Mechanistische Weltauffassung
Seit Galileis Zeiten gab es die Idee des Mechanismus. Danach besteht die gesamte materielle Welt aus kleinsten, atomaren Teilchen, die sich zusammen wie eine gigantische, automatisch ablaufende Maschine verhalten.
Mit Vorliebe wurde auf das Beispiel einer mechanischen Uhr verwiesen. Eine so aufgefasste Welt kann auf die aristotelische Annahme von Seelen verzichten, die bestimmten Naturdinge, z.B. Lebewesen oder Gestirnen, Leben einhauchen. Stattdessen läuft alles deterministisch gemäß eherner, mathematischer Gesetze ab.
Dieses Weltbild war lange Zeit sehr unkonkret und hatte eher einen spekulativen Charakter. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hingegen wurde es konkreter und gewann an wissenschaftlicher Gewissheit. Zwei Entwicklungen, denke ich, waren dafür hauptsächlich verantwortlich. Erstens die Vollendung der Newtonschen Physik durch die analytische Mechanik und zweitens die großen Fortschritte in der Chemie.
Die Newtonsche Mechanik wurde im 18. Jahrhundert unter anderem von Euler, d’Alembert und Lagrange weiterentwickelt und mathematisch perfektioniert. Inzwischen wurde ihr ein Grad von Gewissheit zugeschrieben wie sie eigentlich nur die Mathematik hat. Lagrange und viele andere glaubten die Prinzipien der Mechanik rational beweisen zu können. Kant hielt die Prinzipien der Newtonschen Mechanik für transzendental herleitbar.
Sie hatte als Wissenschaft begonnen, die die mathematischen Gesetzmäßigkeiten des freien Falls, von Kugeln auf der schiefen Ebene, von Pendeln, Planetenbahnen etc. untersuchte. Inzwischen wurde ihre Aufgabenstellung ganz allgemein so formuliert: Zu einem Zeitpunkt t sei ein endliches System von Massepunkten gegeben, zwischen denen bestimmten Zwangsbedingungen vorliegen und an denen bestimmte Kräfte wirken. Wie bewegen sich diese Massepunkte ab t? Um diese Aufgabe zu lösen stellt die analytische Mechanik Differenzialgleichungen auf. Sobald man diese mathematisch gelöst hat (was bisweilen durchaus schwierig ist), kann man die Position und die Geschwindigkeit jedes Massepunktes des Systems zu jedem beliebigen Zeitpunkt nach t eindeutig bestimmen.
Auf der anderen Seite schritt entwickelte sich die Chemie immer weiter. Die chemischen Verfahren und Messmethoden wurden zunehmend besser. Und seit 1789 gelang es immer mehr eine Tabelle der Grundelemente mit ihren wichtigsten Eigenschaften zu erstellen, bis schließlich 1869 Lothar Meyer und Dmitri Mendelejew etwa zeitgleich das noch heute gebräuchliche Periodensystem der Elemente fanden. Auf diese Weise schien sich der Atomismus empirisch zu bestätigen.
Die analytische Newtonschen Mechanik kombiniert mit dem neu erworbenen chemischen Wissen schien ein solides wissenschaftliches Fundament für das mechanistische Weltbild zu sein. Die kleinsten, atomaren Teilchen kann man nun als Massepunkte verstehen, zwischen denen zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Beziehungen bestehen und an denen bestimmte Kräfte wirken. Die materielle Welt ist somit ein gigantisches mechanisches System von Massepunkten. Theoretisch müsste man dafür eine Differenzialgleichung gemäß Prinzipien der analytischen Mechanik aufstellen können. Hat man sie gelöst, so kann man Position und Geschwindigkeit jedes Masseteilchens des Universums vorausberechnen. Anfang des 19. Jahrhunderts war es natürlich jedem klar, dass man eine solch große Aufgabe nicht mit normalen menschlichen Mitteln bewältigen konnte. Eine übermenschliche Intelligenz aber, so nahm Pierre-Simon Laplace 1814 an[1], müsste prinzipiell dazu fähig sein.
Nachfolgend werde ich mich vor allem auf drei Zeitdokumente beziehen, in denen die mechanistische Weltauffassung des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt:
- Helmholtz, Hermann (1821-1894): Über die Erhaltung der Kraft. Erstmals veröffentlicht 1847. In: Helmholtz, H. Philosophische und populärwissenschaftliche Schriften, Bd. 1 bis 3. Herausgegeben von Heidelberger, M./Pulte, H./Schiemann, G.
- Kirchhoff, Gustav Robert (1824-1887): Ueber das Ziel der Naturwissenschaften. Rede gehalten 1865. Veröffentlicht im Verlag Mohr, Heidelberg, 1865. Kurz: Über das Ziel.
- Helmholtz, Hermann: Über das Ziel und die Fortschritte in der Naturwissenschaft. Rede gehalten 1869. In: Helmholtz, H. Philosophische und populärwissenschaftliche Schriften, Bd. 1 bis 3. Kurz: Über das Ziel und die Fortschritte.
Hermann Helmholtz (1821-1894) war Mediziner, Physiologe und Physiker. 1839 begann er sein Medizinstudium in Berlin. Einer seiner Professoren war Johannes Müller, ein bedeutender deutscher Physiologe des 19. Jahrhunderts. 1842 promovierte Helmholtz mit einer mikroskopischen Arbeit an Nervenbahnen. Als einer der ersten maß er die sog. Nervenleitgeschwindigkeit. Später war er maßgeblich daran beteiligt, die Dreifarbentheorie zu entwickeln, der gemäß das menschliche Auge Lichtrezeptoren für die drei Grundfarben Blau, Rot und Gelb hat, woraus dann physiologisch das Sehen jeder Farbe durch Mischung ermöglicht wird. Nach dem Studium arbeite Helmholtz zunächst als Unterarzt an der Charité und dann eine kurze Zeit als Militärarzt. Ab 1846 unterrichtete er Anatomie an der Berliner Kunstakademie. Danach lehrte er Physiologie zunächst in Berlin, dann in Königsberg, danach in Bonn und schließlich von 1858 bis 1870 in Heidelberg.
Parallel beschäftigte er sich mit physikalischen Fragen. 1847 veröffentlichte er eine wichtige Arbeit über den Energieerhaltungssatz. Er forschte ferner über Wirbel in Flüssigkeiten und zu elektrodynamischen Themen. Er versuchte Wetterphänomene wie Wirbelstürme und Gewitter mathematisch zu erfassen und gilt damit als einer der Begründer der Meteorologie. Sehr wichtige Forschungsarbeit lieferte er schließlich auf dem Gebiet der Elektrochemie. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war er ein so einflussreicher Naturwissenschaftler, dass er – in Anspielung auf Bismarck – als „Reichskanzler der Physik“ bezeichnet wurde. In Helmholtz‘ öffentlichen Vorträgen und populärwissenschaftlichen Schriften spiegelt sich der Wissenschaftsbegriff eines typischen Naturwissenschaftlers des 19. Jahrhunderts.
Helmholtz legte seine mechanistische Naturauffassung auf fast identische Weise in den oben genannten zwei Arbeiten dar, die 22 Jahre auseinanderliegen: in seiner physikalischen Arbeit Über die Erhaltung der Kraft von 1847, sowie in seinem Vortrag Über das Ziel und die Fortschritte in der Naturwissenschaft von 1869. Es gibt nur einen Unterschied, auf den ich später nooch eingehen werde. Nämlich dass Helmholtz 1847 seinen materialistisch-mechanistische Auffassung als selbstverständlich richtige naturwissenschaftliche Position einnimmt, während er sie 1869 als eine Hypothese neben anderen möglichen Hypothesen bezeichnet. Er hat somit in späteren Jahren erkannt, dass sein Mechanismus selbst eine Form von Metaphysik ist. Davon abgesehen, denke ich aber, dass sein Verständnis von Naturwissenschaft im Grunde genommen gleich geblieben ist.
In den beiden genannten Arbeiten ist der Energieerhaltungssatz das zentrale Thema, wie ihn Helmholtz auf alle Energieformen verallgemeinert hat. Der Hintergrund ist, dass Helmholtz der physiologischen Schule von Johannes Müller angehörte. Müller meinte, dass man auch die organische Natur auf die Gesetze der Physik und Chemie, bzw. letztlich auf die Mechanik zurückführen können müsste. (Einleitung, XIV) Gäbe es eine nicht-mechanische Komponente, die in Lebewesen wirksam ist, dann könnte sich die Gesamtsumme der Energie in der materiellen Welt sozusagen aus dem Nichts vergrößern. Anders formuliert: Wenn man nachweisen könnte, dass in allen Lebensprozessen keine Energie neu dazukommt, die nicht vorher materiell gegeben war, z.B. in Form von Licht, Wärme oder Nahrung, dann wäre auch gezeigt, dass keine nicht-materialistische, vitalistische Kraft in der Natur wirken kann.
Gustav R. Kirchhoff (1824-1887) war ein deutscher Physiker. Sein Forschungsschwerpunkt war die Elektrizität. Bis heute sind hier die sog. kirchhoffschen Regelnbekannt. Zusammen mit Robert Bunsen entwickelte er die Spektralanalyse.
Qunatitativ-mathematische Naturauffassung
Ein Teil des mechanistischen Weltbildes war der Atomismus. Und wie die frühen Atomisten vertraten auch die Atomisten des 19. Jahrhunderts eine mathematische Naturauffassung. Unsere alltägliche Welt, in der wir von Dingen sprechen, sowie qualitative Eigenschaft als qualitative Veränderungen wahrzunehmen glauben, gilt dabei als bloßer subjektiver Schein. An sich konstituiert sich die materielle Welt rein quantitativ-mathematisch: durch räumliche Aggregation oder Trennung von Elementarteilchen, Ortsbewegungen und als mathematische Vektoren auffassbare Kräfte. So schreibt Kirchhoff am Anfang seiner Rede Über das Ziel von 1865:
„Der Körper an sich ändert sich [beim freien Fall] in keiner Weise, er geht nur von einem Orte des Raumes zu andern über. Es gibt eine unendliche Menge von Erscheinungen, die das mit dieser gemein haben, dass sie auch in Bewegungen bestehen, bei denen das Bewegte unverändert bleibt. Solche Erscheinungen können dabei äußerst verwickelt und äußerst mannigfaltig sein […]. Aber es gibt auch Vorgänge, welche nicht solche Bewegungen zu sein scheinen. Wenn Wasser gefriert oder verdunstet, wenn Salz von Wasser aufgelöst wird, wenn Kohle verbrennt, so schein eine qualitative Änderung der kleinsten Teile der Körper stattzufinden; […]. Die Chemiker sind zu der Überzeugung gelangt, dass bei jeder chemischen Verbindung verschiedener Körper die kleinsten Teile dieser nicht zerstört werden und auch nicht eine qualitative Änderung erleiden, sondern nur eine Lagerung erhalten. Ein jeder chemische Prozess besteht auch nur in einer Bewegung von Teilen, die unverändert bleiben. Vor etwa 80 Jahren ist dieser Satz zum ersten Male […] von Lavoisier ausgesprochen. Er bildet das Grundprinzip der Chemie. Aber nicht allein für diese, für die gesamten Naturwissenschaften ist er von der größten Wichtigkeit geworden; auf ihn gestützt, konnte man es wagen die Behauptung aufzustellen, dass alle Vorgänge in der Natur in Bewegung unveränderlicher Materie bestehen, und jeder Fortschritt, der in der Erkenntnis der Natur gemacht ist, […] hat eine neue Bestätigung desselben gewährt.“ (S. 3 f.)
Kirchhoff reduziert also alles auf Materieteilchen und deren örtliche Bewegung. Dabei verweist er auf neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, auf die Entwicklungen der modernen Chemie oder auf die physikalische Erkenntnis, dass Wärme nichts anderes als Bewegung kleinster Teilchen ist. Aber auch für alle Naturphänomene, die man noch nicht wirklich verstand, wurden wie selbstverständlich mechanische Erklärungsmodelle herangezogen.
Auch Helmholtz beschreibt in den beiden genannten Texten die materielle Welt als bloße Anhäufung von Materieteilchen, zwischen denen bestimmte Kräfte wirken. Wie bei den klassischen Atomtheorien reduziert er die Materie auf quantitativ-mathematische Eigenschaften (Erhaltung S. 5):
„[…] wir unterscheiden an [der Materie] die räumliche Vertheilung und die Quantität (Masse), welche als ewig unveränderlich gesetzt wird. Qualitative Unterschiede dürfen wir der Materie an sich nicht zuschreiben […]“
In beiden Arbeiten legt Helmholtz ferner dar, wie er Wissenschaft im Allgemeinen versteht. Wissenschaft hat seiner Meinung nach die Aufgabe, Naturgesetze zu finden, und zwar durch Beobachtung und Experimente. Die Naturgesetze sind objektiv in der Natur wirksam. Sie liegen zwar in der Natur verborgen, aber durch geeignete empirische Methoden können wir sie entdecken. Haben wir sie entdeckt, dann gelingt der Wissenschaft ein Blick in den Wesenskern der materiellen Welt, sozusagen eine Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich sind. Dementsprechend sind die so erkannten Naturgesetze keine Vermutungen oder Hypothesen, sondern unumstößliche Wahrheiten. So sagt er in Ziel und Fortschritte (S. 582 ff.):
„Das Gesetz der Erscheinungen finden, heißt sie begreifen. […] Ein Naturgesetz ist aber nicht bloß ein logischer Begriff, den wir uns zurecht gemacht haben als eine Art mnemotechnischen Hilfsmittels, um die Thatsachen besser zu behalten. Auch sind wir […] jetzt so weit in der Einsicht vorgeschritten, um zu begreifen, dass die Naturgesetze nicht etwas sind, was wir uns auf speculativem Wege vielleicht ausdenken könnten. Wir müssen sie vielmehr in den Thatsachen entdecken […]. So treten uns die Naturgesetze gegenüber als eine fremde Macht, nicht willkürlich zu wählen und zu bestimmen in unserem Denken […]“ [meine Unterstreichungen]
Wenn wir die Naturgesetze „in den Thatsachen entdecken“ können, dann sind sie offenbar in der Natur selbst gegeben, also geht es Helmholtz um das immanente Wesen der Natur. Sie sind nicht beliebig oder willkürlich wählbar, das heißt sie sind Wahrheiten, keine Hypothesen. Und sie sind prinzipiell durch uns erkennbar. Er setzt fort (S. 584):
„Unsere Forderung, die Naturerscheinungen zu begreifen, das heißt ihre Gesetze zu finden, nimmt so eine andere Form des Ausdrucks an, die nämlich, dass wir die Kräfte auszusuchen haben, welche die Ursachen der Erscheinungen sind. Die Gesetzlichkeit der Natur wird als causaler Zusammenhang aufgefasst, sobald wir die Unabhängigkeit derselben von unserem Denken und unserem Willen anerkennen.“
In ähnlicher Weise schreibt er in Erhaltung der Kraft folgendes (S. 4):
„Aufgabe der genannten Wissenschaften ist es einmal die Gesetze zu suchen, durch welche die einzelnen Vorgänge in der Natur auf allgemeine Regeln zurückgeleitet und aus den letzten wieder bestimmt werden können. Diese Regeln […] sind offenbar nichts als allgemeine Gattungsbegriffe, durch welche sämtliche dahin gehörige Erscheinungen umfasst werden. Die Aufsuchung derselben ist das Geschäft des experimentellen Theils unserer Wissenschaften. Der theoretische Theil derselben sucht dagegen, die unbekannten Ursachen der Vorgänge aus ihren sichtbaren Wirkungen zu finden; er sucht dieselben zu begreifen nach dem Gesetz der Causalität. […] Das endliche Ziel der theoretischen Naturwissenschaften ist also, die letzten unveränderlichen Ursachen der Vorgänge in der Natur aufzufinden.“ [meine Unterstreichungen]
Zusammenfassend sieht man, dass Helmholtz Naturgesetze für der Natur immanent, für erkennbar und für nicht hypothetisch hält.
Man erkannte die Elemente, aus denen sich die materielle Welt zusammensetzt, sowie deren Eigenschaften und man verstand immer mehr, wie sie sich zu Molekülen verbinden, wie sie sich wieder trennten und warum sie das taten. Für Helmholtz‘ mechanistisches Weltbild war all dies durchaus wichtig. Bereits in Erhaltung der Kraft schreibt er:
„Materien mit unveränderlichen Kräften (unvertilgbaren Qualitäten) haben wir in der Wissenschaft (chemische) Elemente genannt. Denken wir uns das Weltall zerlegt in Elemente mit unveränderlichen Qualitäten, so sind die einigen noch möglichen Änderungen in einem solchen System räumliche, d.h. Bewegungen, und die äußeren Verhältnisse, durch welche die Wirkung der Kräfte modificiert wird, können nur noch räumliche sein, also die Kräfte nur Bewegungskräfte, abhängig in ihrer Wirkung nur von den räumlichen Verhältnissen.
Also näher bestimmt: Die Naturerscheinungen sollen zurückgeführt werden auf Bewegungen von Materien mit unveränderlichen Bewegungskräften, welche nur von den räumlichen Verhältnissen abhängig sind. […]
Es bestimmt sich also endlich die Aufgabe der physikalischen Naturwissenschaften dahin, die Naturerscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche, anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensität von der Entfernung abhängt.“
Und in Ziel und Fortschritte sagt Helmholtz (S. 585 f.)
„In der zweiten Hälfte des vorigen und der ersten Hälfte des laufenden Jahrhunderts reihte sich daran die große Entwicklung der Chemie, welche die alte Aufgabe, die Elemente zu finden […] endlich tatsächlich löste […]. Die Wissenschaft hat erwiesen, dass diese Elemente wirklich unzerstörbar sind, unveränderlich in ihrer Masse, unveränderlich auch in ihren Eigenschaften. […] In allem bunten Wechsel der Erscheinungen der belebten und unbelegten Natur […] herrscht das eine Gesetz der Unveränderlichkeit der Stoffe mit ausnahmsloser Notwendigkeit. […] Die Elemente können ihre […] die Art ihrer Aggregation oder ihrer Molecularstructur mannigfach verändern, das heißt sie können die Art ihrer Vertheilung im Raume verändern. […] so ist alle Veränderung in der Welt Änderung der räumlichen Vertheilung der elementaren Stoffe und kommt in letzter Instanz zu Stande durch Bewegung.“
Nach Helmholtz besteht die materielle Welt also ausnahmslos aus den Elementen, deren chemische Eigenschaften wir kennen. Die gesamte unübersichtliche Vielheit der Naturphänomene lässt sich nur auf verschiedenen Verbindungen oder Trennungen dieser Elemente zurückführen. Die Elemente selbst sind unveränderlich und unzerstörbar, nur ihre verschiedenen räumlichen Anordnungen generieren die uns bekannte Welt. Jede Veränderung beruht nur auf räumlichen Bewegungen der Elemente, sie gehen räumlich zusammen oder trennen sich wieder räumlich. Und jede dieser Ortsbewegungen wird durch quantifizierbare Kräfte verursacht. Das heißt: Auch wenn wir Dinge des normalen Alltagslebens zu erkennen glauben, Tische, Bücher, andere Menschen, Tiere, sind sie eigentlich ihrem Wesen nach nur räumliche Aggregationen von Elementen. Und jede Veränderung, auch wenn sie uns qualitativ erscheint, ist im Grunde genommen eine Vielzahl von Ortsbewegungen von Elementen. Letztlich wird die Natur auf diese Weise auf die Geometrie reduziert, was ich Mathematisierung der Natur nenne.
Induktive Methode
An den letzten Zitaten kann man auch ersehen, dass Helmholtz offenbar meint, Naturgesetze mittels Induktion aus den Naturphänomenen ableiten zu können. Offenbar vertritt er damit eine wissenschaftstheoretische Position, wie sie auch Newton vertreten hat. Nachdem man im 18. Jahrhundert von Euler bis Lagrange und Kant die Naturwissenschaftlich rational begründen zu wollen, wendete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts das Blatt zugunsten Newtons Empirismus. Allerdings gab es auch im 19. Jahrhundert noch Wissenschaftler, die an einer rationalistischen Naturwissenschaft festhielten. Dazu gehörten z.B. Wilhelm Wundt mit seinem Werk Die physikalischen Axiome und ihre Relation zum Kausalitätsprinzip von 1866, oder der Physiker Johann Karl Friedrich Zöllner (1824-1887).
Ziel der Naturwissenschaft
Kirchhoff, Helmholtz und andere Vertreter des mechanistischen Weltbildes konnten auf wissenschaftliche Erkenntnisse verweisen, auf die Entwicklungen der modernen Chemie oder auf die physikalische Erkenntnis, dass Wärme nichts anderes als Bewegung kleinster Teilchen ist. Aber auch für alle Naturphänomene, die man noch nicht wirklich verstand, wurden wie selbstverständlich mechanische Erklärungsmodelle herangezogen. Die Ausbreitung des Lichtes wurde zu dieser Zeit mechanistisch durch die Bewegung eines Lichtäthers erklärt, auch für die Elektrizität nahm man mechanische Bewegungen in „elektrischen Fluida“ an. Die Mechanik schien einfach die am besten etablierte und am besten bewährte Wissenschaft zu sein. Die Annahme war, dass man jedes Naturphänomen irgendwann einmal reich mechanisch erklären kann. So schreibt Kirchhoff in Über das Ziel (S. 16):
„Wir müssen hiernach gestehen, dass wir von dem Zustande, in dem sich die Materie befindet, wie von den Kräften, die ihre Theile auf einander ausüben, gegenwärtig nur sehr geringe Kenntnisse besitzen, und dass unser Verständnis der Naturerscheinungen […] bis jetzt ein sehr unvollkommenes ist. In höherem Maasse noch gilt das von den viel complizierteren Vorgängen, welche in Pflanzen und Thierkörpern stattfinden. Hier wie dort ist das wahre Verständnis nicht gewonnen, so lange die Zurückführung auf die Mechanik nicht gelungen ist.“
Und Helmholtz sagt in Erhaltung der Kraft S. 7:
„[Das Geschäft der Naturwissenschaft] wird vollendet sein, wenn einmal die Zurückleitung der Erscheinungen auf einfache Kräfte vollendet ist, und zugleich nachgewiesen werden kann, dass die gegebene die einzig mögliche Zurückleitung sei, welche die Erscheinungen zulassen. Dann wäre dieselbe als die nothwendige Begriffsform der Naturauffassung erwiesen, es würde derselben alsdann also auch objective Wahrheit zuzuschreiben sein.“
Beseeltsein der materiellen Dinge und Energieerhaltungssatz
Das mechanistische Weltbild hat sich zur Zeit Galileis gegen die aristotelische Vorstellung gewendet, dass Lebewesen oder auch die Gestirne eine Seele haben. Alles sollte stattdessen wie eine komplexe Maschine rein mechanisch funktionieren. Die Idee der Beseeltheit der Natur kam jedoch wieder durch die Philosophen des Deutschen Idealismus in Mode. In deren Nachfolge gab es Anfang des 19. Jahrhunderts sogenannte Vitalisten, die behaupteten, dass man lebendige Organismen nicht bloß materiell-mechanisch erklären kann, dass man also hier eine Seele oder eine Art nicht-materielle Lebenskraft annehmen müsse. Diese Vorstellung wollte Helmholtz bekämpfen, als er 1847 den allgemeinen Energieerhaltungssatz formulierte.
Bereits Leibniz hatte einen Energieerhaltungssatz formuliert bezogen auf Höhenenergie und kinetische Energie. Helmholtz verallgemeinert ihn derart, dass verschiedenste Formen von Energie, wie sie in der Natur vorkommen, ineinander übergehen können, so dass die Energiebilanz unterm Strich immer konstant bleibt. Die naturphilosophische Bedeutung ist, dass dieser verallgemeinerte Energieerhaltungssatz eine Klammer um alle natürlichen Prozesse legt, egal ob sie mechanisch, chemisch, elektrisch oder organisch sind. Immer bleibt die Gesamtsumme verschiedenster Energieformen (Bewegungsenergie, Wärmeenergie, chemische, elektrische oder magnetische Energie etc.) gleich. Dieser Satz, der uns heute fast selbstverständlich ist, stieß um 1847 in der damaligen Fachwelt zunächst auf Skepsis und konnte sich nur allmählich durchsetzen. In Ziel und Fortschritte schreibt er (S. 588):
„In der That tritt an den Maschinen […] die durch das Gesetz der Erhaltung der Kraft ausgesprochene Gleichartigkeit aller Naturkräfte […] heraus. Jede Maschine […] bedarf einer mechanischen Triebkraft. Wo diese hergenommen wird und welche Form sie hat, ist einerlei […]. Bald brauchen wir eine Dampfmaschine, bald ein Wasserrad oder eine Turbine, bald Pferde oder Ochsen […], bald eine Windmühle oder […] den menschlichen Arm […].“
Helmholtz legt dar, dass jede dieser Antriebsarten auf einer vorhergehenden Energiequelle beruhen. Eine Wassermühle wandelt die Höhenenergie des Wassers in Bewegung um. Die Windmühle wird vom Wind angetrieben, der letztlich durch die Einstrahlung der Sonne erzeugt wird. Die Dampfmaschine bewegt sich wegen des chemischen Prozesses der Kohleverbrennung. Und ein Pferd oder ein Mensch können nur arbeiten, weil sie vorher Energie in Form von Nahrung zu sich genommen haben. (S. 589):
„So gewinnen wir mechanische Triebkraft aus den allerverschiedensten Naturprozessen in der verschiedenartigsten Weise, aber […] nur in begrenzter Quantität. Wir verbrauchen immer etwas, was uns die Natur liefert.“
Helmholtz führt weiter aus, dass diese Prozesse auch umkehrbar sind. So können z.B. chemische Energie, Licht, Höhenenergie oder Wärme mechanische Arbeit erzeugen; durch mechanische Arbeit kann man aber wiederum chemische Energie, Licht, Höhenenergie und Wärme generieren. So sieht Helmholtz in der Natur einen permanenten Übergang einer Energieform in eine andere. Und das ist seiner Meinung nach deswegen möglich, weil alle Energieformen im Grunde gleich sind und letztlich ausschließlich auf der Ortsbewegung der Elemente beruhen.
Helmholtz spricht von einem „großartigem Zusammenhang“, die der Energieerhaltungssatz eröffnet (S. 590):
„Das Weltall erscheint, nach diesem Gesetze, ausgestattet mit einem Vorrathe an Energie, der durch allen bunten Wechsel der Naturprozesse nicht vermehrt, aber auch nicht vermindert werden kann, der da fortbesteht in stets wechselnder Erscheinungsweise, aber, wie die Materie, von Ewigkeit zu Ewigkeit in unveränderlicher Größe; […]. Alle Veränderung in der Welt besteht nur in einem Wechsel der Erscheinungsform dieses Vorraths an Energie.“
So kommt er zu der wichtigen Schlussfolgerung, dass es in der materiellen Welt keine Wirkungen von nicht-materiellen Vital- oder Seelenkräften geben kann. Denn ansonsten würde sich der „Vorrath an Energie“ wie aus dem Nichts vermehren. So fasst Helmholtz in Ziel und Fortschritte das Ergebnis bezogen auf Lebewesen wie folgt zusammen (S. 593):
„In der That finden wir aber keine Spur davon, dass die lebenden Organismen irgend welches Quantum Arbeit ohne entsprechenden Verbrauch erzeugen könnten. Wenn wir nur auf die Arbeitsleistung Rücksicht nehmen, so sind die Leistungen der Thiere denen der Dampfmaschinen durchaus ähnlich. Die Thiere, wie die Maschinen, können sich bewegen und arbeiten, nur wenn sie fortdauernd Brennmaterial, nämlich Nahrungsmittel, und sauerstoffhaltige Luft zugeführt erhalten; beide geben die aufgenommenen Stoffe in verbranntem Zustande wieder aus, und beide erzeugen Wärme und Arbeit.“
Gilt also der Energieerhaltungssatz und ist die Gesamtsumme der Energie immer konstant, dann muss aus alles Leben rein mechanistisch erklärbar sein.
Mechanistisches Wissenschaftsmodell
Die von Galilei und Newton begründete und von Euler, d’Alembert und Lagrange vollendete Mechanik wurde im Verlauf der Neuzeit zum Wissenschaftsideal überhaupt, ähnlich wie es die Geometrie die Jahrtausende davor war. In der Mechanik sah man die empirisch-induktive Methode und die rational-mathematische Methode perfekt vereinigt. Newton hatte behauptet, seine Physik allein von den Naturerscheinungen „abgeleitet“ zu haben. Galilei wurde es im Nachhinein unterstellt, zu seinen Resultaten auf ähnlich induktiv-experimentelle Weise gelangt zu sein. Ob das so war oder nicht, ist egal; es zeigt in jedem Fall, wie die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts ihre eigenes Wissenschaftsverständnis in die Vergangenheit projizierten. Dass die Mechanik hochgradig mathematisch war, war offensichtlich. Sie war axiomatisch aufgebaut, man musste Differentialgleichungen lösen können und viele hielten sie für so unumstößlich gewiss wie Geometrie oder Arithmetik selbst. Das in der Mechanik realisierte Wissenschaftsideal sehe ich wie folgt charakterisiert:
(D 1) | Das Ziel der Naturwissenschaft ist es, zu unumstößlichen, notwendigen Wahrheiten zu gelangen. |
(D 2) | In der Naturwissenschaft gibt es
a) die Prinzipien der Mathematik. b) die Prinzipien der analytischen Mechanik. c) eine Vielzahl empirisch-induktiv gewonnener Naturgesetze, die aus einem nicht-mechanischen Teilbereich der Physik stammen, oder aus der Chemie oder Physiologie, etc. Man geht davon aus, dass all diese Naturgesetze auf die Prinzipien der Mathematik und der Mechanik zurückgeführt werden können. Diese Annahme ist zugleich ein Forschungsprogramm. |
(B 3) | Induktion ist die Methode, um Naturgesetzen oder oberste Prinzipien aus den Naturerscheinungen abzuleiten. Man geht davon aus, dass Galilei und Newton auf diese Weise ihre physikalischen Theorien gefunden haben. |
(B 4) | Mathematische Beweise: Alle gültigen Sätze der Naturwissenschaft kann man aus den obersten mechanischen und mathematischen Prinzipien mathematisch herleiten bzw. sollten es sein. |
(B 5) | Eine Falsifikation der so gewonnenen Theorie durch Erfahrungstatsachen ist nicht vorgesehen. Sofern die Induktion korrekt durchgeführt wurde und man mittels vernünftiger Einsicht zu einer Wesenserkenntnis gekommen ist und alles Weitere mathematisch korrekt hergeleitet wurde, ist die Theorie absolut wahr und kann durch weitere Erfahrungstatsachen weder bestätigt, noch widerlegt werden. Ggf. wird die Wahrheit der empirischen Aussage angezweifelt. |
[1] Und zwar im Vorwort von Laplace: Essai philosophique sur les probabilités.
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