Isaac Newton

Isaac Newton (1643-1727) ist wohl der bedeutendste Vertreter der klassischen Mechanik, dessen Werk über Jahrhunderte die Physik dominierte. Außerdem ist er wichtig für die Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses. Denn die moderne Auffassung von empirischer Induktion geht, wie ich meine, wesentlich auf ihn zurück.

Seine Hauptwerke sind:

  • Neue Theorie des Lichts, Brief von 1672 an die Royal Society, deutsche Übersetzung in: Lohne, Sticker: Newtons Theorie der Prismenfarben – Mit Übersetzung und Erläuterung, Verlag Werner Fritsch, 1969.
  • Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, die 1687 erschien, kurz: Principia, auf Deutsch: Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie, übersetzt und herausgegeben von Volkmar Schüller, De Gruyter, 1999.
  • Opticks, 1704. Deutsch: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts, übersetzt und herausgegeben von William Abendroth, Vieweg, 1983.
  • Tractatus de quadratura curvarum, veröffentlicht 1704 im Anhang der Opticks.
  • Arithmetica Universalis, 1707.

Newtons Atomismus

Zunächst ist Newton ein Atomist, wie die meisten zeitgenössischen Naturwissenschaftler auch. Er glaubt, dass die materielle Welt aus kleinsten, unzerstörbaren, unteilbaren Partikeln besteht, die sich in einem unendlichen leeren Raum bewegen, sich zusammenballen und so die Dinge bilden und sich dann wieder voneinander trennen. Auch das Licht ist ein Bündel von sich schnell bewegender Teilchen. Alle wesentlichen Eigenschaften der Atome sollen mathematischer Natur sein.

Eine solche Atomtheorie ist zwar mathematisch, was die Annahmen über die mathematische Grundverfassung der Wirklichkeit betrifft, im Grunde genommen ist sie aber eine naturphilosophische Spekulation, ohne mathematische Axiome oder mathematische Herleitungen. Ein wichtiger Aspekt jeder Atomtheorie ist, dass zwischen der atomaren Wirklichkeit und unserer alltäglichen Erfahrungswelt unterschieden wird. Erstere ist die wahre Wirklichkeit, wie sie an sich ist, sie hat wesentlich mathematische Strukturen. Unsere alltägliche Erfahrungswelt hingegen ist eine Welt des subjektiven Scheins, wir bilden uns ein, ein rotes Ding zu sehen, tatsächlich aber ist dieses Ding nur ein Konglomerat von unsichtbaren Atomen, und unsere Rot-Wahrnehmung wird erzeugt von einer Vielzahl von Partikeln, die das (scheinbare) Ding abstrahlt und beim Auftreffen auf unsere Sinnesorgane eine bestimmte Wirkung erzielen.

Entstehung der Principia

Als junger Wissenschaftler beschäftigt sich Newton mit der Frage, welche Kräfte einen Körper zwingen, mit konstanter Geschwindigkeit auf einer Kreisbahn zu bleiben. 1665 löst er dieses Problem mit geometrischen Methoden, die aber bereits in Richtung Infinitesimalrechnung weisen. Tatsächlich entwickelt Newton in dieser Zeit seine erst Fassung des sog. Fluxionskalküls. Unter seinen wissenschaftlichen Kollegen sind seine herausragenden mathematischen Fähigkeiten wohlbekannt.

1679 wendet sich Robert Hooke (1635-1702) an Newton, weil er sich bei einem physikalischen Problem mathematische Unterstützung von Newton erhofft. So bringt Hooke Newton auf den Weg, an dessen Ende sein monumentales Werk, die Principia, steht. Hooke hat sich eine Zeitlang mit der Gravitationskraft im Zusammenhang mit Planetenbewegungen beschäftigt. Er vermutete bereits 1666, dass die Schwerkraft „eines der aktiven Prinzipien von größter Allgemeingültigkeit im Kosmos [ist]“[1]. So glaubt er, dass der freie Fall und der Wurf auf der Erde eng verwandt sind mit den Planetenbewegungen. Er formuliert sogar bereits das sogenannte Abstandsquadratgesetz, dem gemäß der Gravitation zwischen zwei Körpern im Quadrat ihres Abstands voneinander abnimmt. In einem Brief an Newton schreibt Hooke am 17. Januar 1680[2]:

„Es bleibt jetzt allein übrig, die Eigenschaften einer Bahnkurve zu kennen, die […] verursacht wird durch eine zentrale Anziehungskraft, welche die Abweichungsgeschwindigkeit von der Richtung der Tangente […] in jedem Abstand umgekehrt proportional zum Quadrat der angenommenen Abstände macht.“

Einige Kernideen der Principia gehen also auf Hooke zurück. Und es ist ein trauriges Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, dass Newton das später leugnet, weil er den Ruhm für sich alleine beansprucht.

Als Newton 1687 die Principia fertig geschrieben hat, ist das ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte. Newton hat das das Programm verwirklicht, das Descartes in seinen Principia Philosophiae formuliert hatte: eine mathematische Naturphilosophie, die aus ersten Prinzipien ein gesamtes Weltsystem mathematisch ableitet. In Anlehnung an den Titel von Descartes‘ naturphilosophischen Hauptwerk nennt auch Newton sein Hauptwerk „Principia“. Bereits Descartes versuchte, die gesamte materielle Welt zu erklären. Dazu stellte er Stoßgesetze auf, beschrieb die Entstehung der materiellen Welt, entwarf eine Wirbeltheorie der himmlischen Bewegungen, aber er machte das alles ohne eine einzige mathematische Herleitung. Huygens wiederum löste beachtlich viele physikalische Probleme mit rein mathematischen Mitteln, er ersann aber keine einheitliche, alles umfassende Theorie. Newton schließlich gelingt mit seinen Principia der große Wurf einer Naturphilosophie, die mithilfe einiger weniger, mathematisch formulierter Prinzipien eine beachtliche Anzahl physikalischer Erscheinungen erklären kann.

Einiges, was Newton hierin vorträgt, war bereits bekannt: die Gesetze des freien Falls, die Beschreibung von Wurfbahnen oder die elliptischen Planetenbahnen.  Auch gab es nach wie vor die von Aristoteles geprägte naturphilosophische Begrifflichkeit, auf der anderen Seite wurden seit Galilei eine Vielzahl von physikalischen Problemen mathematisch gelöst. Dijksterhuis schreibt[3]: „Es war nun Newtons Aufgabe, in diesem Chaos von Ausdrücken und Vorstellungen Ordnung zu schaffen.“

Newton erreicht dies, indem er das damalige Wissen über die Mechanik so strukturiert, wie es Aristoteles in der Zweiten Analytik fordert. Das heißt, er beginnt mit Definitionen, stellt danach Axiome auf und leitet schließlich Theoreme ab. Die Principia haben somit zunächst rein äußerlich die Struktur einer aristotelischen Wissenschaft. Beziehungsweise sie wirken auf den ersten Blick wie ein klassisches geometrisches Lehrbuch: Überall „Propositionen“ und „Theoreme“ mit anschließenden geometrischen Beweisen, dazwischen Zeichnungen mit Kreisbögen und Linien. Kein Buch, das man mal einfach so durchliest. Schon der äußere Eindruck ist ganz anders als der von Descartes‘ Principia.

Wenn man sich allerdings dunkel an den Physikunterricht aus der Schulzeit erinnert, dann wundert man sich, dass Newtons Principia so voll mit klassischer Geometrie ist und anscheinend gar keine Differentialrechnung enthält. Immerhin gilt Newton als einer der Mitbegründer der modernen Infinitesimalrechnung. Der Grund dafür ist, dass Newton zwar seine Form der Differentialrechnung, die er „Fluxionsrechnung“ nannte, bereits in den Jahren 1665 und 1666 erfunden hatte, er verzichtete aber darauf, sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Leibniz hatte 1675 seine ersten Ideen zu der mathematischen Methode, die er „Differentialkalkül“ nannte, ohne Kenntnis der Fluxionsrechnung und unabhängig von Newton. Heute hat sich Leibniz‘ Namensgebung durchgesetzt, während Newtons Bezeichnung „Fluxionsrechnung“ unbekannt ist, auch die gesamte zugehörige Notation geht auf Leibniz zurück. Er ersann das „dx“ und das Symbol fürs Integral. 1684 publiziert Leibniz seine Theorie des Differentialkalküls. Newton erwähnt zwar tatsächlich seine Fluxionsrechnung 1687 in den Principia, aber erst 1695-1699 veröffentlicht Wallis Briefe von Newton, in denen er seine neue Infinitesimalmathematik darlegt. Newton selbst publiziert seine Fluxionstheorie erst 1704 als Anhang der Opticks.

Als Newton also seine Principia verfasst, kann er nicht davon ausgehen, dass irgendein Leser die neue mathematische Methode kennt. Daher muss er auf klassische geometrische Beweisführungen zurückgreifen. Später wird der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783) Newtons Physik in die uns vertraute mathematische Form bringen, und zwar in seinem Werk Mechanica von 1736. Darin wird er nicht Newtons Flexionsrechnung verwenden, sondern die Differentialrechnung von Leibniz, die tatsächlich einige Vorzüge hat. Übrigens wird gerade Eulers Fassung der Newtonschen Physik zu deren gewaltigen Siegeszug beitragen.

Am Anfang der Principia definiert Newton Begriffe wie Größe der Materie (Masse), Größe der Bewegung (m×v), vis insita (Trägheit), auf einen Körper eingeprägte Kraft, sowie die Zentripetalkraft, die einen Körper auf einer Kreisbahn hält (Def I-V).

Interessant sind hier die starken Bezüge zur cartesischen Naturphilosophie. Erstens ist die Größe der Bewegung (m×v) ein wichtiger physikalischer Begriff bei Descartes. Heute würde man sie als „Impuls“ bezeichnen. Zweitens meint Newton mit der eingeprägten Kraft nicht etwa eine über eine Zeitdauer hinweg, stetig wirkende Kraft, sondern eine punktuell wirkende Stoßkraft[4]: „Diese Kraft besteht nur in der Einwirkung und dauert nach der Einwirkung in dem Körper auch nicht an.“

Wenn man weiß, wie sehr die Gravitation oder Schwerkraft für Newtons Physik wichtig ist, ist es erstaunlich, dass er keine Definition der Schwerkraft formuliert.

Mathematisierung der Zeit und Zeitmessung

Newton schreibt[5]:

„Die absolute, wahre und mathematische Zeit, an sich und ihrer Natur nach ohne Beziehung zu irgendetwas Äußerem, fließt gleichmäßig dahin und wird auch Dauer bezeichnet. Eine relative, scheinbare und allgemein übliche Zeit ist irgendein durch eine Bewegung feststellbares äußeres Maß (gleichgültig ob ein genaues oder ein ungleichmäßiges) für die Dauer, welches die gewöhnlichen Leute an Stelle der wahren Zeit benutzen, wie zum Beispiel eine Stunde, ein Tag, ein Monat und ein Jahr.“

Bei der Unterscheidung zwischen wahrer, „mathematischer“ Zeit und scheinbarer, relativer Zeit spielt offenbar die Zeitmessung eine wichtige Rolle, bei der, wie Newton richtig schreibt, jeweils eine regelmäßige Bewegung verwendet wird.

Wird Zeit auf der Grundlage einer regelmäßigen Bewegung gemessen, so muss man die Perioden dieser Bewegungen abzählen. Nehmen wir beispielsweise die naheliegende Abmessung der Zeit nach Tagen. Dann zählt man die Sonnenaufgänge, die einander folgen:

Möchte man kleinere Zeiteinheiten innerhalb des Tages messen, dann sind Stunden das nächst Naheliegende. Um zu messen, wie viel Stunden ein Zeitabschnitt gedauert hat, können z.B. Sanduhren, Sonnenuhren oder andere Arten von Uhren verwendet werden. Welche Methode man auch nimmt, immer wird irgendeine als regelmäßig angenommene Bewegung verwendet, um die vergangenen Stunden zu zählen. Sanduhren beruhen darauf, dass eine bestimmte Menge an Sand nur allmählich durch eine enge Öffnung rieselt. Sonnenuhren richten sich nach dem Lauf der Sonne.

Ab dem 14. Jahrhundert wurden sogenannte Räderuhren gebaut. Sie funktionierten mechanisch, indem ein Antriebsstab mit einem langen Seil umwickelt wurde, an dessen beiden Enden jeweils ein Gewicht befestigt war. Diese Gewichte waren unterschiedlich schwer, so dass sich das Seil langsam in die Richtung des schwereren Gewichts bewegte und so den Mechanismus bediente. Anfangs hatten sie noch keine Ziffernblätter; stattdessen wurde die jeweilige Stunde akustisch geschlagen. Um zu wissen, wie viele Stunden etwas gedauert hat, musste man somit diese Schläge zählen:

Irgendwann gaben sie auch Viertelstunden an. Minuten aber oder gar Sekunden wurden lange noch nicht gemessen. Später wurde das Abzählen der Stunden bzw. Viertelstunden wurde durch ein Ziffernblatt erleichtert.

1657 erfand Huygens die die Pendeluhr, wobei er die regelmäßige Bewegung des Pendels ausnützte. Etwas später erfand er die Taschenuhr, deren Funktionsprinzip Feder und Unruh ist. Jetzt war es möglich, Minuten und sogar Sekunden zu messen.  Zum Abzählen der Zeiteinheiten wurde jetzt standardmäßig das Ziffernblatt verwendet.

Egal, welche Methode man verwendet, um Zeit zu messen, sie wird immer relativ zu einer Bewegung gemessen, von der man annimmt, dass sie sich in gleichlangen Perioden regelmäßig wiederholt. Was auch immer hierbei gemessen wird, es handelt sich um eine scheinbare Zeit, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wird jede konkrete Zeitmessung immer mehr oder minder unpräzise sein. Wie minimal sie auch sind, es werden immer auch Unregelmäßigkeiten auftreten, die zu Messfehlern führen. Zweitens und vielleicht wichtiger: Gemessene Zeit ist immer diskret. Welche Zeitmessung man auch verwendet, immer wird die Wiederkehr einer Periode abgezählt: 1, 2, 3, etc. Diesen Zusammenhang zwischen Zeitmessung und dem Zählen wird Kant später aufgreifen und behaupten, dass die Zeitlichkeit jeder sinnlichen Erfahrung die notwendige Gültigkeit der Arithmetik zur Folge hat.

Nach Newton aber fließt die wahre, absolute Zeit. Das heißt, er denkt sie sich als eine Größe, die die Mathematiker „Kontinuum“ nennen und die meistens als unendliche, ununterbrochene Linie dargestellt wird:

Das Wesen des Kontinuums besteht darin, dass man jedes Intervall, wie klein es auch sein mag, noch weiter teilen kann, und so weiter bis ins Unendliche. Das passt gut dazu, dass man Tage in Stunden teilen kann, Stunden in Minuten, Minuten in Sekunden, Sekunden in Zehntelsekunden und man wird Zeiteinheiten theoretisch immer noch kleiner machen können. Messungen von diskreten Zeiteinheiten, wie klein sie auch sein mögen, werden nie die kontinuierliche, wahre Zeit selbst im Sinne Newtons ergeben. Übrigens hat auch bereits Galilei die Zeit als geometrische Linie aufgefasst[6].

Die kontinuierlich fließende Zeit wird bis heute in der Physik als x-Achse im Koordinatensystem dargestellt. Es ist nämlich so: Nur unter dieser Voraussetzung, dass die Zeit ein Kontinuum ist, kann man die Methoden der Differentialrechnung verwenden. Newton nannte sie noch „Fluxionsrechnung“, was gut auf den angenommenen fließenden Charakter der Zeit hinweist. Theoretisch wäre auch eine mathematische Physik denkbar, die die Zeit als in kleinste, unteilbare, diskrete Einheiten, als lauter minimal ausgedehnte Jetzts, auffasst. Aber die entsprechende Mathematik wäre ungleich komplexer.

Die kontinuierliche, „wahre“ Zeit nennt Newton auch „mathematisch“, weil sich nur so die infinitesimale Mathematik anwenden lässt. In diesem Sinne schreibt De Padova[7]:

„[Newtons] Rechnen mit fließenden Größen, mit Geschwindigkeiten und Beschleunigungen, setzt eine gleichmäßige, kontinuierliche, lineare Zeit bereits voraus. Sie ist fester Bestandteil seiner Mathematik.“

An dieser Stelle gibt es allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen Newton und der heutigen Physik. Die meisten heutigen Physiker stellen die Zeit als kontinuierliche Linie dar, einfach weil es mathematisch praktisch ist, sie enthalten sich aber eines Urteils, ob die wirkliche Zeit, so wie sie in der Natur tatsächlich existiert, auch ein Kontinuum ist[8]. Das ist, auf den Punkt gebracht, die Aussage von Carnaps Aufsatz Empirismus, Semantik und Ontologie von 1950. Newton hingegen identifiziert die mathematische Darstellung mit der wahren Zeit, wie sie an sich ist. Das ist eine Form von Metaphysik und entspricht dem, was ich die Mathematisierung der Natur genannt habe. Die Wirklichkeit, in diesem Fall die wirkliche, physische Zeit wird als wesentlich und immanent mathematisch aufgefasst, und mit dem mathematischen Kontinuum identifiziert.

Für seine Theorie braucht Newton die absolute Zeit, ähnlich wie er den absoluten Raum für seine Fassung des Trägheitsgesetzes benötigt, wie Carl Neumann 1869 in seinem Vortrag Ueber die Principien der Galilei-Newtonschen Theorie zeigen wird[9].

Absoluter Raum

Newton unterscheidet ferner zwischen einem wahren, absoluten, mathematischen Raum von einem scheinbaren, relativen Raum[10]:

„Der absolute Raum, seiner Natur nach ohne Beziehung zu irgendetwas Äußerem, bleibt immer gleichartig und unbeweglich. Ein relativer Raum ist für diesen Raum ein Maß bzw. eine beliebige bewegliche Dimension, die von unseren Sinnen durch ihre Lage zu den Körpern bestimmt wird und den gewöhnlichen Leuten an Stelle des unbeweglichen Raumes benutzt wird.”

Den dreidimensionalen Raum stellt man sich am besten als Koordinatensystem vor, bei dem die drei Dimensionen durch drei unendliche Geraden dargestellt werden, der x-, y- und z-Achse. Nehmen wir an, das Weltall bestünde nur aus zwei Körpern, A und B, und wir möchten ein Modell für ihre physikalischen Interaktionen entwerfen.  Dann könnten wir Symbole für diese Körper in einem dreidimensionalen Koordinatensystem an unendlich vielen Stellen positionieren, sofern nur ihr räumlicher Abstand gleich bleibt. Genau genommen, bleiben natürlich die Körper A und B immer an derselben Stelle, wir legen nur verschiedene Koordinatensystem um sie herum:

Im ersten Koordinatensystem liegt A bei (0,0,0) und B bei (2,0,0). Das zweite Koordinatensystem ist etwas nach links verschoben, so dass A jetzt bei (1,0,0) und B bei (3,0,0) liegt. Das dritte Koordinatensystem ist 90° im Uhrzeigersinn gedreht, so dass jetzt A und B nicht mehr nebeneinander, sondern hintereinander dargestellt werden. Es bietet sich die Sprechweise an: Die räumliche Lage der beiden Körper ist an sich immer dieselbe, sie wird nur je nach beliebiger Wahl des Koordinatensystems unterschiedlich dargestellt.

In der Physik geht es aber oft um dynamische Systeme. Die bisherigen räumlichen Darstellungen waren nur Momentaufnahmen. Nehmen wir nun an, dass sich A und B mit konstanter Geschwindigkeit voneinander wegbewegen. Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese Sachlage darzustellen, z.B. im ersten Koordinatensystem:

  • A wird als ruhend belassen, während sich B nach rechts entfernt. Oder umgekehrt:
  • B bleibt unbeweglich, während sich A nach links entfernt. Oder:
  • Beide bewegen sich, A nach links, B nach rechts.

Je nachdem, hat man einen unterschiedlichen Eindruck davon, was passiert. Im Fall (1) sieht es aus, als würde A ruhen und B würde sich bewegen. Im Fall (2) scheint B zu ruhen und A sich zu bewegen. Und im Fall (3) scheinen beide Körper gleichermaßen in Bewegung. Je nach – willkürlicher – Darstellung scheint man ein unterschiedliches Geschehen zu haben. Und natürlich drängt sich die Frage auf: Was passiert nun aber tatsächlich? Welcher der beiden Körper ruht nun wirklich, und welcher bewegt sich wirklich?

Heutzutage kennen die meisten die Grundgedanken der Relativitätstheorie, wonach man nur von relativen Bewegungen, niemals von absoluten Bewegungen sprechen darf. Auch Leibniz und später Ernst Mach argumentieren in diese Richtung. Newton hingegen glaubt fest, dass man in der Physik von absoluter Ruhe, absoluter Bewegung und somit auch von einem absoluten Raum sprechen muss. Nur dann trifft die Physik die Dinge so, wie sie wirklich, an und für sich sind. Ansonsten wäre sie nur eine „Wissenschaft“ von scheinbaren Ereignissen. Physik geht nicht auf bloße Erscheinungen, sondern will das Wesen der Natur erkennen. Damit überschreitet Newton aber den Bereich der sinnlichen Empirie und wird metaphysisch[11]:

„Da in der Tat diese [absoluten] Raumteile weder gesehen noch mit Hilfe unserer Sinne voneinander unterschieden werden können, benutzen wir an ihrer Stelle feststellbare Maße. Wir bestimmen nämlich aufgrund der Stellungen und der Abstände der Dinge von irgendeinem Körper, den wir als unbeweglich ansehen, sämtliche Orte und beurteilen von da an auch alle Bewegungen in Bezug auf die soeben genannten Orte insoweit, wie wir feststellen, dass sich die Körper von ebendiesen Orten weg verlagern. So benutzen wir die alltäglichen Dinge vollkommen ausreichend an Stelle der absoluten Orte […] relative Orte […]. Bei physikalischen Dingen muss man sich aber von den Sinnen frei machen [meine Hervorhebung].“

Gerade der letzte, von mir hervorgehobene Satz, ist mehr als erstaunlich. Erstens weil Newton heute als einer der Begründer der empirischen Naturwissenschaft gilt. Zweitens schreibt er selbst am Ende der Principia[12], er erdichte keine Hypothesen („hypotheses non fingo“), was man häufig so interpretiert, Newton würde metaphysische Spekulationen in der Physik ablehnen. Mit seiner Behauptung, es gäbe einen absoluten Raum, tut er aber offenbar genau dies.

In diesem Zusammenhang kann man darauf verweisen, dass Newton den absoluten Raum zwar nicht für sinnlich erfahrbar hält, er glaubt aber seine Existenz a) durch ein Gedankenexperiment und b) durch ein tatsächliches, recht einfaches Experiment belegen zu können. Das Problem ist nur, dass beide gemäß seiner eigenen Physik fehlerhaft sind, worauf beispielsweise auch Ernst Mach hingewiesen hat.

Das Gedankenexperiment geht in etwa wie folgt: Nehmen wir an, das gesamte Weltall wäre leer bis auf zwei Körper A und B. Nun würde plötzlich auf A ein Kraftstoß einwirken, so dass sich A von B entfernt. Bezogen auf ein beliebig wählbares Koordinatensystem, könnte man den Sachverhalt so darstellen, als ob sich B von A wegbewegen würde. Da aber, gemäß unserer Voraussetzung, tatsächlich auf A die Kraft eingewirkt hat, ist klar, dass ein so gewähltes Koordinatensystem nicht dem realen physikalischen Sachverhalt entspricht, wie er an sich besteht.

So weit so gut. Das scheint wirklich ein Argument zu sein. Der absolute Raum entspricht den Verhältnissen, die durch die realen, an sich bestehenden Kräfte bewirkt werden, während der relative Raum deswegen scheinbar ist, weil hier die Dinge irgendwie räumlich dargestellt werden, aber ohne Berücksichtigung der real wirkenden Kräfte. Der Haken an dem Gedankenexperiment ist nur: Wenn es außer den beiden Körpern A und B nichts weiter im Weltall gibt, woher soll dann die Kraft kommen, der A von B wegstößt? Und gemäß Newtons eigener Physik dürfte es keine Kraft ohne Gegenkraft geben. Wo in dem Gedankenbeispiel ist die zugehörige Gegenkraft? Es müsste ein göttlicher Eingriff sein. Dann sind wir aber wieder bei der Metaphysik.

Um den absoluten Raum experimentell zu belegen, beschreibt Newton in den Principia das sog. Eimerexperiment[13]. Ein Eimer wird an einer Schnur aufgehängt, dann gegen den Uhrzeigersinn gedreht, so dass die Schnur sich verdrillt. Nun gibt es vier Phasen:

Zustand des Eimers Zustand des Wassers
Phase 1:

Bevor der Eimer losgelassen wird

Eimer ruht. Wasser ruht. Wasseroberfläche ist flach.
Phase 2:

Der Eimer wird losgelassen.

Eimer dreht sich im Uhrzeigersinn (UZS). Aufgrund der Trägheit des Wassers widersetzt sich das Wasser zunächst der Bewegung des Eimers, beschleunigt nur allmählich. Die Oberfläche bleibt flach.
Phase 3:

Der Eimer und Wasser drehen sich synchron

Eimer dreht sich im UZS mit der Geschwindigkeit v. Das Wasser dreht sich jetzt gleichschnell wie der Eimer im UZS. Die Wasseroberfläche ist jetzt konkav, d.h. zu den Eimerrändern hin höher als in der Mitte.
Phase 4: Der Eimer kommt zum Stehen, Wasser dreht weiter Schließlich kommt der Eimer zur Ruhe. Das Wasser dreht sich weiter im UZS, die Oberfläche bleibt konkav.

Die relative Bewegung von Eimer und Wasser bei Phase 1 und 3 sind identisch, nur die Wasseroberfläche ist anders. Beide Male „ruht“ das Wasser relativ zum Eimer. Überlegen wir uns nun verschiedene Koordinatensysteme, die immer den Eimer im 0-Punkt haben, aber sich unterschiedlich bewegen. Beginnen wir damit, ein Koordinatensystem 1 zu wählen, dem gemäß Eimer und Wasser in Phase 1 ruht. Wählen wir ein Koordinatensystem 2, das sich mit einer Geschwindigkeit v entgegen dem Uhrzeigersinn bewegt. Bezogen auf dieses zweite Koordinatensystem drehen sich Eimer und Wasser scheinbar in Phase 1 im UZS, dafür scheinen sie in Phase 3 zu ruhen.

Hier sieht man, was Newton damit meint, dass der relative Raum „scheinbar“ ist. Wir halten ja den Eimer und das Wasser anfangs für ruhend und in Phase 3 für sich bewegend. Durch das zweite Koordinatensystem kann der Sachverhalt genau umgekehrt dargestellt werden. Scheinbar bewegen sich Eimer und Wasser in Phase 1 und ruhen in Phase 3. Ist es somit vollkommen beliebig, bzw. ist es nur eine Frage der Darstellung, ob wir bei einem Körper von Ruhe oder von Bewegung sprechen können? Ist alles relativ?

Newton sagt definitiv nein. Wir können zwar die Koordinatensysteme so wählen, dass einmal Eimer und Wasser in Phase 1 ruhen, andermal in Phase 3 zu ruhen scheinen. Aber es gibt trotzdem einen wahrnehmbaren physikalischen Unterschied zwischen dem Verhalten des Wassers. In Phase 1 ist die Wasseroberfläche flach, in Phase 3 ist sie konkav. Offenbar wirken in Phase 3 Fliehkräfte auf das Wasser ein, die es in Phase 1 nicht gibt. So schließt Newton, dass die Wahl des Koordinatensystems nicht ganz beliebig ist. Das erste würde dem entsprechen, wie die physikalischen Kräfte tatsächlich wirken, während das zweite dazu im Widerspruch steht.

Leider ist Newtons Eimerexperiment nicht stichhaltig. Es beweist nicht die Existenz eines absoluten Raumes. Newton vernachlässigt, dass dieses Experiment auf der Erde ausgeführt wird, und deswegen ein wesentlicher Faktor die Gravitation der Erde ist. Nur deswegen kommt es in Phase 1 und Phase 3 zu unterschiedlichen Wasseroberflächen. Würde man das Experiment im Weltall, weitestgehend frei von großen Gravitationskräften, ausführen, ist es sehr wahrscheinlich, dass man andere Phänomene beobachten würde.

Zum Schluss noch eine wissenschaftstheoretische Anmerkung. Newton stellt ja die Behauptung auf, dass es einen absoluten Raum gibt. Aus dem Zusammenhang ist klar, dass er sie für hochgradig gewiss hält. Dass der absolute Raum existiert, ist, wie Newton schreibt, nicht direkt sinnlich erfahrbar. Wenn diese Behauptung aber durch sinnliche Erfahrung nicht verifizierbar ist, dann muss das offenbar irgendwie nicht-empirisch geschehen. Eigentlich bietet sich hier nur die Vernunfteinsicht an. Somit müsste die Aussage, dass der absolute Raum existiert, eine Vernunftwahrheit sein, also ein Prinzip im aristotelischen Sinne.

Nach Aristoteles verschafft man sich Einsicht in ein naturwissenschaftliches Prinzip mittels (aristotelischer) Induktion, d.h. indem man ein paar wenige konkrete Beispiele betrachtet und darauf hofft, dass die Vernunfterkenntnis von alleine aufblitzt. Meiner Auffassung nach haben die Gedankenexperimente bei Galilei genau diese Funktion. Interessant ist nun, dass Newton offenbar genauso vorgeht. Um sein „Axiom“ vom absoluten Raum einsichtig zu machen, gibt er ein Gedankenexperiment als auch ein tatsächlich ausführbares Experiment an. Ich denke, dass beide als Bestandteil einer aristotelischen Induktion zu verstehen sind. Eine baconschen Induktion kann es jedenfalls nicht sein, weil Newton hier nur zwei Instanzen verwendet, um sein allgemeines Prinzip plausibel zu machen. Für Bacon wäre das ein Musterbeispiel einer voreiligen und somit empirisch unbegründeten Verallgemeinerung.

Die Bewegungsgesetze als Axiome der klassischen Physik

Nach den einleitenden Definitionen und nachdem Newton Raum und Zeit erörtert hat, führt er seine drei berühmten Bewegungsgesetze ein:

Gesetz 1: Trägheit.

Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.

Gesetz 2: \(\vec{F}=m\cdot\vec{a}\) oder \(\vec{F}\sim m\cdot\vec{v}\)?

Die Änderung der Bewegung ist der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welcher jene Kraft wirkt.

Gesetz 3: Actio=Reactio.

Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper auf einander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.

Dass diese drei Bewegungsgesetzen den Status von Axiomen in Newtons Physik haben, sagen viele Wissenschaftshistoriker, beispielsweise Helmut Pulte oder E.J. Dijksterhuis[14]. Darauf will ich weiter unten näher eingehen. Jetzt werde ich zunächst ein paar Anmerkungen zu diesen Gesetzen machen. Einerseits ist ihr naturphilosophischer Hintergrund interessant. Andererseits möchte ich auf einen Punkt hinweisen, der mir wichtig erscheint, nämlich wie Newton versucht, diese Gesetze anhand von konkreten Beispielen evident zu machen, was sehr nach einer aristotelischen Induktion aussieht.

Im Anschluss werde ich weitere Bezüge zur cartesischen Naturphilosophie herstellen. Schließlich werde ich vor allem mit Bezug auf Pultes Buch Axiomatik und Empirie zeigen, dass Newton ein aristotelischen Wissenschaftsmodell vertritt, nur mit dem Unterschied, dass es mathematisch modifiziert ist.

Zu Gesetz 1: Trägheit.

Einer der fundamentalen Unterschiede zwischen aristotelischer und moderner Physik ist das Trägheitsprinzip. Aristoteles ging von der Alltagserfahrung aus, dass sich beispielsweise ein Wagen so lange bewegt, wie er von einem Pferd gezogen wird, und dass er stoppt, sobald das Pferd stehen bleibt. So glaubte Aristoteles, dass die Bewegung eines Körpers nur so lange anhält, wie eine Kraft auf ihn wirkt, aber nicht länger. Offenbar ist ihm entgangen, dass der Wagen, nachdem das Pferd angehalten hat, noch die Tendenz hat, weiterzurollen. Galilei ist dieses Phänomen der Legende nach bei Booten aufgefallen, die Wasser transportieren. Kaum werden sie abgebremst, fängt das transportierte Wasser an zu schwappen. Auch ist ihm aufgefallen, dass ein Stein, der vom Mast eines fahrenden Schiffs losgelassen wird, die Bewegung des Schiffs sozusagen mitnimmt, so dass er, vom Ufer aus gesehen, in einer Parabel nach unten fällt.

So formulierte Galilei im Dialog über die Weltsysteme[15] eine Vorform des Trägheitsprinzips. Es handelt sich deswegen nur um eine Vorform des Trägheitsprinzips, weil er noch Kräfte annahm, die in dem Körper die Trägheit bewirken. So als würde das fahrende Schiff einem Gegenstand, den man auf ihm stehend hochwirft, eine Art Schwung mitgeben.

Erstmals bei Descartes kann man lesen, dass eine konstante, geradlinige Bewegung ein ähnlicher (passiver) Zustand ist wie die Ruhe[16]. Demnach gilt: So, wie keine Kraft notwendig ist, damit ein ruhender Körper in Ruhe bleibt, so ist auch keine Kraft notwendig, um einen Körper, der sich geradlinig mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt, in dieser Bewegung zu belassen. Eine Kraft ist nur dann erforderlich, wenn ein ruhender Körper bewegt werden soll, oder wenn eine gleichförmige, geradlinige Bewegung geändert werden soll. Ohne äußere Ursache, würde sich die Ruhe, als auch die gleichförmige, geradlinige Bewegung bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Damit änderte sich fundamental die Sichtweise auf Bewegung und Ruhe[17]. Bei Aristoteles waren Ruhe und Bewegung Gegensätze. Ruhe galt als Zustand, Bewegung aber sollte es nur aufgrund der Einwirkung einer Kraft geben. Bei Descartes hingegen, und dann auch bei Newton, sind gleichbleibende, geradlinige Bewegungen und Ruhe gleichermaßen passive Zustände. So besagt das Trägheitsgesetz: Wenn ein Körper erst einmal in einem solchen Zustand ist, dann bleibt er darin, sofern keine äußere Kraft stört.

Das Gesagte wird besonders klar bezogen auf den relativen Raum. Denn bezogen auf einen gegebenen ruhenden Körper kann man ein räumliches Koordinatensystem so wählen, dass es so scheint, als wäre er in Bewegung. Und für einen Körper, der sich mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig bewegt, kann man ein Koordinatensystem so festlegen, dass er, darauf bezogen, als ruhend erscheint. Ob ein Körper in Ruhe ist oder in gleichförmiger geradliniger Bewegung, ist somit eine Frage des gewählten Koordinatensystems.

Hierzu noch eine kleine Anmerkung: Leibniz und auch später Kant fassten die Trägheit als durchaus aktive Widerstandskraft auf, die notwendig sei, um sich einer Änderung des Bewegungszustandes zu widersetzen.

Wie ich bereits in Zusammenhang mit Galilei gesagt habe, ist das Trägheitsprinzip eine Idealisierung, die durch Experimente nicht widerlegt werden kann. Würden wir beispielsweise über eine sehr große, sehr ebene und sehr glatte Fläche eine perfekte Kugel rollen lassen, dann wird sie trotz bester Voraussetzungen irgendwann zum Stehen kommen. Weder Galilei noch Newton würden das aber als Falsifikation des Trägheitsprinzips akzeptieren. Stattdessen würden sie auf kleinste Reibungsverluste verweisen und behaupten, dass sie sich in der Praxis einfach nicht vollständig verhindern lassen.

Carl Neumann weist 1869 darauf hin, dass Newtons Trägheitsgesetz einen absoluten Raum und eine absolute Zeit voraussetzt. Erinnern wir uns an die beiden Körper A und B, die sich in konstanter, relativer Bewegung voneinander entfernen. Je nachdem, welcher Körper tatsächlich und an sich ruht, ist einer „geradlinige“ Bewegung anders zu verstehen.

Nehmen wir den Fall an, dass A tatsächlich ruht und B sich in einer absoluten Bewegung weg von A befindet. Das Koordinatensystem soll A im Ursprung haben, so dass es den absoluten Raum darstellt. Nehmen wir nun an, dass ein Projektil C vom Körper B parallel zur y-Achse nach oben geschossen wird. Dann wird die Flugbahn, von B aus, so aussehen, als würde es direkt geradlinig nach oben fliegen. Das wäre aber bloßer Schein, denn tatsächlich und von A aus sieht sie gekrümmt aus. Nur ein Projektil, das von A abgeschossen wird, hätte tatsächlich eine an sich geradlinige Flugbahn. Haben wir aber den umgekehrten Fall, dass B an sich ruhend ist und A sich faktisch von B wegbewegt, dann verhält es sich genau umgekehrt. Der Begriff einer „geradlinigen“ Bewegung in dem Sinne, dass tatsächlich, an und für sich eine geometrische Gerade durchlaufen wird, setzt einen absoluten Raum voraus.

Ferner spricht das Trägheitsgesetz von einer „gleichförmigen“ Bewegung, also einer Bewegung mit vollkommen konstanter Geschwindigkeit. Dass ein Körper sich mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt, kann man nur messen bezogen auf die periodische Bewegung eines anderen Körpers, z.B. bezogen auf das Hin und Her eines Pendels. Welche Bewegung man aber immer als Vergleichsmaßstab hernimmt, man hat nie 100%ige Gewissheit, dass ihre Perioden tatsächlich vollkommen gleichlange dauern. Nur bezogen auf eine absolute Zeit, die völlig gleichmäßig fließt, kann man eine konstante Geschwindigkeit perfekt definieren.

Newton formuliert also das Trägheitsgesetz so: Ein wirklich bewegter Körper läuft, solange keine Kraft auf ihn einwirkt, geradlinig (bezogen auf den absoluten Raum) weiter, und zwar mit einer vollkommen konstanten Geschwindigkeit (bezogen auf die absolute Zeit). Bzw.: Ein wirklich (bezogen auf die absolute Zeit) ruhender Körper bleibt, solange keine Kraft auf ihn einwirkt, weiterhin in Ruhe (bezogen auf den absoluten Raum).

Zu Gesetz 2: \(\vec{F}=m\cdot\vec{a}\) oder \(\vec{F}\sim m\cdot\vec{v}\)?

In heutigen Lehrbüchern lautet die mathematische Formulierung für das zweite Newtonsche Bewegungsgesetz: \(\vec{F}=m\cdot\vec{a}\).  Das heißt: Eine Kraft, die konstant auf einen Körper einwirkt, bewirkt eine Änderung der Geschwindigkeit, also eine Beschleunigung. Aristoteles nahm bekanntlich an, dass eine konstante Kraft zu einer konstanten (also nicht-beschleunigten) Bewegung führt. So entspricht es ja auch dem alltäglichen Augenschein: Das Pferd zieht mit gleichbleibender Kraft den Wagen, der sich dann mit gleichbleibender Geschwindigkeit fortbewegt. Kaum hört das Pferd auf zu ziehen, bleibt der Wagen stehen.

Nun hat Newton das zweite Bewegungsgesetz leider nicht in mathematischer Sprache formuliert, so dass man am Text herumrätseln kann, was er genau meinte. Genau genommen hat er geschrieben:

Die Änderung der Bewegung (motus) eines Körpers ist proportional der Bewegungskraft (vis motrix), die auf den Körper einwirkt.

Es kommt alles darauf an, wie man die „Bewegung“ hier versteht. Setzt man hier „Bewegung“ mit „Geschwindigkeit“ gleich, dann ist „Änderung der Bewegung“ die „Änderung der Geschwindigkeit“, also Beschleunigung. Damit hätte man die heute übliche Formel. Nun schreibt aber Newton in den Erläuterungen zum zweiten Bewegungsgesetz:

„Und wenn sich der Körper vorher bewegte, so wird diese Bewegung […] entweder zu seiner Bewegung addiert, falls ihre Bewegung gleich gerichtet ist, oder subtrahiert, falls seine Bewegung entgegengesetzt gerichtet ist, oder an seine Bewegung schräg angetragen, falls seine Bewegung schräg ist.“

Das klingt aber nicht so, als würde zu einer bereits vorhandenen Bewegung eine beschleunigte Bewegung hinzukommen, die sich allmählich von Null beginnend steigert. Es klingt eher so, als würde zu einer vorhandenen Bewegung eine neue Bewegung hinzukommen, die eine feststehende Richtung und eine feststehende konstante Geschwindigkeit hat:

Das sieht dann eher nach Stoß- bzw. Impulsgesetzen aus. Dies wiederum passt dazu, dass Newton eingangs die „Bewegungsgröße“, ganz im Sinne Descartes‘, als m×v definiert hat, was wir heute „Impuls“ nennen. Demnach müsste man Newtons zweites Gesetz so verstehen:

Die Änderung der Bewegungsgröße (\(m\cdot\vec{v}\)) eines Körpers ist proportional der Kraft, die dem Körper den Stoß versetzt.

Die allermeisten Wissenschaftshistoriker kommen zu demselben Ergebnis. So schreibt Dijksterhuis[18]:

„[…] wenn man […] die von Newton gegebene Grundlegung mit kindlicher Unbefangenheit, also unter Ausschaltung von allem, was man schon weiß, und daher zu finden erwartet, durcharbeitet, so zeigt es sich, dass sie die wichtigste Grundlage [das Bewegungsgesetz F=ma] für die klassische Mechanik keineswegs enthält.“

Diese Interpretation passt auch deswegen, weil zu der Zeit, als Newton die Principia verfasst, die Vorstellung Descartes‘ noch vorherrscht, alles physikalische Geschehen in der materiellen Welt auf Stöße zurückführen zu wollen. Außer seinen Bemerkungen zur Additivität der Bewegungsgröße erläutert Newton das zweite Bewegungsgesetz mit keinerlei konkreten Beispielen. Auch das vermittelt den Eindruck, dass Newton glaubt, mit dem zweiten Bewegungsgesetz etwas formuliert zu haben, was für damalige Physiker eine absolute Selbstverständlichkeit ist. Zumal Newton anfangs, wie gesagt, genau die cartesische Definition verwendet.

Tatsächlich hat erst Euler in seinem Werk Mechanica (1736) das zweite Bewegungsgesetzes in seine heutige Form gebracht. Übrigens wird auch Kant hundert Jahre später in seinem Versuch, die Newtonsche Physik metaphysisch zu begründen, nicht auf das zweite Bewegungsgesetz in der Form F=ma Bezug nehmen. Vielmehr wird auch er die Newtonsche Physik vor allem als Stoß-Physik verstehen, mit dem „Bewegungsquantum“ mv als zentralen Begriff. Kant wird also Eulers Weiterentwicklung ignorieren.

Zu Gesetz 3: Actio=Reactio.

Auch bei der Formulierung dieses Prinzips ist Newton ungenau. Er spricht von „actio“ und „reactio“ bzw. von „Wirkung“ und „Gegenwirkung“. Man kann es auf zwei Weisen verstehen. Die erste Interpretation, ist, dass es sich auf über eine Zeitdauer hinweg konstant wirkende Kräfte bezieht, und so wird es in den Principia auch zumeist angewendet. Somit lautetet es eigentlich: Jeder Kraft F, die auf einen Körper einwirkt, entspricht eine Gegenkraft, die gleichgroß wie F ist, aber ihr genau entgegengesetzt ist. Dass er dieses Prinzip so versteht, sieht man anhand der konkreten Beispiele, die er anführt, um dieses Prinzip klar zu machen[19]:

„[…] Wenn jemand mit einem Finger auf einen Stein drückt, so wird auch sein Finger von dem Stein gedrückt. Wenn ein Pferd einen an einem Seil befestigten Stein zieht, so wird auch das Pferd sozusagen gleich stark zum Stein hin zurückgezogen. […]“

Er scheint sich aber auch auf punktuell wirkende Stoßkräfte zu beziehen, denn er setzt fort:

„Wenn irgendein Körper, indem er auf einen anderen Körper stößt, dessen Bewegung durch seine Kraft auf irgendeine Weise verändern sollte, so wird derselbe Körper umgekehrt auch an seiner eigenen Bewegung dieselbe Änderung in entgegengesetzter Richtung durch die Kraft des anderen Körpers (wegen der Gleichheit des gegenseitigen Drucks) ertragen müssen.“

So könnte man zweitens das „actio=reactio“ als Impulserhaltungssatz interpretieren.

Die erste Interpretation wird wiederum durch die „Veranschaulichung“ bestärkt, die er etwas später gibt, um zu weiten, wie „actio=reactio“ auch für Anziehungskräfte gilt[20]. Dabei schildert Newton ein Gedankenexperiment, sowie ein echtes Experiment mit einem Magneten. Zum Gedankenexperiment schreibt er:

„Man stelle sich vor, zwischen zwei beliebigen, sich gegenseitig anziehenden Körpern, A, B werde ein beliebiges Hindernis besetzt, durch welches ihr Zusammentreffen verhindert werden soll. Wenn der eine Körper A zu dem anderen Körper B hin stärker gezogen wird als jener Körper B zu dem ersteren Körper A hin, so wird das Hindernis vom Druck des Körpers A stärker als vom Druck des Körpers B bedrängt werden und wird demnach nicht im Gleichgewicht bleiben. Der stärkere Druck wird überwiegen und bewirken, dass das System aus den beiden Körpern und dem Hindernis geradlinig in die Richtung nach B hin bewegt und sich infolge der in freien Räumen ständig beschleunigten Bewegung ins Unendliche entfern. Dies ist absurd […]“

Zweitens beschreibt Newton einen Versuch, bei dem er in einem stillen Wasser zwei kleine Schiffchen schwimmen lässt, wobei das eine einen Magneten trägt und das andere ein Stück Eisen. Zunächst treiben sei aufeinander zu, bis sie sich berühren. Und dann bleiben sie in Ruhe. Offenbar besteht jetzt ein Kräftegleichgewicht.

Man kann sich fragen, ob es nicht einen tieferen Grund hat, warum Newton diese Veranschaulichung so weit entfernt von der Formulierung des Prinzips nennt.

Insgesamt hat man den Eindruck, dass Newton im „theoretischen“ Teil der Principia, d.h. dem, in dem er die Definitionen und die Gesetze auflistet, zwischen a) einer cartesischer Stoß-Physik und b) einer Physik mit kontinuierlich wirkenden Kräften schwankt, bei der er vor allem bereits die Schwerkraft im Sinn hat. In den Teilen hingegen, in denen er seine Theoreme herleitet, verwendet er die Physik a) überhaupt nicht, sondern ausschließlich Physik b), und zwar vor allem bezogen auf fernwirkende Anziehungskräfte.

Meiner Meinung nach handelt es sich bei diesen Beispielen, Gedankenexperimenten und Experimenten klar um eine aristotelische Induktion. Es geht darum, dadurch ein allgemeines Prinzip evident zu machen.

Poincaré meint übrigens, dass das dritte Bewegungsgesetz notwendig ist, um überhaupt sinnvoll von „Kräften“ reden zu können, bzw. um sie überhaupt quantitativ messbar zu machen. Ansonsten wären sie nur eine metaphysische Spekulation. Ohne die Annahme von actio=reactio, könnte man nicht einmal eine Waage verwenden[21].

Bezug zur cartesischen Stoßphysik

Newton geht zwar andere Wege als Descartes, steht aber noch in der Tradition cartesischer Naturphilosophie. Immerhin war sie zur Zeit Newtons unter Wissenschaftlern weitverbreitet und gab den allgemeinen Standard vor. Descartes stand wie kaum ein anderer für die Forderung nach einer neuen mathematisch orientierten Naturwissenschaft. Und nichts schien vernünftiger zu sein, als alle physikalischen Phänomene letztlich auf Stöße zurückzuführen, bei denen ein materieller Körper die Bewegung eines anderen Körpers durch direkten Kontakt beeinflusst. Die Annahme hingegen von Ursachen, die ohne körperliche Berührung eine Wirkung erzielten sollten, wie die aristotelischen Form- oder Zweckursachen, galt als dunkel und irrational.

Andererseits beschäftigt sich Newton in den Principia vor allem mit stetig wirkenden Kräften, und nicht mit punktuellen Stößen. Die Schwerkraft ist eine andauernde Kraft, ebenso die Zentripetalkraft. Auch das heute bekannte F=ma bezieht sich auf eine kontinuierliche wirkende Kraft und nicht auf einen punktuellen Stoß. Meine Vermutung ist, dass für Newton tatsächlich die punktuell wirkende Stoßkraft das Primäre ist, wodurch er die andauernde Kraft erklären möchte. Immerhin ist es mehr als auffällig, dass sich die Definitionen am Anfang der Principia eindeutig auf punktuelle Stoßkräfte beziehen, und kontinuierlich wirkende Kräfte einfach ausklammert werden. So definiert er die „Bewegungsgröße“ als Impuls, der eben bei Stößen wichtig ist. Ebenso schreibt er explizit, dass die „eingeprägte Kraft“ nur in der „Einwirkung besteht“ und danach nicht weiter andauert. Auch das zweite Bewegungsgesetz, so wie es bei Newton dasteht, lautet \(\vec{F}\sim m\cdot\vec{v}\) und bezieht sich offensichtlich auf punktuell wirkende Stoßkräfte.

Die Vermutung ist naheliegend, dass sich Newton eine andauernde Kraft als infinitesimalen Grenzwert unendlich vieler punktueller Stoßkräfte dachte.

Bereits das physikalische Problem, mit dem sich Newton als junger Wissenschaftler beschäftigte, löste er 1665 genau auf diese Weise. Er sollte herausfinden, welche Kräfte wirksam sind, um einen Körper mit konstanter Geschwindigkeit auf einer Kreisbahn zwingen[22]. Die Grundidee für seine Lösung besteht darin, einem Kreis zunächst ein Quadrat einzuschreiben, dann ein Sechseck und dann immer mehr regelmäßige Polygone, die nach und nach die Kreiskurve approximieren.  Dann berechnete er diejenige punktuell einwirkende Kraft, die an jedem Eck eines solchen Polygons notwendig ist, um den Körper auf der Bahn zu halten.  So gibt es im Quadrat vier Kraftstöße, im Sechseck sechs Kraftstöße und so weiter. Je mehr Ecken das Polygon hat, umso kürzer werden die Zeitabstände zwischen zwei Impulsen. Durch den Grenzübergang ins Unendliche werden die Polygone zur Kreisbahn, die punktuellen Kraftstöße zu einer andauernden Zentripetalkraft und Newton hat die Lösung gefunden.

Das Interessante hierbei ist:

  1. Newton will eigentlich eine Lösung für eine physikalische Sachlage finden, bei der eine konstante Kraft kontinuierlich wirkt;
  2. dazu beschreibt er die Situation zunächst annäherungsweise durch n viele kurze, punktuell wirkende Kraftstöße;
  3. Nun lässt er n gegen Unendlich laufen und erhält die Lösung durch einen infinitesimalen Grenzübergang.

Auf diese Weise geht Newton auch beim Beweis des Theorems I in den Principia vor[23]. Nehmen wir an, ein Körper A umkreist einen anderen, feststehenden Körper S, wobei sich A einerseits leicht schräg weg von S bewegt, er aber andererseits von einer Zentripetalkraft zu S gezogen wird. Stellen wir uns A als Planeten und S als die Sonne vor, dann die Zentripetalkraft die Gravitationskraft der Sonne. Und so soll das Theorem I auch verstanden werden, bzw. so wird Newton dieses Theorem später im dritten Buch anwenden: als Verallgemeinerung des Keplerschen Flächensatzes.

Sieht man sich den Beweis zu Theorem I an, so besteht ein augenfälliger Unterschied zwischen der darin angenommenen Zentripetalkraft und der Gravitationskraft. Letztere wirkt kontinuierlich und andauernd. Im Beweis aber unterteilt er die Zeit in endlich viele Intervalle; und am Ende jedes dieser Zeitabschnitte „möge die Zentripetalkraft mit einem einzigen, aber kräftigen Anstoß einwirken“[24]. Es handelt sich also um eine punktuell wirkende Stoßkraft, und für diese endliche Situation berechnet er die Lösung[25]. Schließlich macht er einen infinitesimalen Grenzübergang: „Man lasse nun die Anzahl der Dreiecke unendlich groß und ihre Breite [d.h. das Zeitintervall] unendlich klein werden, dann […]“. Und so löst er das Problem. Offensichtlich geht er hier ähnlich vor wie 1665 als junger Wissenschaftler.

Wie gesagt ist es unstrittig, dass Newton mit seinem zweiten Bewegungsgesetz die Beziehung \(\vec{F}\sim m\cdot\vec{v}\) zum Ausdruck bringt, wobei F eine Kraft ist, die sehr kurzzeitig, stoßartig auf den Körper A einwirkt. Dadurch wird ein Impuls übertragen, der bewirkt, dass sich A sozusagen schlagartig mit höherer Geschwindigkeit bewegt. In der Formel \(\vec{F}=m\cdot\vec{a}\) hingegen geht es nicht um eine kurzfristig einwirkende Kraft, sondern um eine Kraft, die konstant und kontinuierlich über eine längere Zeitdauer auf einen Körper einwirkt. Zur besseren Unterscheidung bezeichne ich diese Kraft nachfolgend als \(\vec{F’}\). \(\vec{F}\)wirkt auf den Körper A punktuell, stoßartig ein, \(\vec{F’}\) lange andauernd.

Man kann nun Methoden der Infinitesimalmathematik verwenden, um \(\vec{F’}\) intuitiv zu erklären. Es handelt sich um einen Zusammenhang, der in gewisser Weise auf der Hand liegt, andererseits aber auch nicht präzise mathematisch beweisbar ist.

Machen wir dazu ein Gedankenexperiment und nehmen einen Körper A an, der sich ungestört bewegen kann. Nehmen wir ferner an, dass nach einem Zeitintervall \(\Delta t\) ein Stoß mit einer Kraft \(\vec{F}\) kurzzeitig und punktuell auf A einwirkt. Dieselbe Wirkung wird offensichtlich erzielt, wenn A in demselben Zeitintervall 2 Mal mit der Kraft \(\frac{1}{2}\vec{F}\) angestoßen wird; oder 3 Mal mit der Kraft \(\frac{1}{3}\vec{F}\); oder 4 Mal mit der Kraft \(\frac{1}{4}\vec{F}\), und so weiter. Lässt man nun gedanklich die Anzahl der Stöße mit entsprechend kleiner werdender Kraft im gegebenen Zeitintervall \(\Delta t\) gegen Unendlich laufen, dann würde man in diesem Zeitintervall immer noch dieselbe Kraftwirkung erzielen, die Einwirkung wäre aber nicht mehr auf viele punktuelle Stöße verteilt, sondern kontinuierlich andauernd.

Gehen wir nun einen Schritt weiter und nehmen an, dass durch den einmaligen Impuls mit der Kraft \(\vec{F}\) der Körper A aus der Ruhe heraus in eine Bewegung versetzt wird mit Geschwindigkeit \(\Delta\vec{v}\). Wirkt ein weiterer Stoß mit Kraft \(\vec{F}\) ein, so erhöht sich die Geschwindigkeit wieder um \(\Delta\vec{v}\), wirkt wieder ein Stoß mit Kraft \(\vec{F}\) ein, so erhöht sich die Geschwindigkeit wieder um \(\Delta\vec{v}\), und so weiter. Als Graph dargestellt bekommt man eine Treppenfunktion. Dieselbe Krafteinwirkung, nur anders verteilt, wird erzielt, wenn nach Zeitintervallen \(\frac{1}{2}\Delta t\) der Körper A jeweils mit der Kraft \(\frac{1}{2}\vec{F}\)  angestoßen wird, bzw. nach Zeitintervallen \(\frac{1}{n}\Delta t\)  der Körper A jeweils mit der Kraft \(\frac{1}{n}\vec{F}\).

Lässt man n gegen Unendlich laufen, dann nähert man sich einem Graphen mit konstanter Steigung

\(\vec{a}=\frac{\Delta\vec{v}}{\Delta t}\)

an. Das wiederum ist die Beschleunigung, die durch die kontinuierlich wirkende Kraft  \(\vec{F’}\) bewirkt wird. Und man kann schlussfolgern: \(\vec{F’}\sim m\cdot\vec{a}\).

Ich muss leider zugeben, dass diese Herleitung fehlerhaft ist. Denn je nachdem wie klein oder groß man das Zeitintervall \(\Delta t\)  wählt, wird die erschlossene Beschleunigung \(\vec{a}\) größer oder kleiner. Mir geht es an dieser Stelle auch nicht um eine mathematisch korrekte Deduktion, sondern darum, wie man ansatzweise das zweite Gesetz, wie wir es heute kennen, mit impulsiv wirkenden Stoßkräften in Verbindung bringen kann.

Natürlich ist es reine Spekulation, aber möglicherweise war Newton intuitiv der Überzeugung, dass \(\vec{F’}\sim m\cdot\vec{a}\) nur der infinitesimale Grenzwert von \(\vec{F}\sim m\cdot\vec{v}\) ist. Und möglicherweise war ihm diese Überzeugung so selbstverständlich, dass er keine Notwendigkeit sah, sie ausdrücklich zu erwähnen. Das würde es auch erklären, warum er in den Principia vor allem die erste Formel verwendet, sie aber nirgendwo explizit als Gesetz formuliert. Und wie wir an den vorigen Beweisen gesehen haben, hat Newton mehrmals genau so argumentiert und eine kontinuierlich wirkende Kraft als Grenzwert unendlich vieler impulsiver Kraftstöße aufgefasst.

Immerhin beschreibt Helmholtz in seinem Vortrag Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft (1869) die Anfangsphase der Physik so[26]:

„Zunächst wusste man die Wirkung einer continuierlich wirkenden Kraft sich nur als eine Reihe kleiner Stöße darzustellen. Erst als Leibnitz und Newton mit der Erfindung der Differentialrechnung das alte Dunkel, in welches der Begriff des Unendlichen gehüllt war, zerstreut und den Begriff des Continuierlichen […] klargestellt hatten, konnte man zu einer reichen und fruchtbaren Anwendung der neu gefundenen mechanischen Begriffe fortschreiten.“

Axiomatisierung der klassischen Physik

Blättert man durch Newtons Principia, so wirkt dieses Werk wie ein Lehrbuch für klassische Geometrie. Definitionen, gefolgt von den Bewegungsgesetzen, die auch als „Axiome“ tituliert werden, stehen am Anfang, danach werden Theoreme und Propositionen geometrisch hergeleitet. Helmut Pulte zeigt sorgfältig, dass die Principia axiomatisch aufgebaut ist[27]. Ich möchte nachfolgend darlegen, dass Newton in den Principia das frühneuzeitliche Wissenschaftsmodell verwirklicht, das im Kern aristotelisch ist, aber mathematisch modifiziert ist, also das, was ich bereits das „Wissenschaftsmodell Galileis“ genannt habe:

(B1) Ziel der Naturwissenschaft ist es zu unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten zu gelangen.

(B2) Naturgesetze drücken das mathematische Wesen der Natur aus, sie sind evidente, d.h. der Vernunft einsichtige Definitionen und Axiome. Aufgrund ihrer Evidenz sind sie notwendig wahr.

(B3) Aristotelische Induktion: Anhand von einigen konkreten Beispielen, Experimenten oder Gedankenexperimenten werden die Axiome evident gemacht.

(B4) Alle gültigen Sätze werden aus den Definitionen und Naturgesetzen mathematisch hergeleitet.

(B5) Asymmetrischer Empirismus. Erfahrungen, insbesondere korrekte Prognosen und technische Anwendungen können die eigene Theorie bestätigen. Sie ist aber durch Erfahrungswissen nicht falsifizierbar.

Diese fünf Merkmale scheinen auf den ersten Blick nicht recht zu dem zupassen, was Newton selbst über seine Methode sagt. Er behauptet nämlich, dass Empirie und Induktion eine herausragende Bedeutung bei ihm haben. So lautet der Anfang der Regel IV[28]:

(1a) „In der experimentellen Physik muss man die durch Induktion aus den Naturerscheinungen erschlossenen Propositionen trotz widersprechender Hypothesen solange für vollkommen oder annähernd wahr halten, (1b) bis einem andere Naturerscheinungen begegnet sind, durch welche sie entweder noch genauer werden oder durch welche sie Einschränkungen unterworfen werden.“

Am Ende der Principia schreibt er[29]:

(2) „[…] und Hypothesen erdichte ich nicht. Nämlich alles, was sich nicht aus Naturerscheinungen ableiten lässt, muss als Hypothese bezeichnet werden, und Hypothesen, gleichgültig ob es metaphysische, physikalische, mechanische oder diejenige von verborgenen Eigenschaften sind, haben in der experimentellen Physik keinen Platz. In der hier in Rede stehenden Physik leitet man die Aussagen aus den Naturerscheinungen her und macht sie durch Induktion zu allgemeinen Aussagen. So entdeckte man […] die Gesetze für die Bewegung und die Schwere. Es genügt, dass die Schwere wirklich existiert, entsprechend den von uns dargelegten Gesetzen wirkt und für die Erklärung aller Bewegungen der Himmelkörper und unseres Meeres ausreicht.“

Ferner heißt es in Query 31 der Opticks:

(3a) „Wie in der Mathematik, so sollte auch in der Naturphilosophie bei der Erforschung schwieriger Dinge die analytische Methode der synthetischen vorausgehen. Diese Analyse besteht darin, dass man aus Experimenten und Beobachtungen durch Induktion allgemeine Schlüsse zieht und gegen diese keine Einwendungen zulässt, die nicht aus Experimenten und anderen gewissen Wahrheiten entnommen sind. Denn Hypothesen werden in der experimentellen Philosophie nicht betrachtet.“

(3b) „Wenn auch die durch Induktion aus den Experimenten und Beobachtungen gewonnenen Resultate nicht als Beweise allgemeiner Schlüsse gelten können, so ist es doch der beste Weg, Schlüsse zu ziehen, den die Natur der Dinge zulässt, und [der Schluss] muss für umso strenger gelten, je allgemeiner die Induktion ist.“

(3c) „Wenn bei den Erscheinungen keine Ausnahme mit unterläuft, so kann der Schluss allgemein ausgesprochen werden. Wenn aber einmal später durch die Experimente sich eine Ausnahme ergibt, so muss der Schluss unter Angabe von Ausnahmen ausgesprochen werden. […]“

(3d) „Dies ist die Methode der Analysis; die Synthesis dagegen besteht darin, dass die entdeckten Ursachen als Prinzipien angenommen werden, von denen ausgehend die Erscheinungen erklärt und die Erklärungen bewiesen werden.“

Newton schreibt ferner in einem Brief an Cotes vom 28. März 1713 mit Bezug auf die drei Bewegungsgesetze[30]:

(4) „Diese Grundsätze sind von Phänomenen abgeleitet und durch Induktion generalisiert: das ist die höchste Evidenz, die eine Aussage in der Philosophie haben kann.“

In den vier Zitaten spricht Newton jedes Mal davon, dass allgemeine Prinzipien oder „Propositionen“ auf der Basis von „Experimenten und Beobachtungen“ erschlossen oder abgeleitet werden. Sofern die Prämissen gelten, bedeutet dies, dass auch die daraus erschlossenen Aussagen sicher gelten. Offenbar heißt das, dass Newton die mittels Induktion erschlossenen Prinzipien für sehr sicher, wenn nicht für absolut wahr hält. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass er die Experimente und Beobachtungen, die die Prämissen für den Induktionsschluss sind, für nur wahrscheinlich hält. Dazu passend ist, wenn Newton in (1a) die erschlossenen Propositionen als „vollkommen oder annähernd wahr“ bezeichnet. Mit „Annähernd wahr“ meint Newton wohl, dass, falls ein empirisches Gegenbeispiel auftreten sollte, man einfach den Geltungsbereich einschränkt, ohne das Prinzip insgesamt aufzugeben (siehe 1b und 3c). In (2) stellt er klar, dass es sich um keine Hypothesen handelt. Nun werden Hypothesen auch nicht „erschlossen“. Man ersinnt sie sich und nimmt sie an, immer unter dem Vorbehalt, dass sie möglicherweise doch nicht gelten. Wenn Newton hier sagt, dass er keine Hypothesen „erdichtet“, dann kann das auch nur bedeuten, dass er die Prinzipien seiner Physik für unumstößlich wahr hält. Und in (3a) vergleicht er die Physik mit der Mathematik. Somit ist (B1) bei Newton erfüllt.

Offensichtlich ist (B4) bei ihm auch gegeben ist. Aus den mittels Induktion erschlossenen Prinzipien leitet er geometrisch alle weiteren Lehrsätze ab, die die physikalischen Phänomene erklären sollen (siehe 3d). So tut er es ja auch in den Principia. Interessant ist, dass er den Prozess, Theoreme aus den Axiomen zu deduzieren, als „Synthesis“ bezeichnet.

Aus (4) geht hervor, dass Newton den durch Induktion gewonnenen Prinzipien die „höchste Evidenz“ zuschreibt. Für die drei Bewegungsgesetze ist das offenbar der Fall. Bereits Galilei und Descartes haben das Trägheitsprinzip als evidente Naturgesetze angenommen. Im Dialog über die beiden Weltsysteme fordert Galilei auf, sich das Trägheitsprinzip durch ein Gedankenexperiment klar zu machen[31]. Offenbar glaubte er, dass es der Vernunft, wenn man nur genügend darüber nachdenkt, einsichtig ist. Descartes sagt ausdrücklich, dass er keine Prinzipien in der Physik gelten lassen will, die nicht eine ähnlich hohe Evidenz wie die der Geometrie haben[32]. Und darunter fallen bei ihm auch seine zwei Trägheitsgesetze.

Zum zweiten Bewegungsgesetz: Dass die Änderung der „Bewegungsquantität“ (des Impulses) eines Körpers davon abhängig ist, wie groß der auf ihn einwirkende Kraftstoß ist, scheint unmittelbar evident zu sein. Dasselbe gilt für das dritte Bewegungsgesetz: Dass zwei Kräfte, die im Gleichgewicht sind, gleichgroß, aber entgegengesetzt sind, scheint auch unmittelbar evident zu sein. Anders sieht es allerdings bei dem Gravitationsgesetz aus, worauf ich weiter unten eingehen werde.

Dass Newton offenbar etwas über das mathematische Wesen der Natur aussagen möchte, habe ich schon im Zusammenhang mit absolutem Raum und absoluter Zeit dargelegt. Seine Physik soll nicht nur die physikalischen Phänomene mathematisch beschreiben, er will vielmehr in das Herz der Natur blicken, so wie sie an sich ist. In dem Scholion, in dem er die absolute Zeit und den absoluten Raum behandelt, setzt er auch einer relativen Bewegung die absolute Bewegung gegenüber. Die absoluten Bewegungen zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen nach Newton tatsächlich wirkende Kräfte entsprechen[33]. Schließlich schreibt er[34]:

„Wie man die wahren Bewegungen aus ihren Ursachen, Wirkungen und sich zeigenden Unterschieden erschließt und umgekehrt aus den Bewegungen, gleichgültig ob sie wahre oder scheinbare sind, ihre Ursachen und Wirkungen, wird im folgenden recht ausführlich dargelegt werden, nämlich zu diesem Zweck habe ich die [Principia] geschrieben.“

Ich verstehe all das so, dass Newton glaubt, mit seiner Physik einen Blick in das wahre Wesen der Natur werfen zu können.

In (1b) und (3c) sagt Newton, dass einmal erschlossene Prinzipien nicht falsifiziert werden können. Sie können zwar durch neue Erfahrungstatsachen bestätigt werden. Sollte aber eine neue Erfahrungstatsache auftauchen, die im Widerspruch zu einem Prinzip steht, dann wird dadurch das Prinzip nicht widerlegt, sondern einfach in seinem Geltungsbereich eingeschränkt. Somit hält Newton seine Naturgesetze im Grunde für empirisch nicht falsifizierbar. Dies weist in die Richtung (B5).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Newton Wissenschaft im Grunde genommen nicht viel anders verstand als Aristoteles oder die mittelalterlichen Scholastiker. Jedenfalls hatte er mit Sicherheit kein modernes hypothetisch-deduktives Wissenschaftsverständnis. Zwei Unterschiede gibt es zur traditionellen, aristotelischen Naturphilosophie. Erstens ist die newtonsche Physik konsequent mathematisch und ist damit auf derselben Linie, die mit Galilei einen frühen Ausdruck fand und von Descartes gefordert wurde. Zweitens aber betont Newton ganz besonders die Methode der Induktion. Und damit kommen wir zu der entscheidenden Frage: Was genau meint Newton, wenn er von „Induktion“ spricht?

Zur Zeit Newtons gab es zwei Arten von Induktion. Erstens die klassische, aristotelische Induktion und zweitens die Baconsche Induktion. Mit der aristotelischen Induktion ist eine relativ unsystematische Aufzählung einiger konkreter Beispiele gemeint, die entweder heuristisch dabei helfen soll, ein allgemeines Prinzip per Vernunfteinsicht zu finden, oder pädagogisch, für andere ein allgemeines Prinzip einsichtig zu machen. Die Betonung liegt hier auf Vernunfteinsicht und Evidenz. Diese Art von Induktion wird bis heute ständig ganz unwillkürlich verwendet. Nehmen wir einen Mathematiker an, der ein komplexes Problem lösen will. Wie geht er normalerweise vor? Indem er sich ein paar Sonderfälle des Problems genauer ansieht, die leichter zu lösen sind, und danach versucht die hierfür gefunden Lösungen zu verallgemeinern. Das ist normales mathematisches Handwerk.

Selbst wenn man sich geometrische Axiome klar machen will, geht man normalerweise so vor, dass man sich ein oder zwei konkrete Zeichnungen anfertigt. Und genauso macht es ein Lehrer, der seinen Schülern allgemeine Prinzipien vermitteln will, egal ob es sich um geometrische Axiome oder um Naturgesetze der Physik handelt. Kaum ein Lehrer wird beispielsweise einfach das Trägheitsprinzip in seiner allgemeinen Form an die Tafel schreiben und dann zum nächsten Tagesordnungspunkt weitergehen. Vielmehr wird er typischerweise konkrete Beispiele geben, wie rollende Kugeln auf glatten Ebenen oder das Gefühl beim Bremsen nach vorne geschleudert zu werden. In jedem Fall ist der Zweck der aristotelischen Induktion, Einsicht zu generieren in eine Allaussage, eine Art Geistesblitz. Genau dieses Gefühl: „Heureka! Jetzt habe ich es verstanden“. Die gewählten Beispiele sind nur mehr oder weniger gute Hilfsmittel, aber selbstverständlich kann man die gewünschten Geistesblitze nicht erzwingen. Bei einem stellen sie sich langsamer ein, beim anderen schneller. Für die aristotelische Induktion ist es typisch, dass nur ein paar wenige Beispiele auf eine eher unsystematische Weise aufgezählt werden. Das Ziel ist, wie gesagt, die Vernunfteinsicht, die sich bei manchen schon nach einem Beispiel einstellt, bei manchen erst nach dem dritten oder vierten Beispiel.

Bacon hingegen kritisierte an Aristoteles, dass die paar wenigen Beispiele die Gültigkeit der zu zeigenden Allaussage nicht erzwingen können, die Auswahl der Instanzen ist zu klein und außerdem zu unsystematisch. Bacon möchte stattdessen die Induktion zu einer systematischen, wissenschaftlichen Methode machen, die es ermöglicht, die Natur so zu erkennen, wie sie tatsächlich ist, und das unabhängig davon, ob am Ende eine intuitive Vernunfteinsicht generiert wird. Eine solche Methode würde die Allaussagen erzwingen, und zwar unabhängig davon, ob sie einem Menschen evident sind oder nicht. Vernunfteinsicht und Evidenz spielen bei Bacon keine Rolle mehr, wohingegen sie bei Aristoteles der Kern der Wissenschaft sind.

Bacon stellt sich diese neue Methode so vor, dass aus einer umfangreichen Sammlung von Erfahrungstatsachen eine bestimmte Allaussage hergeleitet wird. Diese Sammlung allen Erfahrungswissens heißt bei Bacon „Naturgeschichte“, man könnte sie auch „Enzyklopädie“ nennen. Im Novum Organon beschreibt Bacon seine Methode detailliert. Demnach muss für die induktive Herleitung einer Aussage zunächst eine Liste aller bekannten positiven Instanzen erstellt werden, dann eine Negativliste und drittens eine Liste des graduellen Unterschieds.

Zusammengefasst kann man die Baconsche Induktion mittels der folgenden Kriterien erkennen:

  • Der Ausgangspunkt ist eine Sammlung allen relevanten Erfahrungswissens.
  • Man erstellt drei sehr umfangreiche Listen: eine Positivliste, eine Negativliste und eine Liste des graduellen Unterschieds.
  • Die durch die Baconsche Induktion erschlossene Allaussage muss nicht evident sein.

Dazu im Gegensatz ist das Ziel der aristotelischen Induktion, eine Aussage evident zu machen, und das auf der Grundlage von nur ein paar wenigen Positiv-Beispielen; eine Negativliste, sowie eine Liste des graduellen Unterschieds fehlen.

Sehen wir nun genauer hin, welcher der beiden Induktionen Newton verwendet.

Unmittelbar nach dem ersten Bewegungsgesetz listet Newton in den Principia drei konkrete Beispiele für Trägheit auf. Ähnlich wie bei Galilei handelt es sich auch bei Newton um eine aristotelische Induktion, der gemäß eine Vernunfteinsicht in ein Axiom mithilfe von ein paar Beispielen erzeugt werden soll. Es handelt sich definitiv um keine Baconsche Induktion, da diese auf einer viel breiteren empirischen Basis stehen müsste und außerdem eine Negativliste umfassen müsste. Insofern steht Newton hier klar in der aristotelischen Tradition.

Bezogen auf das zweite Bewegungsgesetz erwähnt Newton überhaupt keine konkreten Beispiele oder Experimente. Es scheint Newton somit so evident zu sein, dass es keiner weiteren Erläuterung bedarf. In keinem Fall ist es auf dem Wege einer Baconschen Induktion hergeleitet worden.

Unmittelbar nach dem dritten Bewegungsgesetz erwähnt Newton einige wenige konkrete Beispiele[35]. Ein paar Seiten später will Newton dieses Gesetz noch durch ein Gedankenexperiment und ein echtes Experiment „veranschaulichen“[36]. Auch hier kann man beim besten Willen nicht von einer Baconschen Induktion sprechen.

Beim ersten und dritten Bewegungsgesetz listet Newton Beispiele auf, die offenbar eine pädagogisch-erläuternde Funktion haben. Sie sollen jeweils dem Leser die Prinzipien illustrieren bzw. evident machen. Es handelt sich also eindeutig um aristotelische Induktionen, und nicht um Baconsche Induktionen.

Wie sieht es aber beim Gravitationsgesetz aus?

Schwerkraft und Gravitationsgesetz

Während Newton anfänglich eine punktuell wirkende Stoßkraft definiert, verzichtet er darauf, an irgendeiner Stelle der Principia eine Definition der Schwerkraft zu geben. Das ist einerseits erstaunlich, zumal wenn man bedenkt, wie wichtig die Gravitation für seine Physik ist. Andererseits: Wie hätte er sie auch definieren sollen? Nehmen wir an, er hätte es so getan, wie wir es heute gewohnt sind zu tun: die Gravitation als eine fernwirkende Anziehungskraft zwischen zwei Körpern zu definieren, deren Stärke von den jeweiligen Massen abhängt. Für das damalige Verständnis, wie Kräfte in der Natur wirken, nämlich ausschließlich durch direkten Kontakt, hätte eine solche Definition sofort zu einem Aufschrei unter der zeitgenössischen Wissenschaftsgemeinde geführt. Dass seine Gravitationstheorie tatsächlich auf eine auf Distanz wirkende Kraft hinausläuft, konnte Newton freilich nicht verbergen. Und so kam es diesbezüglich tatsächlich zu erheblicher wissenschaftlicher Kritik. Manche lehnten die Principia deswegen rundweg als unwissenschaftlich ab. Und es ist bekannt, dass Newton selbst unzufrieden war und hoffte, dass man die Schwerkraft irgendwann eben doch noch durch Druck und Stoß erklären kann.

In den Principia wird die Schwerkraft das erste Mal im Zusammenhang mit der Zentripetalkraft erwähnt[37]. Genau genommen stellt Newton die folgende Behauptung auf: Dieselbe Art von Kraft, die auf der Erde für den freien Fall und für Wurfbahnen verantwortlich ist, bewirkt im Weltall, dass sich der Mond um die Erde und die Planeten um die Sonne drehen. Bis zu einem gewissen Grad ist es verwunderlich, dass Newton diese Behauptung nicht als eigenes Axiom, was sie eigentlich ist, explizit formuliert hat oder zumindest als Proposition. Tatsächlich begründet Newton diese Behauptung ausführlich wie folgt:

„Wenn sich ein Geschoss der Kraft der Schwere entziehen könnte, so würde es nicht zur Erde hin abgelenkt werden, sondern auf einer Geraden in die Himmelsräume davonfliegen, und zwar mit einer gleichförmigen Bewegung, sofern sich der Luftwiderstand beseitigen ließe. Durch seine Schwere wird es von einem geradlinigen Kurs weggezogen und beständig zur Erde hin gelenkt, und zwar entsprechend seiner Schwere und seiner Bewegungsgeschwindigkeit mehr oder weniger. […] Auf dieselbe Art und Weise, wie ein Geschoss von der Kraft der Schwere auf eine Umlaufbahn gelenkt werden könnte und die ganze Erde umkreisen könnte, kann auch der Erdmond entweder von der Kraft der Schwere, sofern er schwer ist, oder von einer anderen möglichen Kraft, von der er zur Erde hin getrieben wird, stets von einem geradlinigen Kurs weg zur Erde hin gezogen werden und auf seine Umlaufbahn gelenkt werden; und ohne eine solche Kraft kann sich der Erdmond auf seiner Umlaufbahn nicht halten.“

Letztlich beginnt Newton mit unbestreitbaren Erfahrungstatsachen, um dann in ein nicht erfahrbares Gedankenexperiment überzuleiten. Schwere Dinge fallen zur Erde: ja, das kann man beobachten. Geworfene Dinge fliegen ein Stück weg von der Erde, bevor sie wieder fallen: ja, das kann man beobachten. Würde man etwas mit einer so starken Kraft von der Erde wegkatapultieren, dann könnte es geschehen, dass dieses Ding in einer Umlaufbahn die Erde umkreist: Nein, das ist nicht beobachtbar, jedenfalls nicht zu Newtons Zeiten. Aber nur mittels dieses gedanklichen, nicht-empirischen Übergangs, gelangt Newton zu der Annahme, dass auch der Mond durch die Schwerkraft auf seiner Umlaufbahn gehalten wird. Wobei er dies durchaus vorsichtig und hypothetisch formuliert („sofern [der Erdmond] schwer ist“). Diese Art der Begründung ist aber exakt eine aristotelische Induktion. Anhand von ein paar wenigen Beispielen, in diesem Falle nur ein einziges, wird eine empirische Allaussage evident gemacht. Eine Baconsche Induktion ist es jedenfalls mit Sicherheit nicht.

Newton spricht an dieser Stelle über die Schwerkraft als reiner Erfahrungstatsache, ohne eine naturphilosophische Erklärung oder Definition von ihr zu geben. Hier auf der Erde erleben wir es tagein, tagaus, dass schwere Dinge zur Erde fallen. Warum das aber so ist, sagt Newton nicht. Sie ist einfach da, wie wir sehen können. Er gibt aber keine naturphilosophische Theorie der Schwerkraft. Aristoteles z.B. erklärte die Schwerkraft dadurch, dass schwere Dinge von Natur aus zu dem Ort im Weltall streben, der in ausgezeichneter Weise Unten ist. Auch Galilei erklärte die Schwerkraft naturphilosophisch, und zwar sagte er, dass schwere Dinge deswegen fallen würden, weil sie den Trieb hätten, „sich mit dem Ganzen vereinigen zu wollen, zu dem sie gehören“[38]. Newtons Verzicht auf eine naturphilosophische Erklärung der Schwerkraft steht in Einklang mit einer Textstelle aus dem allerletzten Scholion der Principia[39]:

„Bisher habe ich die Erscheinungen am Himmel und in unseren Meeren mit Hilfe der Kraft der Schwere erklärt, aber eine Ursache für die Schwere habe ich noch nicht angegeben. Diese Kraft rührt zweifellos von irgendeiner Ursache her, welche bis zu den Mittelpunkten der Sonne und der Planeten ohne Verlust ihrer Wirksamkeit vordringt […]. Ihre Einwirkung breitet sich nach allen Seiten hin bis in unermessliche Entfernungen aus, wobei sie immer im zweifachen Verhältnis zu den Entfernungen abnimmt. […] Den Grund für diese Eigenschaften der Schwere konnte ich aber aus den Naturerscheinungen noch nicht ableiten [meine Unterstreichung], und Hypothesen erdichte ich nicht.“

Newton sagt hier offenbar, dass die Gravitationsphysik, so wie er sie in den Principia entworfen hat, noch unvollständig ist. Was noch aussteht, ist die naturphilosophische Erklärung der Gravitation. Auch in seiner Optik von 1704 macht er auf dieses Defizit aufmerksam[40]:

„Die Wahrheit dieser Prinzipien [u.a. der Schwerkraft] wird uns aus den Erscheinungen deutlich, wenn auch ihre Ursachen bis jetzt noch nicht entdeckt sind.“ [meine Unterstreichung]

In der Optik deutet Newton immerhin an, wie er sich eine solche Erklärung der Gravitation vorstellt. Dort nimmt er ein „ätherisches Medium“ an, das er zunächst für die Erklärung des Lichts braucht. Von diesem ätherischen Medium könnte er sich vorstellen, dass es auch die tiefer liegende Ursache der Gravitation ist. Er formuliert seine Theorie vorsichtig in Form von Fragen[41]:

„Frage 21: Ist nicht dieses [ätherische] Medium in der Sonne, den Sternen, Planeten und Kometen viel dünner, als in den leeren Himmelsräumen zwischen ihnen? Wird es nicht in großen Entfernungen von ihnen beständig immer dichter und dichter und verursacht dadurch die gegenseitige Gravitation solcher großen Körper und ihrer Teile, weil jeder Körper von dem dichteren Teile des Mediums nach dem dünneren zu gehen strebt? […] Wenn auch dieses Wachsen der Dichte bei großen Entfernungen außerordentlich gering sein mag, so reicht es doch hin, wenn die elastische Kraft des Mittels außerordentlich groß ist, um die Körper von den dichteren nach den dünneren Teilen des Mediums zu treiben mit aller der Kraft, welche wir Gravitation nennen. […]“

Unabhängig von etwaigen naturphilosophischen Erklärungen stellt Newton in den Principia sein berühmtes Gravitationsgesetz auf. Heutzutage wird es wie folgt formuliert:

Bei Newton hat es ursprünglich aber noch eine andere Form. Im Theorem VII des dritten Buches heißt es[42]:„Zu sämtlichen Körpern hin entsteht eine Schwere, und diese ist der Materiemenge [d.h. der Masse] in den jeweiligen Körpern proportional.“ Und Theorem VIII des dritten Buches sagt, dass die Gravitation zwischen zwei Körpern umgekehrt proportional ist zum Quadrat ihrer Abstände zueinander. Ich werde dennoch nachfolgend immer von dem einen Gravitationsgesetz sprechen, obwohl es bei Newton ja eigenglich zwei Aussagen sind.

Bemerkenswert ist, dass er das Gravitationsgesetz als „Theorem“ tituliert. Denn faktisch hat es in den Principia den Status eines Axioms. Ein Theorem wird hergeleitet, d.h. aus bestimmten Prämissen deduziert, ein Axiom hingegen ist der Ausgangspunkt für Herleitungen. Tatsächlich stellt es Newton so dar, als wäre das Gravitationsgesetz hergeleitet, aus Prämissen deduziert. Wie sieht diese Deduktion aus?

Zunächst listet Newton sechs sog. Himmelserscheinungen auf, u.a. betreffend die Jupitermonde, die Saturnmonde, die Umlaufbahnen der Planeten um die Sonne, sowie den Erdmond. Anschließend leitet er aus diesen Phänomenen die Aussage des Gravitationsgesetzes speziell für diese Fälle her. Anschließend verallgemeinert er sie zum generell formulierten Gravitationsgesetz, das für alle Körper gelten soll. Es handelt sich hier also um keine mathematische oder logisch-deduktive Herleitung, sondern um eine Induktion. Das Gravitationsgesetz heißt bei Newton somit „Theorem“, weil es mittels einer Induktion aus bestimmten Naturphänomenen „hergeleitet“ wird. Newton spielt damit offensichtlich auf Bacon an. Denn Bacon behauptete, dass man mit einer methodisch korrekt ausgeführten Induktion zu einer „sicheren, beweisbaren“ Erkenntnis eine Naturprinzips gelangen könne[43]. Das passt auch zu den oben zitierten Textstellen, bei denen Newton sagt, er würde keine Hypothesen erdichten, sondern Propositionen aus den Naturerscheinungen erschließen oder herleiten.

Vollzieht Newton aber tatsächlich eine Baconsche Induktion, die ähnlich sicher und unumstößlich sein soll wie eine mathematische Herleitung? Die Antwort ist: nein, sicher nicht. Die Art und Weise, wie Newton vorgeht, um das Gravitationsgesetz aus den Himmelserscheinungen herzuleiten, entspricht überhaupt nicht dem, was Bacon fordert. Die Positivliste umfasst gerade einmal sechs Instanzen, was für eine Baconsche Induktion viel zu wenig ist. Es gibt keine Negativliste und auch keine Liste der graduellen Unterschiede.

Man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Newton den Schein einer Baconschen Induktion erzeugt, faktisch aber eine gute, alte aristotelische Induktion vollzieht, genauso wie er es bereits für das erste und dritte Bewegungsgesetz gemacht hat. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Für die Bewegungsgesetze kann man behaupten, dass sie evident sind, für das Gravitationsgesetz hingegen nicht. Insofern können die aufgelisteten Beispiele bei den Bewegungsgesetze Vernunfteinsicht generieren, was beim Gravitationsgesetz nicht möglich ist. Eine nicht evidente Allaussage kann aber im traditionellen Sinne kein Axiom sein. Aus diesem Grunde bezeichnet Newton das Gravitationsgesetz nicht als Axiom, sondern als Theorem. Daher kann es sich auch nicht um eine einfache aristotelische Induktion handeln, deren Ziel darin besteht, eine Aussage evident zu machen. Newton muss vielmehr so tun, als würde er eine induktive Methode anwenden, die auch dann zu notwendigen Ergebnissen führt, wenn sie nicht evident sind. Und das ist eben die Baconsche Induktion.

Newton gibt als vor, mittels der Baconschen Induktion das Gravitationsgesetz aus den Naturerscheinungen zu erschließen, weil es nicht unmittelbar evident ist. Dazu passt auch, dass er die Schwerkraft insgesamt noch für erklärungsbedürftig hält. Die naturphilosophisch korrekte Erklärung sei noch nicht gefunden. Das heißt aber auch: Würde man sie irgendwann einmal finden, dann könnte man das Gravitationsgesetz auf Axiome zurückführen, die dann tatsächlich für die Vernunft evident sind.

Damit steht im Einklang, dass Newton das Gravitationsgesetz nicht als eines der „Axiome“ am Anfang der Principia aufzählt, sondern es weiter hinten regelrecht versteckt. Damit steht auch im Einklang, dass er die drei Bewegungsgesetze „Axiome“ nennt, weil evident, das Gravitationsgesetz aber „Theorem“, weil nicht evident, und daher nur aufgrund einer Herleitung gültig ist.

In gewisser Weise geht damit Newton – ungewollt – den ersten Schritt in Richtung moderner hypothetisch-deduktiver Wissenschaft. Weil sein Gravitationsgesetz nicht evident ist, muss er erstens in besonderer Weise die Bedeutung der Induktion und der Empirie betonen. Zweitens aber führt der anschließende Erfolg der Newtonschen Physik dazu, dass die Wissenschaftler die Evidenz von Axiomen nicht mehr für so wichtig halten, ganz zu schweigen von naturphilosophischen Erklärungen. Hauptsache, man hat irgendwelche Axiome, woraus man brauchbare Ergebnisse ableiten kann. Auf der anderen Seite herrschte immer noch das Ideal einer aristotelischen Wissenschaft vor, allerdings mathematisch interpretiert, deren Anspruch ist, dass die Axiome, von denen die Wissenschaft ausgeht, eben nicht beliebig, sondern evident sein sollen.

Meiner Interpretation könnte man entgegenhalten, dass ich Newton eine Form von Unaufrichtigkeit unterstelle. Er würde vorgeben, eine Baconsche Induktion zu vollzeihen, es aber faktisch nicht tun. Dass dies nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, sieht man anhand der nachfolgenden Analyse des Wissenschaftshistoriker Bernhard Stickers bezogen auf Newtons Abhandlung Neue Theorie des Lichts von 1672[44]:

„Newtons Abhandlung von 1672 ist auch einem Laien leicht verständlich und kann als Musterbeispiel eines naturwissenschaftlichen Essays gelten. […] Es ist ihm auch gelungen, eine Entstehungsgeschichte zu geben, die auf alle, die seine Manuskripte nicht kennen, sehr überzeugend wirken muss.

Wenn man aber die Manuskripte kritisch studiert, findet man bald, dass dieser vielbewunderten Abhandlung Schwächen anhaften, die man nicht mit Schweigen übergehen sollte. Erstens stellt man fest, dass Newtons Untersuchung des Prismenfarben kein Musterbeispiel der sogenannten induktiven Methode ist. Denn, wie oben gesagt, findet man schon in seinen ‚Quaestiones Philosophicae‘ vom Jahr 1664 eine Urform der Farbentheorie, die mit denen vom Jahr 1672 gut übereinstimmt. 1672 möchte aber Newton bei seinen Lesern den Eindruck erwecken, dass seine grundlegenden Theorien aus den Dunkelkammerversuchen des Jahres 1666 entstanden seien. […] Die seit 1666 in der Dunkelkammer durchgeführten Experimente dienten darum wohl mehr zur Bestätigung und weiteren Ausbildung einer in ihren Grundzügen bereits feststehenden Theorie. […] Statt der Mehrzahl der Experimente beschrieb er lediglich einen etwas abgeänderten früheren Versuch […] und nannte dieses ein Experimentum Crucis, ein entscheidendes Experiment. Der R. Society zuliebe wurde die Entstehungsgeschichte seiner Theorie als eine Induktion im Sinne Bacons dargestellt.“ [Meine Unterstreichungen]

Die Royal Society verehrte Bacon als großen Visionär einer neuen, auf Erfahrungswissen und Experimenten gegründeten Wissenschaft. Vor allem Robert Boyle und Robert Hooke fühlten sich dem neuen Empirismus und der neuen induktiven Methode stark verpflichtet. Die Idee damals war, dass es Bacons systematische Induktion ermöglichen würde, sichere Erkenntnisse über die Natur herzuleiten, und zwar unabhängig von Evidenz und Vernunfteinsicht.

Kein Wunder also, dass Newton bei einem Prinzip, bei dem er sich nicht auf Evidenz und Vernunfteinsicht berufen konnte, Zuflucht zu Bacons Induktion suchte. Denn wie gesagt, damaligen Naturwissenschaftlern galten fernwirkende Anziehungskräfte als hochgradig vernunftwidrig. Und dass die Gravitation mit dem Quadrat der Abstände abnimmt ist zwar eine hübsche Formel, sie ist aber alles andere als durch sich selbst evident. Nicht zu vergleichen mit dem Trägheitsprinzip, das man mittels geeigneter Beispiele oder Gedankenexperimente gut als notwendig begreifen kann. Auch nicht zu vergleichen mit dem zweiten Bewegungsgesetz, dem gemäß die Änderung des Impulses von der Stärke der anstoßenden Kraft abhängig ist, was einem auch ohne Beispiele unmittelbar klar zu sein scheint.

Warum sollte aber die Gravitation nicht im direkten Verhältnis zum Abstand abnehmen, oder überhaupt überall gleichbleiben? Die Alltagserfahrung scheint sogar das Letztere nahezulegen. Auf das Abstandsquadratgesetz kommt man tatsächlich nur, wenn man vorher die Keplerschen Gesetze analysiert und danach auf die Idee kommt, dass möglicherweise die Planetenbahnen etwas mit dem zu tun haben, was wir auf der Erde als Schwerkraft kennen. Das alles ist aber, wie gesagt, alles andere als auf der Hand liegend. Es sind gewagte theoretische Annahmen, eben genau das, wovon Newton behauptet, dass er es nicht tut: es sind Hypothesen. Da er aber den Anspruch einer aristotelischen Wissenschaft hat, dass Wissenschaft nämlich nicht nur wahrscheinlich, sondern unumstößlich wahr ist, und er sich bei seiner Gravitationstheorie nicht auf die Vernunfteinsicht als letztendlichen Garant für die Wahrheit berufen kann, muss Bacons Induktion dafür herhalten, die die Erkenntnis wahrer Prinzipien unabhängig von der Vernunfteinsicht verspricht. Daher der Schein einer Baconschen Induktion in den Principia, denn faktisch wendet Newton Bacons Methode nicht einmal ansatzweise an.

Veränderung des Wissenschaftsmodells

Das frühneuzeitliche Wissenschaftsmodell von Galilei bis Huygens hatte, wie gesagt, folgende Merkmale:

(B1) Ziel der Naturwissenschaft ist es zu unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten zu gelangen.

(B2) Naturgesetze drücken das mathematische Wesen der Natur aus, sie sind evidente, d.h. der Vernunft einsichtige Definitionen und Axiome. Aufgrund ihrer Evidenz sind sie notwendig wahr.

(B3) Aristotelische Induktion: Anhand von einigen konkreten Beispielen, Experimenten oder Gedankenexperimenten werden die Axiome evident gemacht.

(B4) Alle gültigen Sätze werden aus den Definitionen und Naturgesetzen mathematisch hergeleitet.

(B5) Asymmetrischer Empirismus. Erfahrungen, insbesondere korrekte Prognosen und technische Anwendungen können die eigene Theorie bestätigen. Sie ist aber durch Erfahrungswissen nicht falsifizierbar.

Bezogen auf den Anfangsteil der Principia und insbesondere auf die ersten drei Bewegungsgesetze ist Newton faktisch ganz offensichtlich auch diesem Wissenschaftsmodell verpflichtet, wie ich oben gezeigt habe. Newton bezeichnet diese Gesetze als „Axiome“, und versucht sie mittels ein paar konkreter Beispiele evident zu machen.

Bezogen auf das Gravitationsgesetz und bezogen darauf, was Newton explizit über die wissenschaftliche Methode schreibt, vertritt er aber ein etwas anderes Wissenschaftsmodell:

(D1) Ziel der Naturwissenschaft ist es zu unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten zu gelangen.

(D2) Naturgesetze drücken das mathematische Wesen der Natur aus, wobei Evidenz und Vernunfteinsicht keine Rolle spielen.

(D3) Newtonsche Induktion: Ihre notwendige Wahrheit erhalten die Naturgesetze dadurch, dass sie von den konkreten Naturphänomenen mittels Beobachtung und Experimenten stringent abgeleitet werden.

(D4) Alle gültigen Sätze werden mittels mathematischer Beweise aus den Axiomen hergeleitet.

(D5) Asymmetrischer Empirismus.

Ich möchte es „empiristisches Wissenschaftsmodell“ nennen. Denn es wird bis zum Entwurf des modernen, hypothetisch-deduktiven Modells von vielen Wissenschaftlern vertreten, die sich selbst als Empiristen verstehen.

Ein paar Anmerkungen hierzu:

Wie ich oben bereits erörtert habe, wollte Newton offenbar den Schein erwecken, die Baconsche Induktion zu verwenden. Denn Bacon war in der Royal Society hoch angesehen und er hoffte wohl, dass eine Anspielung auf Bacon seiner Theorie Glaubwürdigkeit verschaffen würde. Es ist aber mehr als offensichtlich, dass er Bacons Induktion faktisch nicht angewendet hat. Bacons Methode ist einfach um vieles komplexer, als das, was Newton in den Principia tut und beschreibt. Faktisch schließt er daraus, dass das Abstandsquadratgesetz in ein paar astronomischen Fällen erfüllt ist, dass dieses Gesetz ganz allgemein gilt.

Wenn Newton über seine Methode reflektiert, dann spricht er davon, dass „man aus Experimenten und Beobachtungen durch Induktion allgemeine Schlüsse zieht“, die „umso strenger gelten, je allgemeiner die Induktion ist“ und deren Resultate keine Hypothesen sind[45], und überhaupt, dass allgemeine Aussagen über die Natur nicht hypothetisch sind und als vollkommen wahr gelten dürfen, wenn man sie mittels Induktion aus den Naturerscheinungen erschließt[46]. Es ist nicht ganz klar, was Newton damit genau meint, aber er wurde von den nachfolgenden Empiristen so verstanden:

  • Man kann eine allgemeine Aussage mittels Induktion aus einer möglichst großen Anzahl von Instanzen erschließen. Diese Aussage gilt dann unumstößlich und ist notwendig wahr, sofern man nur die Anzahl der Instanzen groß genug gewählt hat.

Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass wir Menschen ganz unwillkürlich so vorgehen. Wir sehen weiße Schwäne und verallgemeinern dann unversehens, dass alle Schwäne weiß sind. Wir erleben ständig, dass Dinge nach unten fallen, und glauben dann ohne weitere Reflektion, dass das immer so ist. Mit der Induktion, die ich „Newtonsch“ nennen werde, wird dieses unbewusste Vorgehen zu einer wissenschaftlichen Methode erhoben. Unabhängig davon, ob Newton selbst sie so verstanden hat.

Der Unterschied zur Aristotelischen Induktion ist, dass bei Aristoteles Vernunfteinsicht das Ziel ist, eine Aussage soll evident gemacht werden, wofür auch nur ein paar wenige Beispiele ausreichen können. Bei Newton hingegen soll die große Anzahl der Erfahrungsinstanzen die Gültigkeit einer Aussage erzwingen, unabhängig davon, ob sie evident ist oder nicht.

Bacon andererseits fordert, dass eine Wissenschaftsgemeinde zunächst eine umfangreiche Enzyklopädie des Erfahrungswissens erstellt, woraus drei Listen erstellt werden, von positiven Instanzen, von negativen Instanzen und von graduellen Unterschieden. Bei Newton fehlt die Enzyklopädie und ihm genügt eine lange Liste von positiven Instanzen. Überhaupt ist Newtons Induktion um vieles unsystematischer als es Bacon fordert.

Aus heutiger Sicht kaum verständlich ist der Anspruch, dass eine solche Art der Induktion zu notwendig wahren Allaussagen führen soll. Und zwar gerade bezogen auf mathematische Eigenschaften der Wirklichkeit. Das scheint einerseits Newton selbst zu behaupten, es ist aber auch die Auffassung vieler ihm nachfolgender Empiristen. Man müsse nur eine Reihe bestimmter Naturphänomene beobachten, dann würde man von alleine deren allgemeine mathematische Struktur erkennen, die auch damit übereinstimmt, wie die Natur tatsächlich und an sich ist. Auf diese Weise würden wir die mathematischen Grundbegriffe aus der Erfahrung ziehen, aber auch die Gesetze der Physik. Und zwar nicht nur als subjektive Ideen. Vielmehr würde jeder Mensch jeweils aus seiner persönlichen sinnlichen Erfahrung die Zahlen und deren Gesetze so abstrahieren, wie sie objektiv und an sich in der wirklichen Natur sind. Ebenso würde jeder Mensch aus seiner jeweiligen persönlichen sinnlichen Erfahrung dieselben geometrischen Figuren und deren objektiv gültigen Gesetzmäßigkeiten abstrahieren. Dasselbe gilt für die Gesetze der Physik. Das ist die Weise, wie auch Empiristen wie J.S. Mill an das metaphysische Dogma der Mathematisierung der Natur glauben.

Newtons naturwissenschaftlicher Empirismus

Newton erörtert in den Principia eine bestimmte wissenschaftliche Methodologie, die ich auch naturwissenschaftlichen Empirismus nennen möchte. In Anlehnung an Bacon sollen Naturgesetze gefunden werden, soll der Wissenschaftler möglichst nah bei den Dingen sein, genau beobachten, die Natur selbst mittels Experimenten befragen, und sich vor vorgefassten Meinungen und voreiligen Verallgemeinerungen hüten. Auch wenn man Bacons neue induktive Methode nicht genau anwendet, kann man zumindest diese Maxime beherzigen. Das ist vielleicht das Wichtigste, was Bacon langfristig dem Empirismus mitgab: Bleib bei den Dingen selbst! Lass die Dinge selbst „sprechen“! Halte dich mit vorgefassten Meinungen und voreiligen Verallgemeinerungen zurück!

Das kann durchaus mit intensiver Arbeit verbunden sein. Die Idee ist aber, dass diese Mühen am Ende belohnt werden, indem man schließlich die wahren Naturgesetze entdeckt. Dass man schließlich die Zusammenhänge erkennt, die in der Natur tatsächlich wirksam sind. Die Annahme ist ferner, dass die so gewonnenen, der Natur mühsam abgelauschten Naturgesetze mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit wahr sind. Die Dinge an sich sind erkennbar, man muss nur intensiv genug und vorurteilsfrei hinsehen.

Ergänzt wird dies durch Newtons „hyptheses non fingo“. Das heißt: auf diese sorgfältige Weise gewonnenen Naturgesetze sind von Prinzipien zu unterscheiden, die entweder auf gar keine empirischen Basis aufgestellt werden (also „fiktiv“/erfunden sind) oder nur ungenügend und voreilig anhand der empirischen Tatsachen. Solche Prinzipien können nicht als durch die empirischen Tatsachen gesichert gelten. Möglicherweise gelten sie, aber es gibt keinen empirischen Beleg dafür. Das Ziel ist eine Wissenschaft, die ohne derartige Hypothesen auskommt, und bei der alle Allaussagen sorgfältig empirisch belegt sind.

Fazit

Die Bedeutung von Newton ist immens. Er ist der erste Naturphilosoph, der eine durchgängige mathematische Beschreibung der Welt gegeben hat. Allerdings mit der schweren Hypothek, dass er die fernwirkende Gravitationskraft nicht auf Stoß und Druck zurückführen konnte. Was sein Wissenschaftsmodell betrifft, war er höchst paradox. Erstens betrieb er faktisch eine mathematisch modifizierte aristotelische Naturwissenschaft, mit einem Anspruch auf notwendige Gültigkeit, die axiomatisch aufgebaut ist und die aristotelische Induktion verwendet, um die obersten Prinzipien einsichtig zu machen. Nach außen hin propagierte er aber zweitens einen Bezug zu Bacons Empirismus. Diesen vereinfachte er aber drittens derart, dass künftig Induktion nur noch verstanden wurde als der Schluss von vielen einzelnen, positiven Instanzen auf eine allgemeine Aussage. Insofern hat Newton nicht nur eine neue Physik geschaffen, sondern auch eine neue Wissenschaftstheorie, sowie eine neue Art der Induktion. Und bis heute versteht man in der Regel Induktion auf Newtons neue Weise.

[1] zitiert nach Ivo Schneider, S. 45

[2] zitiert nach Schneider, S. 47.

[3] Dijksterhuis [15], IV 293, S. 521.

[4] Newton: Principia, S. S 24.

[5] Newton, Principia, Buch I, Scholion, S. 28.

[6] Galilei: Discorsi, Kap. III, Th. I, S. 183 oder Discorsi, Kap. III, Th. II, S. 205.

[7] De Padova: Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit, S. 163.

[8] Siehe hierzu Carnaps Aufsatz: Empirismus, Semantik und Ontologie von 1950.

[9] Siehe Kapitel 10.3.1.

[10] Newton: Principia, S. 28.

[11] Newton: Principia, S. 29, siehe auch S. 32.

[12] Newton: Principia, S. 516.

[13] Newton: Prinicpia, S. 30 f.

[14] Siehe Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 94 ff., und Dijksterhuis: Die Mechanisierung des Weltbilds, S. 519 ff.

[15] Galilei: Dialog über die Weltsysteme, S. 152 ff..

[16] Descartes: Principia, II.37 und II.39.

[17] Siehe Koyré: Newton Studies S. 9.

[18] Dijksterhuis [15], IV 303, S. 528. Siehe auch Pulte [61], S. 97. Siehe auch Pulte S. 97.

[19] Newton: Principia, S. 34.

[20] Newton: Principia, S. 43.

[21] Er schreibt in Wissenschaft und Hypothese, S. 100 f.: „Wenn man sagt, dass die Kraft die Ursache einer Bewegung sei, so macht man Metaphysik, und diese Definition würde, wenn man sich mit ihr begnügte, völlig unfruchtbar sein. Wenn eine Definition zu irgendetwas nützlich sein soll, muss sie uns lehren, die Kraft zu messen; […] es ist keineswegs nötig, dass sie uns lehrt, was die Kraft an sich ist […]. Man muss also zuerst die Gleichheit von zwei Kräften definieren. Wann wird man sagen, dass zwei Kräfte gleich sind? […] Es ist unmöglich zu wissen, wie sich zwei Kräfte verhalten würden, welche nicht einander direkt entgegenwirken, wenn sie dazu gebracht werden, einander direkt entgegenzuwirken.“

[22] siehe Ivo Schneider: Isaac Newton, S. 41.

[23] Newton: Principia, S. 59 f.

[24] Newton: Principia, S. 59.

[25] Für weitere Details seihe Pulte S. 98 ff.

[26] Helmholtz: Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, in Bd. 1, S. 584.

[27] Pulte, S. 92 ff.

[28] Newton, Principia, S. 381.

[29] Newton, Principia, S. 516.

[30] zitiert nach Pulte [61], S. 128, aus dem Englischen von mir übersetzt.

[31] Galilei: Dialog über die beiden Weltsysteme, S. 152 f.

[32] Descartes: Principia, II.44.

[33] Newton: Principia, S. 30.

[34] Newton: Principia, S. 32.

[35] Newton: Principia, S. 34.

[36] Newton: Principia, S. 43.

[37] Newton: Principia, S. 25.

[38] Galilei: Dialog über die beiden Weltsysteme, Kap. I, S. 35.

[39] Newton: Principia, Buch III, allgemeines Scholion, S. 515 f.

[40] Newton: Optik, S. 266.

[41] Newton: Optik, S. 231.

[42] Newton: Principia, S. 395.

[43] Siehe Bacon: Novum Organon, S. 77.

[44] Siehe die Einleitung von Sticker in: Newtons Theorie der Prismenfarben, S. 39 ff.

[45] Newton: Optik, Query 31.

[46] Newton: Principia, Regel IV.

1 Kommentar
  1. Holger Fischer sagte:

    Ganz schön viele Annahmen (physikalische Konstanten), wie ich meine…

    “Man hat den Eindruck, dass die moderne Physik auf Annahmen beruht, die irgendwie dem Lächeln einer Katze gleichen, die gar nicht da ist.”

    Albert Einstein *1879 †1955

    Es ist schon erstaunlich, dass dieses Zitat dem Albert Einstein zugeordnet wird. Um 1900 war es nämlich so, dass der komplette Weltraum in Gefahr geriet. Nur durch die allgemeine Relativitätstheorie von Einstein konnte der Weltraum gerettet werden. Natürlich schwört heute jeder, dass es diesen Weltraum wirklich gibt. Immerhin sah bereits bei Raumschiff Enterprise, Kaptain Kirk, Pille und Mr. Spock alles absolut echt aus – und natürlich KANN auch sind sein, was nicht sein DARF ->

    https://info-allerlei.de/welt-am-draht.html

    Antworten

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