Philosophie-Feindlichkeit der Naturwissenschaft

Galilei und Newton bezeichneten sich selbst noch als „Naturphilosophen“. Und im frühen 18. Jahrhundert diskutierten verschiedene naturphilosophische Schulen, durch welche obersten Prinzipien die Naturwissenschaft zu begründen ist.

Strittig war insbesondere die Annahme fernwirkender Gravitationskräfte. Der außerordentliche Erfolg des Newtonschen Mechanik ließ nach und nach die naturphilosophischen Differenzen der verschiedenen Schulen vergessen. Zumal sie ja in einem wichtigen Punkt alle miteinander übereinstimmten: Naturwissenschaft sollte mathematisch sein. So wurde die mathematische Naturwissenschaft immer mehr zu einem Gemeinschaftsprojekt, das alle vereinte. Die naturphilosophischen Streitigkeiten traten zunehmend in den Hintergrund. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts betrieben die Naturwissenschaftler ihre Forschungen und lehnten tiefergehende philosophische Dispute zunehmend ab. Die Philosophie entzweite, die Mathematik einte sie. Über manche mathematische Formel durfte man zwar nicht nachdenken, was genau sie in der Realität bedeuten soll, so lange man sie aber erfolgreich anwenden konnte und sie zu Ergebnissen führte, gut mit den Erfahrungstatsachen übereinstimmten, zutreffende Voraussagen erlaubten und in der Ingenieurskunst hilfreich waren, hatten die Physiker keine Probleme damit.

Die Philosophie wiederum ging ab Descartes in eine Richtung weiter, die bei Naturwissenschaftlern eher auf Unverständnis stieß. Die materielle Realität wurde als zweifelhaft angesehen, die erst philosophisch begründet werden musste. Descartes tat dies über den Umweg eines Gottesbeweises. Locke und Hume bezweifelten, dass man mittels Experimenten und Induktion zu sicheren Erkenntnissen kommen kann. Kant glaubte, dass man die Mathematik und die Newtonsche Mechanik aus den subjektiven Bedingungen herleiten zu können, unter denen uns die Welt überhaupt erscheint. Seine transzendentale Begründung der Physik war für Philosophen interessant, für einen praktisch arbeitenden Naturwissenschaftler waren sie ohne Bedeutung. Als Wissenschaftler will man die Natur erforschen, wie sie tatsächlich besteht. Dass es sich hierbei nur um die Welt der Erscheinungen handelt, die auch vom erkennenden Subjekt selbst abhängt, während uns die Realität an sich vollkommen unzugänglich ist, wie Kant meint, ist für einen Naturwissenschaftler faktisch irrelevant. Die Philosophie Kants hatte keinen Einfluss darauf, welche Methoden in der Wissenschaft verendet werden oder welche konkreten Theorien zur Erklärung der Phänomene aufgestellt werden.

Es gibt Hinweise darauf, dass die idealistische Naturphilosophie Anregungen gab zu konkreten Forschungsansätzen. Beispielsweise sah Schelling eine Verwandtschaft von Elektrizität und Magnetismus, eine Idee, die die mathematische Naturwissenschaft aufgriff und weiterentwickelte. Auch die Vitalisten, die eine Lebenskraft annahmen, die nicht mechanistisch zu erklären ist, wurden wohl vom deutschen Idealismus inspiriert. Davon abgesehen musste für jeden Naturwissenschaftler die Annahme eines Weltgeistes, der sich in der Natur selbst ausdrückt, wie spekulativer Unsinn klingen. Ein Naturwissenschaftler ist und bleibt in seiner Arbeit zunächst das, was ein Philosoph einen naiven Realisten nennen würde. Als unerträgliche, arrogante Anmaßung wurde Hegels Anspruch empfunden, die mathematische Naturwissenschaft nur im Kontext seines philosophischen Systems als wissenschaftlich gelten zu lassen.

Die Naturwissenschaftler, die bereits seit den naturphilosophischen Disputen zwischen Newtonianern, Cartesianern und Leibnizianern im frühen 18. Jahrhundert eine ablehnende Haltung gegenüber der Philosophie entwickelt hatten, wandten sich nun endgültig von der Philosophie ab. So schreibt Schnädelbach (S. 88 ff.):

„Mit Hegels Tod geht nicht nur die Zeit zu Ende, in der die Philosophie ihre Führungsrolle im Kosmos der Wissenschaften glaubhaft machen konnte – und dies ironischerweise, obwohl diese Rolle in der Humboldt-Universität gerade erst institutionalisiert worden war. Nach Hegel werden auch Reaktionen der Wissenschaften auf philosophische Impulse immer seltener und erfolgen meist nur noch indirekt. Vor allem aber erscheinen philosophische Begründungen in der Wissenschaft oder von Wissenschaft überhaupt plötzlich als entbehrlich […]“

Dabei ist auch der enorme Erfolg der Naturwissenschaften zu berücksichtigen. Ein Wegbereiter der modernen Naturwissenschaft war ja die Ingenieurskunst, so dass sich eine mathematische Sicht auf die Welt entwickelte. Das Wesen der Dinge war nun ihr jeweiliger Bauplan. Seit der Renaissance gingen wissenschaftlicher und technischer Fortschritt Hand in Hand. Und die Wissenschaft wurde zu einem wichtigen Faktor für die Industrialisierung. Es galt die Devise: Naturerkenntnis führt zur Naturbeherrschung. Nie zuvor besuchten so viele Menschen die Universitäten oder technische Hochschulen. Wissenschaftlich geschulte Menschen werden für die industrielle Produktivität immer wichtiger. Auf diese Weise verwissenschaftliche sich  die moderne Lebenswelt. Aber auch der praktische Wissenschaftsbetrieb veränderte sich erheblich. In diesem Sinne schreibt Schnädelbach bezogen auf die Entwicklung in Deutschland (S. 89 f.):

„Was das soziale Umfeld von Wissenschaft zwischen 1831 und 1933 betrifft, so ist zwischen diesen Jahreszahlen die Epoche der ersten industriellen Revolution in Deutschland zu datieren. Sie erzwingt einen sozialen Wandel, von dessen Tempo und Gewalt wir uns heute nur schwer eine Vorstellung machen können. […] die […] Professionalisierung der Wissenschaft ist ja nichts anderes als eine der Funktionsveränderungen, die das Wissenschaftssystem im Zuge der Industrialisierung durchgemacht hat. In der modernen Industrie ist Wissenschaft als Grundlagenforschung und Technologie selbst zur Produktivkraft geworden, was wiederum nur möglich war, weil die neuzeitliche Wissenschaft im Unterschied zur antiken intern technologieerzeugend ist. Die sozialen und kulturellen Auswirkungen dieses Vorgangs kann man als Verwissenschaftlichung der der Lebenswelt bezeichnen. Die industriell so erfolgreiche Handlungs- und Interaktionsstruktur ‚Wissenschaft‘ beginnt ihrerseits, alle sozialen und kulturellen Lebensbereiche zu durchdringen. […] Dies ist wohl die reale Basis für den globalen Szientismus in Ost und West, d.h. den quasi-natürlichen Glauben an die Allmacht und an die normative Kraft der Wissenschaft in ihrer modernen Form, der gegenüber philosophischer Kritik so ohnmächtig und irrelevant geworden zu sein schien.“

So professionalisiert sich die Wissenschaft, da Wissenschaftler nun von ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, sei es in der Lehre oder in der Forschung, leben konnten. Gelehrte sind nun angestellt entweder als Professoren an einer Universität, oder in industriellen Forschungslaboren. Außerdem hat sich die Wissenschaft stark spezialisiert, indem sie sich in eine Vielzahl von Fachgebieten verzweigt hat. Kaum noch ein Gelehrter kann das gesamte aktuelle Wissen überblicken, vielmehr ist man Fachmann für sein Gebiet. Man ist Mathematiker, Physiker, Biologe, Geologe, Historiker etc. und selbst hier zumeist fokussiert auf ein spezifisches Unterthema.  Natürlich gibt es noch herausragende Wissenschaftler, aber der Gang der Wissenschaft wird getragen von einem Heer unbekannter „Wissenschaftsarbeiter“. Wissenschaft ist inzwischen im Wesentlichen anonymisiert und entpersonalisiert.

All dies stärkte beträchtlich das Selbstbewusstsein der Naturwissenschaftler. Angesichts ihrer vermeintlichen Nutzlosigkeit verlor die Philosophie ihre Oberhoheit verloren. Sie wurde entthront und inzwischen bisweilen sogar verachtet. Der moderne Naturwissenschaftler hatte in der Regel eine ausgesprochen anti-philosophische Grundhaltung. Philosophie wird gleichgesetzt mit haltlosem, unnützem Theoretisieren, mit Metaphysik und Spekulation. Demgegenüber gelten die konkreten Einzelwissenschaften als durch Erfahrungstatsachen belegt und als nützlich.

Dies hatte auch zur Folge, dass Wissenschaft nicht mehr als statisches, in sich geschlossenes System verstanden wurde, sondern als dynamischer Prozess.

Schnädelbach (S. 113 f.):

„Die Empirisierung der Wissenschaft bedeutet vor allem aber Dynamisierung der Wissenschaft; sie ist nicht nur Reaktion auf das explosive Wachstum des empirischen Wissens, sondern ein wichtiger Motor dieses Wachstums selber. Wenn die Theorie nicht mehr selbst das Kriterium der Wissenschaftlichkeit ist, wie noch bei Hegel, sondern umgekehrt sich die Theorien an der zum Wissenschaftlichkeitskriterium gewordenen Empirie messen lassen müssen, dann bedeutet dies den Primat der Erfahrung vor der Theorie: man ist bereit, der Erfahrung den Vorzug zu geben und in ihrem Lichte Theorien zu revidieren oder aufzugeben, denn die sind ja nach empiristischer Auffassung nur Resultate unserer Systematisierungen des Erfahrenen. So gesehen sind die Theorien Zwischenstationen auf dem Weg der Erkenntnis, auf dem nur durch Erfahrung weitergegangen werden kann. Das Prinzip ‚Erfahrung‘ meint darum immer neue Erfahrung, und die Systematisierungen müssen dem zufolge immer revidierbar und überholbar sein; nur so behindern sie dann Neue nicht. Innovation wird damit auch zu einem wissenschaftlichen Prinzip […] Mit der Empirisierung verabschiedet sich das moderne Wissenschaftsverständnis vom statischen Systemideal der Tradition […]“

Ein weiteres Merkmal der modernen Wissenschaft ist der Glaube an die richtige Methode als Garant für Wissenschaftlichkeit. Schnädelbach nennt dies das „formale Verfahrensprinzip“ (S. 92). Ein wichtiger Teil der wissenschaftlichen Ausbildung an Schule und Universität besteht darin, die vermeintlich richtige Methodologie zu erlernen. Wissenschaftlicher Fortschritt soll kein Zufall sein, sondern nach bestimmten Regeln vollzogen werden.

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