Aristoteles: Beispiele für ontologische Grundsätze

Aristoteles beabsichtigt in der Metaphysik, eine Wissenschaft vom Seienden als Seiendes zu darzustellen.

Sofern man sich an das Schema des Wissenschaftsmodells hält, das er in der Zweiten Analytik entworfen hat, müsste es Grundsätze für eine solche Ontologie geben, die durch Induktion gewonnen werden und die die Basis für alle weiteren Schlussfolgerungen daraus sind[1].

Aus dem bisher Gesagten kann man folgenden Grundsatz der aristotelischen Ontologie ableiten:

Grundsatz: Das was wirklich ist, ist, was selbständig für sich sein kann, und das sind die Substanzen. Alles andere, was keine Substanz ist, hat nur ein abgeleitetes abhängiges Sein, insofern es an einer Substanz ist.

Eine Schlussfolgerung daraus ist übrigens, dass die platonischen Ideen kein primäres Sein haben können.

Ein anderes Beispiel für einen ontologischen Grundsatz bei Aristoteles ist der Satz vom Widerspruch[2].

Satz vom Widerspruch:

Dasselbe kann demselben unmöglich in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen.

Zunächst ist bemerkenswert, dass Aristoteles den Satz vom Widerspruch nicht als logisches Denkgesetz aufstellt, wie es viele Philosophen nach ihm getan haben. Hier eine mögliche Erklärung. Parmenides erklärte, dass die normale Welt, wie wir sie kennen, nicht sein kann, weil sie in sich widersprüchlich sei. Das Kernproblem bei ihm war das Werden. Wie kann aus etwas, das zunächst nicht ist, etwas werden, das ist? Beim Werden gehen Nicht-Sein und Sein ineinander über. Insofern ist das Werdende in sich widersprüchlich, weil es ist und nicht ist.

Auch Platon unterschied eine Welt des wahren Seins, die Ideen, von der Sinnenwelt, die ihm vor allem deswegen von minderem Sein ist, weil sie eine Welt des Widerspruchs ist. Platon führte an, dass Einzeldinge im selben Moment sowohl gleich als auch ungleich sind, sowohl groß als auch klein, sowohl warm als auch kalt etc.

Wie gesagt will Aristoteles die normale sinnlich erfahrbare Welt, so wie wir sie kennen, nicht nur retten, er schreibt den Einzeldingen sogar mehr Sein zu als den platonischen Ideen. Das geht aber nur, wenn diese Welt nicht in sich widersprüchlich ist.

So verstanden, kann man den Satz vom Widerspruch bei Aristoteles auch so verstehen: Es scheint so zu sein, dass Einzeldinge bisweilen entgegengesetzte Eigenschaften haben oder beim Werden sowohl sind als auch nicht sind. Tatsächlich aber hat ein Ding Widersprüchliches an sich niemals gleichzeitig und in derselben Hinsicht.  Wenn etwas z.B. zum selben Zeitpunkt sowohl gleich als auch ungleich ist, dann nur nach verschiedenen Hinsichten. Und wenn etwas zunächst nicht ist, später aber ist, dann hat das Ding das Sein und Nicht-Sein nicht zum selben Zeitpunkt. Dies führt übrigens zum aristotelischen Bewegungsbegriff, zu dem ich im nächsten Abschnitt komme.

Nachdem Aristoteles den Satz vom Widerspruch in der Metaphysik formuliert hat, betont er mehrfach, dass man diesen Grundsatz, wie jeden Grundsatz, nicht beweisen kann. Dennoch begründet er ihn seitenlang. Man kann sich fragen, warum Aristoteles ihn nicht einfach als evident behauptet und dann zum nächsten Thema übergeht. Eine Erklärung ist, dass Aristoteles die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch induktiv darlegen will, das heißt anhand einiger Beispiele, die dann mittels Vernunfteinsicht eine Verallgemeinerung erlauben. Dabei nimmt er verschiedentlich an, dass jemand die Gegenposition einnimmt, also die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch leugnet. Ein Beispiel ist hypothetisch, die anderen Beispiele nimmt Aristoteles aus der Philosophiegeschichte. Jedes einzelne Mal weist Aristoteles nach, dass eine solche Gegenposition zu absurden Konsequenzen führt. Es handelt sich hier also um keinen Beweis im logisch-deduktiven Sinne, wohl aber um eine Induktion der Gültigkeit anhand verschiedener konkreter Beispiele, ganz im Sinne der Zweiten Analytik.

Ein anderer ontologischer Grundsatz betrifft die Ursachen des Seins, von denen Aristoteles vier kennt:

1) Stoffursache (Hyle).

Alles, was ist, besteht aus etwas. Beispielsweise besteht die Statue aus Erz. Letztlich könnte man alles auf einen Urstoff zurückführen, woraus alles im Grunde genommen besteht: die Materie.

2) Formursache (Eidos, Morphe).

Alles, was ist, ist etwas Bestimmtes. Die Statue ist ein Mensch, weil sie aussieht wie ein Mensch bzw.  eine menschliche Gestalt hat. Oder: Diese Pflanze ist ihrem Wesen nach eine Tulpe; deswegen sieht sie aus wie eine Tulpe und hat diese bestimmte Gestalt. Die aristotelischen Formursache hat eine gewisse Ähnlichkeit zu der platonischen Idee. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Platon annahm, dass die Ideen unabhängig von den Dingen existieren würden. Aristoteles hingegen setzt die Formursache sozusagen in das einzelne Individuum hinein.

3) Wirkursache.

Alles ist, weil es von etwas anderem dazu angestoßen worden ist. So ist der Bildhauer derjenige, der die Statue bewirkt. Etwas bewegt sich von einem Ort zum anderen, weil es von etwas (der Wirkursache) dazu bewegt wird. Das Besondere an Aristoteles‘ Vorstellung der Wirkursache ist, dass seiner Meinung eine Wirkung nur durch direkten, unmittelbaren Kontakt geschehen kann. In die Ferne wirkende Gravitationskräfte, wie sie Newton annimmt, sind im aristotelischen Sinne keine Wirkursachen.

4) Zweckursache (Telos).

Manches, was ist, ist wegen eines bestimmten Zwecks. Typische Beispiele findet man im künstlerisch- handwerklichen Bereich. Der Stuhl wurde geschaffen, damit er den Zweck erfüllt, dass man auf ihm sitzen kann. Aber gerade auch bei Pflanzen und Tieren entspricht es dem gesunden Menschenverstand, Zweckursachen anzunehmen. Warum haben Tiger Reißzähne? Damit sie ihre Beute fangen können. Warum hat ein Baum Wurzeln? Damit er Wasser aus dem Boden ziehen kann. Warum haben Giraffen lange Hälse? Damit sie an die Blätter oben an den Bäumen herankommen können. Die heutige Wissenschaft lehnt Zweckursachen weitestgehend ab, aber auch sie passen gut zu unserer augenscheinlichen Alltagserfahrung.

Aristoteles fasst die Natur insgesamt teleologisch auf. Das heißt er erklärt die natürlichen Phänomene mittels der Ziele oder Zwecke, die die jeweiligen Dinge in sich hätten. Aus einer Zwiebel wird die Tulpe, weil es der Zweck der Tulpenzwiebel ist, diese Art von Blume zu werden. Aus dem Embryo wird ein Mensch, weil dies sein Zweck oder Ziel ist. Luft steigt nach oben, weil das „Oben“ der Zweck bzw. das Ziel der Luft ist. Schweres fällt nach unten, weil das „Unten“ sein Zweck bzw. Ziel ist. So gelangt Aristoteles zu einem hierarchisch geordneten Kosmos.

Der ontologische, aber auch physikalische Grundsatz von Aristoteles bezogen auf die Ursachen könnte man nun wie folgt zusammenfassen[3]:

Grundsatz: Es gibt genau vier Arten von Ursachen, warum etwas ist. Und zwar:

1)     Stoffursache (Hyle): woraus etwas ist;

2)     Formursache (Eidos, Morphe): was etwas ist;

3)     Wirkursache: was den Anstoß dafür gegeben hat, dass es ist;

4)     Zweckursache (Telos): zu welchem Zweck etwas ist.

Aristoteles begründet diesen Grundsatz a) durch Analyse der Bedeutungen des Wortes „Ursache“ (griechisch Aitia) sowie b) durch Induktion.

a) Zunächst stellt Aristoteles fest, dass „Ursache aber in vier verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird.“[4] und dann zählt er die vier oben genannten Arten von Ursachen auf.

b) Danach geht Aristoteles die Philosophiegeschichte von Thales bis Platon durch. Für jede der genannten vier Arten von Ursache gibt es mindestens einen Philosophen, der diese Art von Ursache meinte, wenn er von „Ursache“ sprach. Außerdem hat keiner das Wort Ursache in einer weiteren Bedeutung verwendet. Anhand dieser (historischen) Beispiele kann man sehen, dass der obige Grundsatz allgemein gültig ist.

Dies ist die induktive Begründung dieses Grundsatzes in der Metaphysik. In der Physik behandelt Aristoteles diesen Grundsatz noch einmal. Dort zählt er verschiedene Beispiele aus der normalen Erfahrungswelt auf, um darzulegen, dass es nur diese vier Arten von Ursachen gibt. Auch hier kann man von einer Induktion sprechen.

[1] So ähnlich drückt sich Aristoteles in Met. VI 1, 1025 b ff. aus.

[2] Aristoteles Met. IV Kap. 4.

[3] Aristoteles Met. I 3-7, sowie Physik II 3.

[4] Aristoteles Met. 983a 26 f., sowie Physik 195a3 f.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert