Aristoteles’ Physik des normalen Alltags
Aristoteles hat ein sehr umfangreiches Werk zu physikalischen, biologisch-medizinischen, botanischen und zoologischen Themen verfasst.
Darunter beispielsweise über das menschliche Blut, das Gehirn und andere Organe, Zeugung, Geburt, Einteilung von Pflanzen und Tieren und vieles mehr.
Ähnlich wie bei der Ontologie kann man Aristoteles mit Bezug auf die Naturphilosophie als den Philosophen der normalen Alltagserfahrung und des gesunden Menschenverstands bezeichnen. Der Wissenschaftshistoriker Simonyi schreibt zur Einführung in die aristotelische Physik[1]:
„Nehmen wir an, wir hätten unsere Schulkenntnisse über die Newtonschen Grundgesetze der Bewegung vergessen und sollten aus unseren Alltagsbeobachtungen ohne Zuhilfenahme von Experimenten irgendeine Systematik in die Vielfalt der Bewegungsformen bringen, sowie irgendeinen Zusammenhang zwischen einem beliebigen Charakteristikum der Bewegung, z.B. der Geschwindigkeit, und einer wirkenden Ursache finden müssen. Wir versetzen uns in Gedanken auf eine Promenade am Ufer des Plattensees, wo wir alle Bewegungen, die durch die Menschen sowie durch die Dynamik der Natur verursacht werden, beobachten wollen. Im seichten Wasser des Sees schwimmen viele kleine Fische, in der Luft fliegen Möwen umher, und Spaziergänger gehen an uns vorbei. Allen diesen Bewegungen ist etwas gemeinsam: Die Ursache für die selbständige Bewegung ist offenbar darin zu suchen, dass es sich hier um Lebewesen handelt.
Lassen wir nun einen Gegenstand aus der Hand gleiten, dann ist es natürlich, dass dieser auf die Erde fällt. Aus dem Schornstein eines vorüberfahrenden Schiffs steigt Rauch nach oben auf, was wir auch als naturgegeben ansehen. Ein Kind zieht hinter sich einen kleinen Handwagen, vor einem anderen Kind fährt ein modernes Spielzeugauto von allein, ohne dass ein unmittelbarer Kontakt zwischen Kind und Auto zu sehen ist. Diese beiden Bewegungen sehen wir nicht als naturgegeben an; wir suchen bei jeder nach der Ursache der Bewegung, nach dem Antrieb. Offenbar werden beide Bewegungen erzwungen, einmal von dem Kind, also einem Lebewesen, das andere Mal durch einen im Auto eingebauten Motor.
Es ist Abend, die Sonne versinkt langsam hinter dem Horizont, und die Sterne werden sichtbar. Die Uferpromenade entvölkert sich, der Wind weht jedoch weiter, und auch die Dynamik der Wellen bleibt unverändert. Am Himmel beobachten wir etwas völlig anderes, als wir es von den irdischen Bewegungen her gewohnt sind. Die langsamen und gleichförmigen Bewegungen am Firmament stehen in einem scharfen Gegensatz zu all den schnell veränderlichen, unruhigen und schließlich abklingenden Bewegungen auf der Erde. Es ist offensichtlich, zumindest ist es unser unmittelbarer Eindruck, dass in den himmlischen Sphären andere Bewegungsgesetze gelten müssen als auf der Erde.“
So kommt man durch die normale Alltagserfahrung zu folgender Einteilung der Bewegungen:
1. Irdische Bewegungen
a) Bewegungen von Lebewesen:
Die Ursache der Bewegung liegt im Lebewesen selbst.
b) Natürliche Bewegungen im Sinne der Wiederherstellung einer gestörten Ordnung.
2. Bewegungen am Sternenhimmel
Gleichförmige Bewegungen nach einer ewigen Ordnung.
Genauso tut es Aristoteles. Auch hier ist es seine große Leistung, dass er für die Naturbeschreibung, so wie sie augenscheinlich unserer Alltagserfahrung entspricht, eine entsprechende Begrifflichkeit geschaffen hat, sowie ein passendes naturphilosophisches Gesamtsystem. Andererseits schuf er damit auch eine Art Denkkorsett, das die moderne Physik erst überwinden musste. Und ähnlich wie in der Ontologie führten verschiedene Aspekte dieser Naturauffassung zu Unstimmigkeiten, mit denen sich die Philosophen jahrhundertelang herumgeschlagen haben und letztlich Galilei zu seiner neuen Physik veranlassten.
[1] Simonyi, [56], S. 76-77.
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