Das Außenweltproblem: Philosophie und Naturwissenschaft trennen sich

Seit der Antike war die Naturwissenschaft eine Teildisziplin der Philosophie. Die Aufgabe war, die Welt zu erklären und zu verstehen. Descartes leitete, wenngleich ungewollt, den Bruch ein.

Durch seine Methode des systematischen Zweifelns kam er zu dem Ergebnis, dass alles, was wir über die äußere Realität zu wissen glauben, zweifelhaft ist. Unzweifelhaft hingegen ist nur das Ich mit seinen subjektiven Bewusstseinserlebnissen. Von nun an standen sich zwei Bereiche schroff gegenüber: die äußere Realität der Dinge und die innere Realität des Denkens. Damit war bereits der erste kleine Schritt in Richtung Trennung von Naturwissenschaft und Philosophie getan. Denn für den praktizierenden Naturwissenschaftler ist die Unterscheidung von äußerer und innerer Realität schlicht bedeutungslos. Sie hatte keinerlei Konsequenz für sein Erforschen der Natur. Die Philosophen hingegen bestanden darauf, dass die äußere Realität letztlich ein Bereich ist, der für sich genommen keine absoluten Gewissheiten zulässt. Wenn hier überhaupt ein fundiertes Wissen möglich sein soll, dann nur über den Umweg einer philosophischen Begründung. Descartes beispielsweise glaubte die Wissenschaft so begründen zu können: Aus der absoluten Gewissheit des Denkens folgerte er die Existenz Gottes; Gott wiederum in seiner Vollkommenheit ist ein Garant dafür, dass unser Wissen von der äußeren empirischen Realität der Wahrheit entspricht, sofern es nur klar und deutlich ist.

Locke übernahm von Descartes die Unterscheidung von materieller Außenwelt und innerem, subjektivem Bewusstseinsleben. Während aber Descartes unser Wissen von der Außenwelt durch die Vollkommenheit Gottes zu retten versuchte, war Locke skeptischer. Er vertrat eine atomistische Wahrnehmungstheorie, wonach alle Dinge aus kleinsten Partikeln bestehen. Diese atomaren Partikel sind zwar an sich unerkennbar. Die Welt, wie sie uns mittels der sinnlichen Wahrnehmung erscheint, hat nichts mit der Welt zu tun, wie sie an sich tatsächlich ist. Die sinnliche Wahrnehmung kommt vielmehr zustande, indem die Dinge beständig bestimmte Mengen von Atomen ausstrahlen; und sobald sie auf die menschlichen Sinnesorgane treffen, entsteht sinnliche Wahrnehmung. Die so erzeugte subjektive Wahrnehmung hat aber einen ganz anderen Charakter als die erzeugenden Partikel. Es könnte beispielsweise sein, dass kugelförmige Teilchen von einer ganz bestimmten Größe für das Rot-Sehen verantwortlich sind. Die Kugelform und die bestimmte Größe sind aber geometrische Eigenschaften, also etwas wesentlich anderes als die Qualität Rot. Und aufgrund der prinzipiellen Verschiedenheit von erzeugenden Partikeln und der erzeugten Wahrnehmung ist nach Locke eine korrekte Naturerkenntnis prinzipiell unmöglich. Wie die Dinge an sich sind, können wir nicht wissen, sondern nur wie sie für uns sind, d.h. welche Wirkungen die von ihnen ausgestrahlten Partikel in unseren Sinnesorganen hervorbringen. Die Welt., wie sie uns erscheint, ist wesentlich anders als die Welt, wie sie an sich tatsächlich ist. In einem Punkt ist Locke jedoch inkonsequent: Wenn die atomaren Partikel an sich nicht erkennbar sind, auf welcher Grundlage stellt er dann seine atomistische Wahrnehmungstheorie auf?

Kant beseitigte diese Inkonsequenz, indem er auf jegliche Theorie darüber, wie die materielle Außenwelt an sich tatsächlich ist, verzichtete. Seiner Meinung nach ist eine solche Theorie prinzipiell nicht möglich. In vielen anderen Punkten blieb er aber Locke treu. Zunächst glaubte auch Kant, dass die Dinge an sich irgendwie in uns sinnliche Eindrücke verursachen; wie genau sie das aber machen, konnte er nicht sagen.  Ferner übernahm er die Unterscheidung einer Welt, wie sie uns erscheint, von der Welt, wie sie an sich tatsächlich ist. Diese Welt der Erscheinung wird wesentlich von den subjektiven Bedingungen bestimmt, die unsere Erfahrung überhaupt ermöglichen. Kants neue Idee war, diese subjektiven Bedingungen als Schlüssel zu nehmen, der einen neuen Weg zu sicherer, metaphysischer Erkenntnis eröffnet. Auf diese Weise versuchte er einerseits die Mathematik zu begründen, andererseits auch die Newtonsche Physik. Beide sollen aus notwendigen Voraussetzungen unseres subjektiven Erkennens herleitbar sein. Mathematik und Physik können uns allerdings nichts darüber lehren, wie die Dinge an sich sind, sondern machen nur Aussagen über die Welt der Erscheinungen. Auch hier muss man konstatieren, dass diese Unterscheidung von Dingen an sich und Erscheinungswelt, für einen praktizierenden Mathematiker oder Naturwissenschaftler irrelevant ist. Philosophen meinten, dass die Kantische Philosophie wichtig für die Grundlegung der Wissenschaft ist, für die wissenschaftliche Forschung hingegen hatte sie faktisch keine Bedeutung. Die Mathematik, die Physik und andere Naturwissenschaften machten schnelle und gewaltige Fortschritte in eine Richtung, die Kant nicht voraussagte und für die die Kantische Philosophie genau genommen eher ein Hemmschuh gewesen wäre. Ich erwähne an dieser Stelle nur die Entwicklung der Chemie, die nach Kant gar keine Wissenschaft ist, sowie die Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrie, die es nach Kant gar nicht geben dürfte.

Unabhängig also von Descartes‘, Lockes und Kants Überlegungen forschten die Naturwissenschaftler weiter wie sie es bisher auch taten. Sie experimentierten, beobachteten Tatsachen, und entwarfen ihre Theorien. Sie konzentrierten sich auf die materielle Welt, sozusagen den Bereich des Seins, und eine philosophische Begründung durch den Bereich des Denkens interessierte sie nicht. So lebten sich die Naturwissenschaftler und Philosophen immer weiter auseinander.

Kant sagte ja, dass die Dinge an sich unerkennbar sind, aber immerhin sprach er noch davon. Wie kann ich aber von etwas sprechen, was in gar keiner Weise erkennbar ist? Die deutschen Idealisten, Fichte, Schelling, Hegel, lösten dieses Problem, indem sie im Kern behaupteten, dass das eine Ding an sich, das allen Erscheinungen zugrunde liegt, das eine metaphysische Ich ist, sozusagen der Weltgeist. Schopenhauer ging im Prinzip in dieselbe Richtung, nur dass er nicht von einem kosmischen „Ich“ sprach sondern, von dem einem metaphysischen „Willen“. Die Philosophie hat sich damit denkbar weit von der Wissenschaft entfernt. Gleichzeitig wollten insbesondere Schelling, Hegel und Schopenhauer durchaus erklären, wie Wissenschaft zu betreiben ist. Dies empfanden die Wissenschaftler zunehmend als arrogante Einmischung, so dass ein Höhepunkt der Entfremdung von Philosophie und Naturwissenschaft erreicht war.

Auf der anderen Seite gab es wissenschaftsfreundliche Philosophen, wie z.B. J.St. Mill, Auguste Comte oder Herbart Spencer. Sie sahen die Philosophie eher als Dienerin der Wissenschaft, weniger als Herrin. Ich denke, dass es kein Zufall ist, dass für diese Philosophen auch das Außenweltproblem nur eine untergeordnete Rolle spielte. Jedenfalls interessierte sie keine Metaphysik, die zu ergründen suchte, was an sich hinter der empirischen Realität vermeintlich wirklich ist.

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