Russell: Klassische Tradition und Geometrie

Ich bin eben über eine Textstelle gestolpert aus Unser Wissen von der Außenwelt des britischen Philosophen Bertrand Russell (S. 11  f.):

“Die Keimzelle der klassischen Tradition ist der naive Glaube der griechischen Philosophen an die Allmacht des Denkens. Die Entdeckung der Geometrie hatte sie derart berauscht, dass sie deren erfahrungsfreie, deduktive Methode für unbegrenzt anwendbar hielten. So wollten sie z.B. beweisen, dass alles Wirkliche eins sei, dass etwas derartiges wie Veränderung nicht existiere und dass die Sinnenwelt nur trügerischer Schein sei. Hinsichtlich der Seltsamkeit ihrer Ergebnisse hatten diese Philosophen keine Bedenken, denn sie glaubten fest an die Richtigkeit ihrer Folgerungen. So konnte die Ansicht entstehen, dass man aufgrund des Denkens allein die wichtigsten und überraschendsten Wahrheiten über die Welt der Wirklichkeit aufstellen konnte; Wahrheiten, deren Gewissheit durch keinerlei Beobachtung zu erschüttern wäre. […] Selbst die moderne Philosophie seit Descartes […] übernahm noch in mehr oder weniger unkritischer Weise die Aristotelische Logik. Außer in England wurde auch weiterhin der Ansicht gehuldigt, dass man mit Hilfe des erfahrungsfreien Denkens zu Offenbarungen über das Weltall gelangen könnte […]”

Ich freue mich, dass offenbar Bertrand Russell im Kern dieselben Thesen wie ich vertreten hat:

  1. Die griechische Philosophie war sehr auf intellektuelle Beweisführung fixiert;
  2. sie war darin anti-empiristisch;
  3. und wurde von der antiken Mathematik inspiriert.

Russell erwähnt nicht, wie sehr die antike Philosophie davon geprägt ist, dass Wahrheit durch Vernunft bzw. Vernunfteinsicht erlangbar ist. Aber auch das ist ein Merkmal, das offenbar aus der antiken Geometrie stammt.

1 Kommentar
  1. Helmut Kessmann sagte:

    Ich würde erwarten, dass Russel in seiner History of the Western Philosophy, erschienen 1945, diese Meinung aus seiner Schrift von 1914 noch weiter vertieft. Er widmet dem Thema sogar ein eigenes Kapitel (Nr 24) “Ich habe mich in diesem Kapitel mit der Mathematik zu befassen; und zwar nicht mit ihr selbst, sondern mit ihrer Beziehung zur griechischen Philosophie, den diese war, vornehmlich bei Plato, sehr eng”. Leider kommen dann “nur” 10 Seiten Geschichte der Mathematiker, einige Anekdoten.

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