons Lichttheorie verwirft und eine Lanze für Goethes Farbenlehre bricht[11]. All dies zeigt die unüberwindbare Kluft, die zwischen Hegels Philosophie und der damaligen Naturwissenschaft bestand.

 

[1] Phänomenologie, A.I. S. 82 ff.

[2] Logik I, S. 36 f., sowie Phänomenologie S. 57 ff. und 72. Ausdrücklich gegen die mathematische Methode wendet sich Hegel in der Phänomenologie, S. 43 ff.

[3] Taylor [89], S. 179,  Ostritsch [54], S. 117.

[4] Phänomenologie, B.IV.A S. 157 ff.

[5] Phänomenologie (Bd. 3), S. 44 ff., Logik I (Bd. 5), S. 322.

[6] Zitiert nach Stuloff: Der Wissenschaftsbegriff in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Axiom etc. S. 181.

[7] Logik I (Bd. 5), S. 281.

[8] Logik II  (Bd. 6), S. 509.

[9] Logik I, Bd. 5, S. 320-321.

[10] Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (Bd. 20), S. 187.

[11] Siehe z.B. Enzyklopädie II (Bd. 9), 246 ff.

1 Kommentar
  1. Holger Fischer sagte:

    Philosophie ist eine sehr merkwürdige Angelegenheit, dazu meinte Kant: “Die menschliche Vernunft wird durch Fragen belästigt, die sie nicht abweisen, aber auch nicht beantworten kann.”

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