Wie die Naturwissenschaft hypothetisch wurde

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die die Naturwissenschaft korrekterweise nur als hypothetisch anzusehen ist. Die obersten Prinzipien der Mechanik galten weitgehend als unumstößlich und notwendig wahr.

Die Frage war nur, ob man ihre Wahrheit rational beweisen konnte, ob sie der Vernunft evidente Axiome sind, oder ob sie, wie Newton meinte, durch Induktion aus den Naturerscheinungen ableitbar sind. Und doch begann sich etwas im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ändern, was den Naturwissenschaftlern ihr Selbstbewusstsein ankratzte. Wilhelm Wundt veröffentlichte 1866 sein Buch Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip, das er 1910 unter dem Titel Die Prinzipien der mechanischen Naturlehre und mit einer neuen Einleitung noch einmal auflegte. Darin schreibt er:

„In einer im Jahre 1866 erschienen Abhandlung ‚Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip‘ habe ich versucht, die logischen Voraussetzungen der allgemeinen Naturlehre im Sinne der damals noch in unbestrittener Geltung stehenden mechanischen Naturanschauung zu entwickeln. […] Als ich zwanzig Jahr später [also 1886] aus Anlass eines Beitrags [zu einer Festschrift] die in jener Abhandlung von 1866 enthaltenen Ausführungen einer Revision unterwarf, war die Situation bereits nicht unerheblich verändert. Zwar galt die mechanische Naturauffassung oder, wie wir diese bestimmter definieren können, die Forderung, dass alle Naturerscheinungen in letzter Instanz auf die für die Mechanik der Massen geltenden Prinzipien zurückführbar sein müssten, etwa mit Ausnahme eines kleinen Kreises von Biologen, die einer den mechanischen Prinzipien nicht unterworfenen spezifischen Lebenskraft huldigten, im wesentlichen noch unbestritten. Aber der Begriff des ‚Axioms‘ war selbst auf mathematischem Gebiet von Zweifeln nicht unberührt geblieben. Noch weniger konnte er solchen auf physikalischem widerstehen. Was früher als Axiom gegolten, begann man als ‚Hypothese‘ zu bezeichnen, womit ausgedrückt war, dass auch ein anderes, möglicherweise von dem aufgestellten wesentlich abweichendes System von Voraussetzungen, sobald es nur dem Zweck einer Verknüpfung der zu beschreibenden Erscheinungen genüge, gewählt werden könne.“

Was war in diesen zwanzig Jahren geschehen? Wundt zählt drei Punkte auf. Erstens würde die neuere Mechanik darauf verzichten, die Naturphänomene zu erklären, und würde sich stattdessen damit begnügen, sie zu beschreiben. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf Kirchhoffs Mechanik von 1876. Zweitens erwähnt er die Analyse des Trägheitsprinzips und meint dabei wahrscheinlich die Antrittsvorlesung von Carl Neumann von 1869. Drittens verweist Wundt auf die nicht-euklidischen Geometrie, die den bislang als selbstverständlich angenommenen Bezug der euklidischen Geometrie zur Realität in Frage stellt.

Nach Kirchhoff sind die Begriffe „Kraft“ und „Ursache“, recht besehen, metaphysische Begriffe und gehen über das hinaus, was uns tatsächlich empirisch gegeben ist. Naturerscheinungen durch Kräfte und Ursachen erklären zu wollen, wie es ja das ausdrückliche Ziel der klassischen Mechanik ist, ist somit unversehens eine Form von Metaphysik. Will man dies vermeiden, dann sollte sich die Naturwissenschaft damit begnügen, die physikalischen Erscheinungen nur zu beschreiben und nicht zu erklären. Dies versuchte er in seiner Mechanik von 1876 zu tun.

Auch Carl Neumann stellte fest, dass das klassische Trägheitsprinzip, sowie Newtons absoluter Raum und absolute Zeit die Empirie überschreitende, metaphysische Prinzipien sind. In seiner Vorlesung von 1869 formulierte er diese Grundlagen der Newtonschen Mechanik metaphysikfrei um, d.h. so, dass sie empirisch überprüfbar sind.

Als weiteren Naturwissenschaftler kann man in diesem Zusammenhang Helmholtz nennen. Er vertrat sowohl in jungen Jahren als auch später den mechanistischen Materialismus. Spätestens in den 1870er-Jahren war ihm aber klar, dass er damit eine metaphysische Hypothese vertritt und dass andere Positionen genauso ihre Berechtigung haben.

Noch 1866 galt die Mechanik als alternativlos und als notwendig wahr. Man glaubte, sich an Newtons Dictum halten zu können und keine Hypothesen machen zu müssen. Damit waren vor allem metaphysische, empirisch nicht hinreichend untermauerte Aussagen gemeint. Zwanzig Jahre später sind Kirchhoff, Neumann und Helmholtz Beispiele für Wissenschaftler, die zu der Erkenntnis gekommen sind, dass die klassische Mechanik bzw. die mechanistische Naturauffassung mehr metaphysische Annahmen macht, als man bislang dachte.

Wundt sagt ferner, dass die Prinzipien der Mechanik 1866 noch als unumstößlich wahre Axiome galten, während sie 1886 nur noch den Status von Hypothesen haben. Und zwar in dem Sinne, dass früher die Mechanik als alternativlos angesehen wurde, während inzwischen physikalische Theorien denkbar sind, die auf vollkommen anderen Prinzipien basieren. Es sagt auch ausdrücklich, dass es eine ähnliche Entwicklung in der Mathematik gegeben hat. Ich denke, dass er hier wahrscheinlich die Geometrie im Sinn hat. Über eine sehr lange Zeit gab es nur eine Geometrie, nämlich die euklidische. Andere Geometrien waren gar nicht vorstellbar. Und daher galt die euklidische Geometrie als notwendig. Der reale Raum der materiellen Welt musste euklidisch sein, weil ein anderer Raum gar nicht denkbar war. Als die Mathematiker aber erkannten, dass unendliche viele nicht-euklidische Geometrien möglich sind, verlor die euklidische Geometrie ihre alternativlose Eindeutigkeit, und damit auch ihre notwendige Gültigkeit. Jetzt war es durchaus im Bereich des Denkbaren, dass der reale Raum nicht euklidisch ist. Ich möchte dies den „Realitätsverlust“ der Geometrie nennen.

Welche Entwicklungen führten aber dazu, dass man die Mechanik nicht mehr als konkurrenzkose Naturerklärung ansah? Was ist inzwischen eine denkbare Alternative zur Mechanik? Wundt sagt es zwar nicht ausdrücklich, aber es ist eine wissenschaftsgeschichtliche Tatsache, dass die elektromagnetischen Feldgleichungen, die Maxwell 1865 veröffentlichte, das mechanistische Weltbild in Frage stellte. Denn man konnte sich diese Gleichungen beim besten Willen nicht mechanisch erklären. Stattdessen gab es bereits Ansätze, die Physik insgesamt nicht mehr auf mechanische Prinzipien zurückzuführen, sondern auf elektromagnetische Prinzipien. Letztlich gelang genau das Einstein später mit seiner Relativitätstheorie.

Somit kann man drei Themengebiete identifizieren, für die Wundt zumindest andeutet, dass sie dazu beigetragen haben, der klassischen Mechanik nur noch einen hypothetischen Charakter zu geben. Erstens die Erkenntnis, dass die Newtonsche Physik mehr metaphysische Annahmen macht, als bislang gedacht. Zweitens der Realitätsverlust der Geometrie. Und drittens die Maxwellschen Feldgleichungen.

Aber wenn Helmut Pulte mit seinem Buch Axiomatik und Empirie recht hat, dann kommt noch ein Punkt hinzu, den Wundt überhaupt nicht erwähnt. Anfang des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Mathematik, die reine Mathematik entstand in Abgrenzung zur angewandten Mathematik. Pulte schreibt[1]:

„Wie kann es in diesem Entwicklungsstadium der [klassischen mathematischen Naturphilosophie] zur Auflösung des axiomatischen Denkens kommen? […] Meine These wird nun genauer sein, dass es die Mathematikentwicklung und ein gewandeltes, durch die ‚Schulphilosophien‘ nicht herbeigeführtes (und erst später von ihr reflektiertes) Verständnis des Erfahrungs- und Realitätsbezuges von Mathematik sind, die diese Auflösung initiieren: Konkret ist es erst das mit der Entstehung der sogenannten ‚reinen Mathematik‘ auftretende Anwendungsproblem, das hier symptomatisch wird.“

Pulte behandelt insbesondere den Mathematiker C.G.J. Jacobi, einen bedeutenden Vertreter der reinen Mathematik. Bemerkenswert ist seine Vorlesung über Mechanik von 1847/1848, die lange Zeit unbeachtet blieb, „[o]bwohl der Mathematiker Carl Neumann schon 1869 […] darauf hinwies, dass jener eine ‚Kritik der Fundamente der Mechanik, wie sie in solcher Schärfe wohl bis zum heutigen Tag noch niemals zur öffentlichen Aussprache gelangt sein dürfte‘.“[2] Dieses letzte Themengebiet hat mit der Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert zu tun, von der die Entstehung der nicht-euklidischen Geometrien nur ein Teil ist. In Folge der Grundlagenkrise in der Analysis wird die Mathematik logisch-stringenter, damit auch formaler, wodurch neue bisher unvorstellbare, mathematische Geisteswelten erschlossen werden. So wurde die Mathematik gewissermaßen pluralistischer, damit verlor aber die bisherige Mathematik ihren bislang als selbstverständlich angenommenen Realitätsbezug.

Diese Entwicklungsstränge, durch die das mechanistische Weltbild in eine Krise geriet und die Naturwissenschaftler ihre Wissenschaft nicht mehr als unumstößlich gewiss ansahen und das heutige hypothetischen Wissenschaftsmodell vorbereiteten, werde ich nachfolgend behandeln.

[1] Pulte: Axiomatik und Empirie, S. 283.

[2] Pulte, Axiomatik und Empirie , S. 295. Das darin vorkommende Zitat von C. Neumann ist aus Ueber den Satz der virtuellen Verrückungen.

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