Aristoteles: Das Wesen der Mathematik

Aristoteles schreibt mit Bezug auf die Physik, die Medizin und die Mathematik[1]:

„Aber alle diese Wissenschaften handeln nur von einem bestimmten Seienden und einer bestimmten Gattung […], aber nicht vom Seienden schlechthin und insofern es Seiendes ist.“

Damit will er sagen, dass jede Wissenschaft durch ihren spezifischen Gegenstand definiert ist. Der Gegenstand der Medizin ist die Gesundheit, der Gegenstand der Physik die bewegten und unbewegten Körper und der Gegenstand der Mathematik sind die Zahlen und die geometrischen Figuren. Nur eine Wissenschaft hat die Dinge zum Gegenstand ganz allgemein, insofern sie sind, nämlich die Ontologie.

Eine erste Konsequenz daraus ist, dass sich weder die Mathematik, noch die Physik oder die Medizin darum kümmert, inwiefern ihr jeweiliger Gegenstand ist; das ist vielmehr die Aufgabe der Ontologie. Die Mathematiker untersuchen die allgemeinen Prinzipien der Zahlen und der geometrischen Figuren und leiten Theoreme daraus ab; sie untersuchen aber nicht die Frage, welches Sein mathematische Objekte haben.

In seiner Ontologie beschäftigt sich Aristoteles intensiv damit, inwiefern Mathematisches ist. Er führt aus, was Zahlen und geometrische Figuren alles nicht sein können:

  • Zahlen und geometrische Figuren sind nicht in den Körpern;
  • sie können aber auch nicht getrennt von den sinnlich wahrnehmbaren Körpern existieren.

Zahlen und geometrische Figuren sind also keine selbständig bestehenden Substanzen, sondern sie sind vielmehr nur, insofern sie an den Körpern sind. Sie haben somit nur ein abgeleitetes Sein, ähnlich wie die Eigenschaft Rot nichts für sich alleine ist, sondern nur insofern es rote Gegenstände gibt.

Wohl aber kann man das Mathematische von materiellen Körpern abstrahieren, indem man sich nur auf denjenigen Aspekt am sinnlich Wahrnehmbaren konzentriert, der Zahl bzw. geometrische Figur ist. Zeichnet man beispielsweise eine Linie in den Sand, dann handelt es sich hierbei faktisch um etwas Materielles; sieht man aber von allem daran ab und konzentriert sich nur auf den Aspekt seiner Geradlinigkeit, so erkennt man das mathematische Objekt der abstrakten Linie.

Auf ähnliche Weise erhält auch z.B. die Medizin ihren Gegenstand: die Gesundheit. Denn auch die Gesundheit gibt es nur als Eigenschaft an konkreten Lebewesen. Indem man aber von allem anderen absieht und sich nur auf diesen einen Aspekt konzentriert, so erhält man den abstrakten Gegenstand der Gesundheit, den die Medizin untersucht.

Bemerkenswert ist, dass es nach Aristoteles für solche abstrakten Gegenstände, die ja keine Substanzen für sich sind, dennoch eine Wesenserkenntnis geben kann. Denn apodiktische Wissenschaft beruht Prinzipien, die das Wesen des jeweiligen Gegenstandes evident machen. Gemäß der Zweiten Analytik findet man diese Prinzipien, auch in der Mathematik, anhand von Beispielen mittels Induktion und Vernunfteinsicht.

[1] Aristoteles Met.VI 1, 1025 b ff.

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