Aristoteles: Ontologie der normalen Alltagserfahrung

Erinnern wir uns. Parmenides leugnete, dass es eine sinnlich wahrnehmbare Welt gibt, die Sophisten hielten alles gleichermaßen für beweisbar wie für widerlegbar, Platon verlegte das wahre Sein in den Ideenhimmel.

Das sind alles Auffassungen, die unserer normalen Alltagserfahrung und unserem gesunden Menschenverstand entgegenlaufen. Das Großartige nun an Aristoteles ist, dass man ihn als den Philosophen der normalen Alltagserfahrung und des gesunden Menschenverstandes bezeichnen könnte. Sieht man in seine Schriften, so ist man leicht von seinen umfangreichen, und oftmals schwer verständlichen Ausführungen abgeschreckt. Aber in seinen Kernaussagen, liegt Aristoteles ziemlich auf der Linie, die viele Menschen selbst heute noch für augenscheinlich richtig empfinden.

Fragt man beispielsweise jemanden, was seiner Meinung nach vor allem ist, dann wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit die Antwort erhalten: die Dinge des gewöhnlichen Lebens, d.h. beispielsweise Steine, Wasser, Pflanzen, Tiere, Menschen, die Gegenstände des Alltags. Das Alltagsverständnis, meine ich, der allermeisten Menschen ist so, dass man in erster Linie die konkreten Einzeldinge für wirklich hält; mit Platons Ideen hingegen wird der gesunde Menschenverstand eher Probleme haben. So kommt auch Aristoteles zu der Auffassung, dass primär erster Linie die konkreten Einzeldinge sind.

Fragen wir weiter: Inwiefern sind Eigenschaften wie beispielsweise Weißheit, eine bestimmte Größe und ähnliches? Ich denke, dass die allermeisten Menschen antworten würden: Eigenschaften sind nur insofern, als sie an konkreten Einzeldingen vorkommen. Dasselbe gilt für Tätigkeiten. Ein Gehen für sich alleine gibt es nicht; es ist immer ein Lebewesen, das geht, und insofern gibt es auch ein Gehen. Auch das entspricht der aristotelischen Position und kann als ontologische Dependenz bezeichnet werden. Bezogen auf die Kategorien heißt das, dass in erster Linie die Kategorie der Substanz Sein hat, alle anderen Kategorien sind nur, insofern sie an einer Substanz sind.

Weiter: Warum ist ein konkretes Einzelding mehr als eine Eigenschaft? Ich denke, dass es für den gesunden Menschenverstand auf der Hand liegend ist: Das konkrete Einzelding kann selbständig existieren, keine Eigenschaft oder Tätigkeit kann alleine für sich bestehen. Auch dies wäre Aristoteles‘ Antwort.

Und nehmen wir weiter an, man fragt einen normalen Menschen, was ein bestimmtes Einzelding denn eigentlich ist. Also z.B.: „Was ist dies?“ Und ich zeige auf einen Hund. Dann wird jeder sagen, dass dieses Tier eben ein Hund ist. Ja, es ist auch behaart und es hat die und die Farbe, und es bewegt sich auf eine gewisse Weise, aber im Grunde genommen ist es – ein Hund. Nehmen wir an, man fragt weiter: „Glaubst du, das was dieses Tier hier zu einem Hund macht, ist etwas, das in dem Tier selbst existiert oder etwas außerhalb dieses Tiers liegendes?“ – Ich vermute, dass die allermeisten Menschen antworten würden: „Selbstverständlich etwas in dem Tier selbst.“

Das Geniale bei Aristoteles ist, dass er vieles von dem, was den allermeisten Menschen (bis heute) als richtig erscheint, in eine entsprechende Begrifflichkeit bringt, sowie ein dazu passendes philosophisches Gesamtsystem entwirft. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass es verschiedene Aspekte des Alltagsverständnisses gibt, die durchaus in Spannung zueinander stehen, um nicht zu sagen sich widersprechen. Diese Spannungen durchziehen die aristotelische Philosophie.

So nennt Aristoteles jedes konkrete Einzelding eine Ousia. Wir könnten dieses griechische Wort mit Wesen übersetzen, das lateinische Wort dafür ist Substanz. Das was vor allem ist, sind Einzeldinge (wie es unserem Alltagsverständnis entspricht) und wir können sie als Wesen bezeichnen. Außerdem kann ich bei jedem Einzelding fragen, was es eigentlich ist, und werde als Antwort einen allgemeinen Begriff erhalten (z.B. „ein Hund“). Auch das, was etwas eigentlich ist, nennt Aristoteles Ousia. Und so könnten auch wir sagen, dieses Tier ist – seinem Wesen nach – ein Hund; oder: Das Wesen dieses Tiers besteht darin, Hund zu sein. Auf diese Weise habe ich schon zwei Bedeutungen von Wesen (Ousia), einmal im Sinne eines Einzelwesens, andermal im Sinne eines allgemeinen Begriffs als Antwort, was ein Ding eigentlich ist.

Die Frage ist nun: Wie ist nun dieses Verhältnis dieser beiden Wesensbegriffe zu verstehen? Eine naheliegende Lösung ist, das allgemeine Wesen als bloße Konstruktion abzutun, als Begriffsschemata, die wir über die Dinge legen. Das was wirklich ist, sind die Einzeldinge, Begriffe wie „Hund“, „Mensch“ etc. sind nur wie Schubladen, nach denen wir die Dinge sortieren, haben aber keine wirkliche Realität. Dies widerspricht aber wiederum der Auffassung, dass in dem konkreten Hund tatsächlich etwas existiert, das ihn zu einem Hund macht. Hund zu sein, kann also nicht nur ein äußerliches Begriffsschema für dieses Tier sein, sondern muss etwas real Existierendes sein.

In seinen Schriften gibt Aristoteles der Substanz (Ousia) weitere Merkmale, die sich in diesem Spannungsfeld bewegen:

  • Substanz (Ousia, Wesen) als Einzelding
    • … existiert selbständig für sich;
    • … ist Träger von Eigenschaften;
    • … ist Subjekt eines Aussagesatzes.
  • Substanz (Ousia, Wesen) als allgemeiner Begriff
    • … ist Gegenstad einer Definition;
    • … ist (auch) Gegenstand eines Aussagesatzes.
  • Substanz (Ousia, Wesen) als das, was etwas eigentlich ist
    • … ist das, wodurch etwas als das erkannt wird, was es tatsächlich ist;
    • … ist das, was in dem Ding bewirkt, dass es ist, was es ist.

In der Aristoteles-Forschung gibt es mannigfaltige Lösungsvorschläge, die ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen werde. Stattdessen möchte ich in den nächsten Beiträgen noch den Bezug zur Zweiten Analytik herstellen.

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