Entdeckung der menschlichen Subjektivität

Im Laufe des 18. Jahrhunderts gab es verschiedene Ansätze, die individuelle Subjektivität des Menschen herauszustellen.

Die Aufklärung war verbunden mit der Forderung nach politischer Freiheit. Man sollte das Recht haben auf Selbstbestimmung des eigenen, persönlichen Lebens. Der Ruf nach Freiheit war gerichtet gegen die Bevormundung durch staatliche oder kirchliche Autoritäten. Hier sind Montesqieu, Rousseau und auch Kant zu nennen. Die englische Bill of Rights von 1689 galt vielen als Vorbild, später die amerikanische Bill of Rights von 1776. Die Idee der politischen Freiheit spielte dann auch bei der Französischen Revolution von 1789 eine wichtige Rolle.

Innerhalb des Protestantismus entwickelte sich der Pietismus als eine Bewegung, die weg von einer bloß formalen Ausübung der Religion zu einer tief empfundenen und lebensverändernden Frömmigkeit gelangen wollte. Religion sollte nicht nur ein äußerliches Befolgen von Ritualen oder ein stupides Auswendiglernen von Glaubenssätzen sein, sondern eine „Religion des Herzens“ (N. von Zinzendorf) werden und zu einer inneren Verwandlung führen. Das Ziel war es, einen individuellen, stark emotionalen Bezug zu Gott, Jesus und überhaupt zur christlichen Botschaft aufzubauen, der dann die Grundlage für eine konsequente christliche Lebensführung ist. In der Praxis wurde Gewicht gelegt auf ein intensives Gemeindeleben, gemeinsame Bibelstudien und gemeinsames Gebet. Im Vergleich zu traditionellen Kirchen wurden die Laien gegenüber den hauptberuflichen Pfarrern oder Priestern aufgewertet. Der deutsche, niederländische und schweizerisch Pietismus stand in Verbindung mit den englischen Puritanern und Methodisten. Zentrale Persönlichkeiten sind u.a. Philipp Jacob Spener (1635-1705), August Hermann Francke (1663-1727), Johann Albrecht Bengel (1687-1752), Johann Michael Hahn (1758-1819). Auch die sog. Herrnhuter Brüdergemeinde, gegründet von Nikolaus von Zinzendorf, ist dem Pietismus zuzuordnen.

Etwa von 1740 bis 1789 ist die Empfindsamkeit eine literarische Strömung vor allem in England und Frankreich. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Gegenbewegung zum Rationalismus der Aufklärung und der formalisierten, disziplinierten Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus. Das Gefühl, das man nun auch überschwänglich zum Ausdruck bringen konnte, das private Glück, das tief empfundenes Mitgefühl, eine emotionale Religiosität waren wichtige Themen der Empfindsamkeit. Zu Vertretern der Empfindsamkeit gehören: Jaques Rousseau, Samuel Richardson, Denis Diderot, Friedrich Gottlieb Klopstock.

Zwischen 1765 und 1785 gingen in Deutschland der junge Goethe und der junge Schiller, sowie andere Vertreter des sogenannten Sturm und Drang (etwa 1765-1785) in eine ähnliche Richtung. Auch sie stellten das unbändige Gefühl über die kalte Ratio. Außerdem entwickelten sie ein inniges, emotionales Verhältnis zur Natur. Eine wichtige Idee war, dass sich die individuelle Subjektivität künstlerisch auszudrücken hatte.

Johann Gottfried Herder (1744-1803) entwarf eine neue Theorie vom Menschen und seiner Sprache. Demnach sind alle Handlungen und der äußere Ablauf des Lebens insgesamt die Realisierung bzw. der Ausdruck des individuellen menschlichen Selbst.  Diese Realisierung kann durch äußere Umstände, z.B. durch die Gesellschaft, gehemmt werden. Das Lebensziel sollte es sein, sein Leben möglichst authentisch zu leben, d.h. so, wie es der inneren Bestimmung entspricht. Auf der anderen Seite kommt ein Mensch zur Selbsterkenntnis, indem er sich selbst realisiert und ausdrückt. So gelangt Herder, und mit ihm der Sturm und Drang, zu einem neuen Kunstverständnis. Wollte Kunst bisher die Natur nachahmen oder den Menschen belehren bzw. vergnügen, so geht es jetzt für einen Künstler oder Schriftsteller vor allem darum, seine individuelle, authentische Ausdrucksform zu finden.

Mit diesen Gedanken war auch eine nostalgische Sehnsucht nach vergangenen Zeitaltern verbunden, in denen der Mensch, wie man meinte, nicht an seiner Selbstverwirklichung gehindert wurde und es viel leichter war, mit seiner eigenen Natur im Einklang zu sein. Rousseau projizierte diese Sehnsucht auf edle Naturvölker. Im Zuge von Winckelmanns Schriften begeisterte man sich für die griechisch-antike Vergangenheit, in der der Mensch sich erstens in der Polis politisch frei engagierte und zweitens in der Kunst seinen authentischen Ausdruck fand.

Auch bezogen auf die Sprachtheorie geht Herder neue Weg. Bislang herrschte die Theorie vor, dass eine sprachliche Äußerung einen Gedanken eines Menschen ausdrückt, der sich auf etwas Bestimmtes in der realen Welt bezieht. Ein anderer Mensch versteht die sprachliche Äußerung, indem er durch sie denselben Gedanken fasst. Zwischen dem Gedanken und der sprachlichen Äußerung besteht eine bloß äußerliche, zufällige Verbindung; für denselben Gedanken könnte man auch ganz andere sprachliche Äußerungen nach Belieben festlegen. Herder hingegen meinte, dass es eine solche Beliebigkeit nicht gibt. Für einen Gedanken gibt es einen für ihn adäquaten Ausdruck. Und umgekehrt: die Sprache beeinflusst die Gedanken, die man ihr formulieren kann. Die Gedanken wiederum sind Teil des individuellen Lebens eines Menschen bzw. eines Volkes. So wird die Sprache eines Volkes zum Ausdruck einer bestimmten Sicht auf die Welt und einer bestimmten Lebensform. Nach Herder findet man deswegen den ursprünglichsten Ausdruck einer Volkssprache in der Poesie und dem Gesang. Die Kunst entweder als authentische Äußerung eines „Volksgeistes“ oder als authentische Äußerung eines genialen Individuums gewinnt so eine quasi-religiöse Funktion. Und dieser Selbst-Ausdruck sollte von fremden, hemmenden Beeinflussungen frei gehalten werden. So bemerkenswert diese Philosophie ist, so muss leider doch kritisch angemerkt werden, dass sie den Weg zu nationalistischen und sogar antisemitischen Irrungen ebnete.

Winckelmann – Griechenland

Die Philosophen und Naturwissenschaftler, die die Täger der wissenschaftlichen Revolution der frühen Neuzeit waren, also z.B. Galilei, Huygens, Newton, später Euler und Lagrange, fassten die Wirklichkeit als objektiv gegeben auf. Wenn man nur genau beobachtet, und dabei seine Wahrnehmung nicht von persönlichen Vorurteilen getrübt sein lässt, und die Dinge im Licht der Vernunft begreift, dann hat man eine Chance die Realität so zu erkennen, wie sie tatsächlich und objektiv ist. Und das impliziert, dass diese reale Welt für alle Menschen dieselbe ist.

Dazu im Gegensatz meinten alle genannten Ansätze, die die Subjektivität des Menschen betonten, dass die Wirklichkeit gerade nicht für alle Menschen dieselbe ist, sondern durch den jeweiligen Menschen entweder eingefärbt oder sogar überhaupt erst geschaffen wird. Die aufklärerische Forderung nach politischer Freiheit will es dem Menschen ermöglichen, sich seine eigene Lebenswirklichkeit zu gestalten. Der Pietismus und die Empfindsamkeit wollen jedem seinen jeweils eigenen subjektiven, emotional geprägten Zugang zur Religion bzw. zur Welt zugestehen. Herder und die Sturm-und-Drang-Dichter strebten nach einem möglichst authentischen Ausdruck des eigenen inneren Selbst. Der Künstler schafft sich seine eigene künstlerische Welt. Nach Herder ist sowieso der Bezug eines Menschen auf die Welt immer auch von seiner Muttersprache abhängig. Jedes Mal gilt also die Wirklichkeit oder zumindest die Sicht auf die Wirklichkeit als wesentlich von der jeweiligen Subjektivität bestimmt.

Und hier passt auch Kants Philosophie hervorragend hinein. Nach Kant können wir eine Wirklichkeit, die unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert, nicht erkennen; erkennbar ist vielmehr nur die Welt der Erscheinungen, und das unter den allgemeinen Bedingungen unserer Subjektivität, eben z.B. dass jedes Ding für uns räumlich, zeitlich oder Teil einer Kausalkette ist. Nun spricht Kant außerdem von einem transzendentalen Ich als einer Subjektivität, die über jedes individuelle, persönliche Selbst hinausgeht. Kant meint nur, dass es ein solches transzendentales Ich geben müsse, wie genau es beschaffen ist, meint er, ist uns nicht möglich zu erkennen. Aber eigentlich hat Kant damit einen ersten Schritt in eine neue Art von Metaphysik getan, die dann die Philosophen des Deutschen Idealismus weiterführen werden.

Wenn Fichte vom Ich spricht, das die Basis seiner Philosophie ist, dann meint er immer das transzendentale Ich Kants, das über jedes individuelle, persönliche Innenleben eines Menschen weit hinausgeht. Fichte greift den Gedanken auf, dass die Subjektivität die Wirklichkeit beeinflusst und treibt ihn in das metaphysische Extrem, dass das (transzendentale) Ich überhaupt die gesamte Wirklichkeit schafft. Fichte drückt sich so aus: Das Ich setzt das Nicht-Ich. Er ist damit insofern konsequenter als Kant, als Kant ja immerhin noch meint, von dem Ding an sich sprechen zu können. Wie kann ich aber von etwas sprechen, was für mich vollständig unerkennbar ist?

Das Ich des Deutschen Idealismus ist metaphysisch so überhöht, dass man es sich unwillkürlich entweder als Gott oder als kosmische Weltseele vorstellt. Schelling und Hegel nennen es auch das Absolute. Wie ich oben ausgeführt habe, führte die vielfältige Wertschätzung der menschlichen Subjektivität im 18. Jahrhundert zu dem Gedanken, dass die Wirklichkeit mindestens subjektiv gefärbt ist, bestenfalls sogar der authentische Ausdruck des individuellen Selbst ist. Diesen Gedanken überträgt dann vor allem Schelling auf das metaphysische Ich. Der ganze Kosmos samt seiner Geschichte ist nichts anderes als die Verwirklichung des Weltgeistes. Das Weltgeschehen ist nur der authentische Selbstausdruck der kosmischen Ichs, das auf diese Weise sich selbst erkennt. Diese Selbsterkenntnis des Absoluten nennt Schelling „intellektuelle Anschauung“, die er sich wohl als eine Art nicht-begriffliche, intuitive Kontemplation vorstellte, eine geistige Erfahrung, bei der alle Gegensätze verschwinden.

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