Naturphilosophische Dispute und Mathematisierung der Physik

Newtons Principia sind ein bahnbrechendes Werk. Seine Gravitationstheorie ermöglicht es, gleichermaßen Bewegungen auf der Erde, wie den freien Fall, als auch Bewegungen von Himmelskörpern zu erklären.

Vieles ist zwar den damaligen Naturwissenschaftlern durchaus bekannt gewesen, aber Newton gelingt der große Wurf, alles in einem einzigen axiomatisch aufgebauten System zusammenzufassen. So sieht Helmut Pulte

„[…] die große Leistung Newtons gerade darin, in deduktiver Art ein ‚Netz‘ von Begriffen und mathematischen Sätzen aufzubauen, das unter der Fülle des empirischen Belegmaterials nicht ‚reißt‘, sondern es sogar gestattet, die ‚Maschen‘ so zu verfeinern, dass der Einzelfall – sei es eine terrestrische, ‚galileische‘ Bewegung oder eine caelestische, ‚keplersche‘ Bewegung – noch approximiert wird. Hierin liegt der unifizierende Beitrag der Principia, der es durchaus gestattet, sie mit Euklids Elementen auf eine Stufe zu stellen.“[1]

Nach der Veröffentlichung der Principia 1687 avanciert Newton zu einem wissenschaftlichen Superstar, um den sich auch ein gewisser Personenkult entfaltet, besonders in England. Aber auch auf dem Kontinent verbreitet sich sein Ruhm, beispielweise ist Voltaire einer seiner Anhänger. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Wissenschaftlern, die Newtons Naturphilosophie kritisieren. Denn im frühen 18. Jahrhundert gibt es neben der Gruppe der Newtonianer zwei weitere bedeutende naturphilosophische Schulen, nämlich die Cartesianer und die Leibnizianer, die allesamt unterschiedliche Grundideen vertreten.

Die Cartesianer sehen das Wesen eines materiellen Körpers in seiner geometrischen Gestalt und sie verstehen alles Materielle als vollkommen passiv. Materieteilchen erfüllen das Universum vollständig und ohne Lücke und Vakuum. Descartes kennt zwar drei Grundelemente, nämlich Erde, Luft und Feuer, unzerstörbare Atome aber lehnt er ab. Die Materie ist unendlich teilbar. Da die Materie an sich passiv ist, kommt nur durch einen äußerlichen, göttlichen Anstoß Bewegung ins Universum. Demnach hat Gott beim Schöpfungsakt eine bestimmte Bewegungsquantität (m×v) mitgeschaffen. Seitdem drücken und stoßen die geschaffenen Materieteilchen ununterbrochen gegeneinander. Gemäß dem Impulserhaltungssatz bleibt die Gesamtsumme der von Gott geschaffenen Bewegungsquantität für alle Zeiten gleich. Durch dieses ständige Drücken und Stoßen der Materieteilchen, die das ganze Weltall ausfüllen, entstehen die genannten drei Grundelemente. Außerdem bilden sich gigantische kosmische Wirbel, mit denen die Cartesianer die Bewegung der Planeten, sowie die Gravitation erklären wollen. Das zweite wichtige Bewegungsprinzip ist die Trägheit. Ruhe und gleichförmige Bewegung verstehen die Cartesianer gleichermaßen als passive Zustände der Materie. Auf keinen Fall bewegt sich die Materie selbst aus eigener Kraft oder bewegt anderes aus eigener Kraft.

Auch die Leibnizianer meinen, dass das gesamte Universum lückenlos mit Materie ausgefüllt ist, die immer weiter teilbarer ist. Auch sie halten die Existenz eines Vakuums für unmöglich. Allerdings denken sie sich die materielle Welt als eine große verschachtelte Struktur Monaden, wobei verschiedene materielle Teile jeweils durch eine zentrale Monade beherrscht werden. So wird der menschliche Körper von einer bestimmten individuellen Monade dominiert, die man landläufig auch die „Seele“ der betreffenden Person nennt. Aber darunter gibt es Organe, die ihrerseits wieder durch eine spezifische Monade strukturiert werden. Jede Monade ist zudem mit bestimmten Bewusstseinsfähigkeiten ausgestattet. So ist das gesamte Universum hierarchisch und ineinandergeschachtelt vom Unendlichkleinen bis zum Unendlichgroßen, durch unendliche viele Monaden beseelt und in Strukturen von Strukturen unterteilt. Jede einzelne Monade wurde von Gott geschaffen, ist an sich unzerstörbar und unteilbar und kann nur durch Gott selbst wieder vernichtet werden. Beim Schöpfungsakt stattet Gott jede Monade mit einer inneren aktiven Kraft aus, der gemäß sich die Monade eigenständig und unabhängig von allen anderen entwickelt. Dass die Entwicklungslinien der unendlich vielen Monaden zusammenpassen, gewährleistet die prästabilierte Harmonie, die Gott in seiner unfassbaren Weisheit und seiner vollkommenen Macht eingerichtet hat. Die Trägheit begreifen die Leibnizianer als innere (aktive) Kraft einfachster Materieteilchen, sich einer Bewegungsänderung zu widersetzen.

Beide Schulen, die Cartesianer und die Leibnizianer, schätzen die Anwendung von Mathematik in der Naturphilosophie. So fand Huygens, der tendenziell als Cartesianer zu verstehen ist, mathematische Lösungen für eine Vielzahl von physikalischen Einzelproblemen, darunter die korrekten Stoß- und Pendelgesetze, sowie eine Lichttheorie. Leibniz‘ wichtigste Beiträge zur mathematischen Physik sind der Erhaltungssatz von Höhenenergie und kinetischer Energie (½ mv²), sowie die Infinitesimalrechnung. Aber keinen von beiden ist eine umfassende mathematische Theorie gelungen, die einen Großteil der Naturphänomene hätte erklären können. Insbesondere haben sie alle erfolglos ihre Zähne an einer in sich schlüssigen, mathematischen Gravitationstheorie ausgebissen. Sie hielten daran fest, die Schwerkraft auf materielle Wirbel zurückzuführen zu wollen, was erstens leicht zu widerlegen ist und zweitens sowieso sehr schwer mathematisch beschreibbar gewesen wäre.

Die naturphilosophischen Lehren der Cartesianer und Leibnizianer sind größtenteils begrifflich-rational und nicht mathematisch, obwohl eine durchgängige mathematische Theorie durchaus ihr Ziel gewesen ist. Bemerkenswert ist ferner, dass sie ihre naturphilosophischen Prinzipien mit theologischen Argumenten begründen, d.h. mit Gottes Vollkommenheit und unendlicher Weisheit. Der Impulserhaltungssatz gilt, weil ein unbeständiges Naturgesetz der Beständigkeit Gottes widersprechen würde. Nach Leibniz muss das Universum gänzlich mit Materie ausgefüllt sein, weil ein Weniger an Materie auch ein Weniger an Gottes Macht bedeuten würde, was nicht sein kann. Physik und spekulative Metaphysik gehen damals noch ungeniert Hand in Hand.

Erst Newton gelingt der große Wurf einer einheitlichen Theorie, die einen Großteil des damaligen mathematisch-physikalischen Wissens axiomatisch zusammenfasst und außerdem eine mathematische Gravitationstheorie beinhaltet. So kann er die Phänomene des freien Falls, des Wurfes als auch der Planetenbewegungen mittels derselben mathematischen Prinzipien schlüssig beschreiben. Dass sich die Newtonschen Physik im Laufe des 18. Jahrhunderts durchsetzt, hat vor allem mit der durchgängigen Mathematisierung seiner Theorie zu tun.

Naturphilosophisch-metaphysisch macht Newton durchaus eine Reihe von Annahmen, die sowohl von den Cartesianern als auch von den Leibnizianern heftig bekämpft wurden. Vorneweg lehnen sie Newtons Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit ab. Ferner ist Newton Atomist, glaubt also an kleinste, unzerstörbare, unteilbare Materiepartikel, die sich in einem Universum bewegen, das überwiegend ein leeres Vakuum ist. Das widerspricht vehement sowohl Descartes‘ als auch Leibniz‘ Ansicht.

Unbefriedigend ist vor allem, dass Newton von fernwirkenden Kräften spricht. Vielen zeitgenössischen Wissenschaftlern erscheint das als Rückfall in die Scholastik und gilt ihnen als höchst unwissenschaftlich. Sie halten ausschließlich solche Kräfte für plausibel, die durch Stoß und Druck in unmittelbarem Kontakt wirken. Selbst Newton versteht seine fernwirkende Schwerkraft nur als Hilfskonstruktion, solange bis eine zufriedenstellende Erklärung der Gravitation alleine mit Druck und Stoß gefunden sein wird. Er meint, dass hier die Annahme eines ätherischen Mediums möglicherweise die Lösung sei.

Aber auch Newton argumentiert theologisch. In seinem Werk Opticks behauptet er, dass Gott immer wieder ins materielle Weltgeschehen eingreifen würde, um zu verhindern, dass die Fixsterne kollidieren und um Unregelmäßigkeiten im Planetensystem auszugleichen, die durch Kometen entstehen würden. Ohne die regelmäßigen göttlichen Korrekturen, würde die Welt notwendigerweise untergehen.

Newtons Naturphilosophie ist zwar mathematisch und kann eine Vielzahl von Naturphänomenen hervorragend mathematisch beschreiben. Sie ist aber auch mit einigen metaphysischen Positionen verknüpft, über die man trefflich streiten kann.

Leibniz-Clarke-Briefwechsel

In den Jahren 1715 und 1716 standen Leibniz und Samuel Clarke (1675-1729) in Briefkontakt. Clarke war ein Schüler und enger Vertrauten Newtons, der damals ein über die Grenzen Englands hinaus angesehener Philosoph und Theologe war. Der Briefwechsel besteht aus fünf Schreiben von Leibniz und fünf Erwiderungen von Clarke. Er endet nicht, weil sie zu einem Konsens gekommen wären, sondern nur aufgrund von Leibniz‘ Ableben. Wissenschaftsgeschichtlich ist der Briefwechsel vor allem deswegen interessant, weil Newton selbst, wie man heute weiß, an den Antwortschreiben Clarkes mitgewirkt hat.

Ich beziehe mich nachfolgend auf

  • Der Leibniz-Clarke Briefwechsel, übersetzt und herausgegeben von Volkmar Schüller, Akademie Verlag 1991.

Thematisiert werden zwar naturphilosophische Themen, wie z.B. der Atomismus, die Gravitation, sowie Newtons Konzepte des absoluten Raums und der absoluten Zeit. Die Diskussion wird aber vor allem bestimmt durch theologische und metaphysische Unstimmigkeiten, vorneweg die Behauptung Newtons, Gott würde immer wieder in den Lauf der Welt eingreifen, um deren Untergang zu verhindern. Leibniz hält dies für inakzeptabel, da damit gesagt wird, dass Gott beim Schöpfungsakt die Welt nicht perfekt geschaffen habe. Das würde aber mit der Vollkommenheit und unendlichen Weisheit Gottes im Widerspruch stehen. Leibniz vergleicht Gott mit einem Uhrmacher, der nur dann als vollkommen zu bezeichnen ist, wenn auch sein Werk völlig fehlerhaft ist und keine ständigen Nachbesserungen verlangt. So begründet Leibniz seine Lehre von der prästablilierten Harmonie, d.h. dass Gott das Universum mit dem Schöpfungsakt so perfekt geschaffen hat, dass alles genau und völlig fehlerfrei zusammenpasst.

Auch die naturphilosophischen Themen werden fast immer unter Berufung auf die Vollkommenheit und unendliche Weisheit Gottes diskutiert. Für einen heutigen Leser liest sich der Schriftwechsel somit weniger als Diskussion über physikalische Prinzipien, sondern eher als theologisches Streitgespräch. Hier als Beispiel eine Skizze von Leibniz‘ Widerlegung des absoluten Raumes[2]:

Behauptung: Der Raum existiert nicht an und für sich als absoluter Raum unabhängig von den Dingen, sondern nur als gleichzeitige Anordnung der Dinge. D.h. gibt es nur einen relativen Raum.

Beweis durch Widerspruch: Annahme, der Raum wäre absolut in dem Sinne, dass er an sich, unabhängig von den materiellen Dingen existiert. Dann müsste sich Gott beim Schöpfungsakt dafür entscheiden, an welchen bestimmten Ort er z.B. die Erde stellt. Da der Raum aber homogen ist, ist jeder Ort im absoluten Raum gleichwertig, kein Ort ist aufgrund eines rationalen Grundes dem anderen vorzuziehen. Den Ort, den Gott beim Schöpfungsakt für die Erde auswählen würde, hätte Gott somit völlig zufällig gewählt.  Dass Gott aber eine Entscheidung rein zufällig trifft, würde seiner Vollkommenheit widersprechen. Gott trifft keine zufälligen Entscheidungen. Also muss die Annahme falsch sein und die Behauptung ist bewiesen. Der Raum wird also erst in Abhängigkeit von den Dingen und nur relativ zu ihnen als deren Ordnung des gleichzeitigen Nebeneinander geschaffen.

Auf ähnliche Weise „beweist“ Leibniz, dass es keine absolute Zeit gibt, sondern dass die Zeit für sich alleine genommen, unabhängig von den Dingen nicht existiert, sondern ausschließlich als Ordnung der Dinge. Zeit ist insofern immer relativ. Gäbe es nämlich eine absolute Zeit, dann müsste sich Gott für seinen Schöpfungsakt einen bestimmten Zeitpunkt auswählen. Nun sind alle Zeitpunkte vollkommen gleichwertig. Somit wäre Gottes Entscheidung zufällig, was seiner Vollkommenheit widersprechen würde. Die Zeit wird also erst in Abhängigkeit von den Dingen und nur relativ zu ihnen als deren Ordnung des Nacheinander geschaffen.

Sehen wir uns an, wie Clarke (bzw. Newton) auf Leibniz‘ Widerlegung des absoluten Raumes antwortet[3]:

„Die Gleichheit aller Raumteile ist kein Argument dagegen, dass Gott in jedem Teil auf solche Weise wirkt, wie es ihm gefällt. Gott kann durchaus gute Gründe dafür haben, endliche Dinge zu erschaffen, aber endliche Dinge können nur an ihrem bestimmten Ort existieren. […]“

Das eigentlich Interessante an Clarkes (bzw. Newtons) Erwiderung ist, dass er sich überhaupt auf diese metaphysisch-theologische Art des Argumentierens einlässt. Wäre Newton wirklich der große Empiriker gewesen, wie ihn die Nachwelt gerne sieht, dann hätte er Leibniz‘ Beweisführung als bloß spekulativ zurückweisen müssen. Stattdessen hätte er auf Erfahrungstatsachen verwiesen. Dass Clarke/Newton das nicht tun, sondern selbst mit Gott argumentieren, zeigt, wie sehr damals auch noch die Newtonsche Naturphilosophie nicht-empirisch und metaphysisch war. Und das ist natürlich ganz besonders paradox angesichts dessen, dass Newton behauptet hat, keine empirisch unbegründeten Hypothesen aufzustellen, und alle seine Aussagen sorgfältig induktiv aus den Naturerscheinungen zu erschließen. Offenbar stimmen hier Anspruch und Wirklichkeit nicht miteinander überein.

In ähnlicher Weise streiten Leibniz und Clarke/Newton mit theologisch-metaphysischen Argumenten darüber ob es Atome und ein Vakuum gibt oder nicht. Keiner der Kontrahenten kommt auf den Gedanken, wie man hier mittels Empirie, d.h. mittels Experimenten und konkreten Messungen, Behauptungen belegen oder widerlegen könnte.

Dasselbe gilt für die Frage, ob es fernwirkende Gravitationskräfte gibt. Hier muss allerdings angemerkt werden, dass Leibniz offenbar die Position Newtons nicht versteht. Leibniz unterstellt Newton, selbst an fernwirkende Kräfte zu glauben, was für Leibniz wie der Glaube an ein permanentes Wunder ist. Carke/Newton versuchen aber klarzustellen, dass sie nur das Phänomen der Gravitation mathematisch beschreibe und dass dafür eine vermeintlich fernwirkende Kraft nur eine Hilfsannahme ist. Dass aber Newton sehr wohl daran festhält, dass Dinge auf andere Dinge nur durch direkten Kontakt einwirken können. Er hat dafür nur noch kein passendes Erklärungsmodell gefunden. Jedoch werden weder Newton noch ein anderer Naturwissenschaftler ein solches Modell finden. Da aber Newtons Physik das Phänomen der Gravitation mathematisch gut beschreibt, werden sich die Wissenschaftler an fernwirkende Kräfte gewöhnen. So wird aus einer vorläufigen Hilfsannahme eine physikalische Selbstverständlichkeit.

Naturwissenschaftler entwickeln eine anti-philosophische Grundhaltung

Wie gesagt gab es anfangs vielfältige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen naturphilosophischen Schulen. Sowohl die Cartesianer als auch die Leibnizianer lehnten die Annahme fernwirkender Kräfte als völlig unwissenschaftlich ab. Auch Newtons absoluter Raum bereitete so manchem damaligen Gelehrten Bauchschmerzen. Newtons Naturphilosophie hatte einige offensichtliche Schwachpunkte. Wie wir anhand des Briefwechsels zwischen Leibniz und Clarke gesehen haben, wurde dieser Disput auf einer theologisch-metaphysischen Ebene geführt, also weder mathematisch, noch empirisch.

Newton konnte die Gravitation nicht durch Druck und Stoß erklären, außerdem machte er ein paar theologisch-metaphysische Annahmen, insgesamt aber bot das Newtonsche System einen hervorragenden Rahmen dafür, sehr viele Naturphänomene mathematisch zu beschreiben. Es war in der Praxis gut anwendbar und lieferte zutreffende Prognosen. Mit der Newtonschen Physik konnte man die Umlaufbahnen präziser berechnen als mit den Keplerschen Gesetzen, außerdem führte sie 1846 zur Entdeckung des Planeten Neptun im Sonnensystem.

Der außerordentliche Erfolg der Newtonschen Physik ließ die Wissenschaftler nach und nach die naturphilosophischen und metaphysischen Differenzen der verschiedenen Schulen vergessen. Vielleicht verdrängten sie sie auch einfach nur. Zumal sie ja in einem wichtigen Punkt alle miteinander übereinstimmten: Naturwissenschaft sollte mathematisch sein. Auch Cartesianer und Leibnizianer lieferten wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der mathematisch orientierten Physik. Obwohl die drei Schulen die Natur unterschiedlich interpretierten, wurde die mathematische Physik im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr zu einem Gemeinschaftsprojekt, das alle einte. Die naturphilosophisch-metaphysischen Streitigkeiten traten zunehmend in den Hintergrund und wurden als fruchtlos verworfen. So ist es auch nicht erstaunlich, wenn sich allmählich unter Naturwissenschaftlern eine anti-philosophischer Grundhaltung herausbildete. Die spekulative Philosophie entzweite, die Mathematik einte sie. Über manche mathematische Formel durfte man zwar nicht nachdenken, was genau sie in der Realität bedeuten soll, so lange man sie aber erfolgreich anwenden konnte und sie zu Ergebnissen führte, die gut mit den Erfahrungstatsachen übereinstimmten, zutreffende Voraussagen erlaubten und in der Ingenieurskunst hilfreich waren, hatten die Physiker keine Probleme damit.

Dies führte erstens dazu, dass die Physiker immer mehr von metaphysisch-philosophischen Diskussionen abrückten, ja sie sogar zunehmend mieden und als „unwissenschaftlich“ empfanden, eine Einstellung, die man bis heute oft bei Naturwissenschaftlern finden kann. Auch in Pierre Duhems Buch Ziel und Struktur physikalischer Theorien (1906) spielt diese Unterscheidung eine wichtige Rolle. Zweitens wurde der mathematische Ansatz immer mehr aufgewertet. Am Ende ging es den Vertretern der verschiedenen Schulen vor allem darum, eine einheitliche mathematische Theorie zu entwickeln, die alle mathematisch-physikalischen Errungenschaften schulübergreifend zusammenfassen sollte. Immerhin sind mathematische Beweise leichter und eindeutiger überprüfbar als philosophisch-begriffliche Deduktionen. Mathematische Lösungen können in der Regel für praktische Fragestellungen nutzbar gemacht werden und erlauben konkrete Prognosen, philosophische nicht.

Während die Philosophie trennt, eint die Mathematik. Während naturphilosophisch-metaphysische Dispute zu unfruchtbaren, nie endenden Streitigkeiten führen, kann man gemeinsam an dem Projekt einer umfassenden, mathematischen Physik arbeiten, die in der Praxis erfolgreich einsetzbar ist. Das erinnert an die Astronomie der Antike bis in die frühe Neuzeit. Platoniker und Aristoteliker hatten bestimmte naturphilosophische Auffassungen vom Kosmos. Unabhängig aber davon arbeiteten die Astronomen über viele Jahrhunderte hinweg an dem mathematischen, ptolemäischen Modell, das in der Praxis ausreichend gute Prognosen erlaubte.

Und doch gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen dem ptolemäischen Modell und der im 18. Jahrhundert entstehenden analytischen Mechanik. Ersteres wurde immer nur als bloß hypothetisches Rechenmodell verstanden. Kein antiker oder mittelalterlicher Astronom hielt es für eine wissenschaftliche Wahrheit. Demgegenüber verstehen die Physiker des 18. Jahrhunderts ihre mathematische Physik größtenteils durchaus nicht als hypothetisch, sondern als notwendige, unumstößliche und rational beweisbare Wahrheit.

Wie kommt es zu diesem Unterschied?  Ich glaube, dass der Unterschied darauf beruht, dass die Natur in der frühen Neuzeit „mathematisiert“ worden ist, was sie vorher nicht war. Damit meine ich: Die antiken und mittelalterlichen Gelehrten verstanden das Wesen der Natur als genuin nicht-mathematisch, sofern sie Aristoteliker waren; oder sie verstanden es zwar mathematisch, aber als von der materiellen Welt getrennte Ideen, sofern sie Platoniker waren. Erst in der frühen Neuzeit begann man damit, das immanente Wesen der Natur als mathematisch zu verstehen. Die Naturphänomene begriff man nun als ihrem innersten Wesen nach als mathematisch. Jede Abweichung davon galt als unwesentlich. Selbstverständlich ist auch das eine metaphysische, empirisch nicht verifizierbare Position. Aber sie war gewissermaßen der kleinste metaphysische Nenner, den Newtonianer, Cartesianer und Leibnizianer gemeinsam hatten.

Die analytische Mechanik, die im Laufe des 18. Jahrhundert entstand, machte sich also nicht von jeglicher Metaphysik frei. Es wurden vielmehr nur strittige naturphilosophischen Themen vermieden, die gemeinsame Metaphysik einer ihrem Wesen nach mathematischen Natur wurde beibehalten. Und genau diese Metaphysik erlaubte es den damaligen Wissenschaftlern, sich auf eine mathematische Physik zu einigen, die sie nicht nur als bloß hypothetisches Rechenmodell verstanden, wie die früheren Astronomen das ptolemäische Modell, sondern als eine Wissenschaft von notwendigen, wesensmäßigen Wahrheiten.

Auch Helmut Pulte betont die Bedeutung der Mathematik für die Entwicklung der Physik im 18. Jahrhundert. Seiner Auffassung nach ermöglichte die Mathematik eine „Verständigung auf unterer Ebene“, sowie eine „formale Integration“, die damit zu einer „semantischen Entladung“ der in der Mechanik verwendeten Mathematik führte. Es kam zu einer „wachsenden Unabhängigkeit der rationalen Mechanik von philosophischen Grundlegungen“[4].

[1] Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 103.

[2] Leibniz-Clarke-Briefwechsel, S. 54 f. Siehe auch S. 81.

[3] Leibniz-Clarke-Briefwechsel, S. 68 f. Siehe auch S. 127 f.

[4] Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 154 und S. 155.

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