Experimentelle Naturwissenschaften: Wie sich der Empirismus durchsetzte
Newton hatte behauptet, die Prinzipien seiner Physik mittels Induktion aus den Naturerscheinen abgeleitet zu haben. Damit scheint er sich auf Bacon bezogen zu haben. Und obwohl kaum jemand Bacons induktive Methode wirklich anwendete, wurde das empirische Wissen im Laufe des 18. Und 19. Jahrhunderts stark erweitert.
Wissenschaftler beobachteten sorgfältig die Natur und befragten sie systematisch durch Experimente. Es bildete sich eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern. Ein Forscher baute auf den Ergebnissen des anderen auf. Man versuchte auch, möglichst Newtons Maxime zu beherzigen und auf „Hypothesen“ zu verzichten, das heißt auf voreilige Verallgemeinerungen oder überhaupt auf Aussagen ohne empirischen Bezug
Labore entstanden und man experimentierte nicht nur in der Physik, sondern auch in der Chemie, der Physiologie, später auch in der experimentellen Psychologie. Andere Wissenschaften, wie beispielsweise die Geologie, Biologie, Anthropologie, setzten vor allem auf sorgfältige Beobachtungen.
Bezogen auf elektromagnetische Naturphänomene konnten sich viele Naturforscher zwar nicht mit theoretischen Erklärungsversuchen bzw. „Hypothesen“ zurückhalten, wichtig aber war, dass überhaupt viel empirisches Wissen auf diesem Gebiet angesammelt wurde. Gilbert (1540-1603) untersuchte als erster systematisch magnetische Erscheinungen. Guericke (1602-1686) konstruierte eine erste Reibungselektrisiermaschine und mit der er elektrostatische Experimente machte. Vor allem zu elektrischer Leitung, Isolierung und Ladung forschten Gray (1666-1736), Dufay (1698-1733), Musschenbroek (1692-1761), Franklin (1706-1790). Eine Zusammenfassung der bisherigen elektrostatischen Erkenntnisse veröffentlichte Priestley (1733-1804) im Jahre 1767. Erste quantitative Gesetzmäßigkeiten hat Coulomb (1736-1806) formuliert. Wichtige Untersuchungen zum Gleichstrom stellten Galvani (1737-1798), Volta (1745-1827) und Davy (1778-1829) an. Schließlich erforschte man näher das magnetische Feld, das beim elektrischen Strom entsteht. Hier sind vor allem Ampère (1775-1836) und Ohm (1789-1854) zu nennen.
Faraday (1791-1867) war ein bedeutender experimenteller Physiker. Er entdeckte das Induktionsgesetz, Gesetzmäßigkeiten der Elektrolyse, beschäftigte sich mit den Eigenschaften sogenannter Dialektrika, wie sich ein magnetisches Feld auf Licht auswirkt und hatte als erster die Intuition von elektromagnetischen Feldern. Auf der Grundlage von Faradays empirischen Kenntnissen entwickelte James Clerk Maxwell (1831-1879) seine Feldgleichungen, einer der bedeutendsten theoretischen Leistungen in der Physik des 19. Jahrhunderts.
Auch die Chemie machte auf dem experimentellen Weg bedeutende Fortschritte. Die frühneuzeitlichen Atomtheorien waren noch sehr unkonkret. Anfangs waren sie eigentlich bloß spekulative Vermutungen. Das änderte sich im Laufe des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Man lernte immer mehr über die Grundbausteine oder Elemente der Materie, insbesondere entwickelte man Verfahren, um deren physikalisch bzw. chemischen Eigenschaften zu messen.
1789 versuchte Lavoisier erstmals, Grundelemente der Materie tabellarisch anzuordnen, allerdings noch ohne ein schlüssiges Ordnungskriterium. John Dalton hatte 1808 die Idee, die Elemente gemäß ihren Atommassen aufzulisten. William Prout vermutete 1815, dass viele Atommassen, wenn man genau messen würde, ganzzahlige Vielfache der Atommasse des Wasserstoffs sind. Tatsächlich gelang es Berzelius und Stas, die Atommassen sehr genau zu messen; allerdings widerlegten diese Messungen Prouts Vermutung. Anschließend erstellte Falckner ein „System natürlicher Elementfamilien“. Aber auch einige andere Forscher versuchten, die Elemente systematisch in einer Tabelle darzustellen. Zwischen 1858 und 1860 gelang es Stanislao Cannizzaro, die Atommassen auf besonders zuverlässige und konsistente Weise zu bestimmen. 1865 erstellte John Newlands ein System, in dem er 65 Elemente so auflistete, dass sich wichtige chemische Eigenschaften in jeder achten Position wiederholten. Auf dieses System bezieht sich Helmholtz offenbar in seinem Vortrag Ziel und Fortschritte (siehe S. 585). Das heute gebräuchliche Periodensystem der Elemente wurde 1869 von Lothar Meyer und Dmitri Mendelejew etwa zeitgleich, aber unabhängig voneinander entwickelt. Darin werden 128 Elemente nach ihrer Kernladung aufsteigend sortiert und entsprechend ähnlicher chemischer Eigenschaften in Spalten gruppiert.
Auch in der Physiologie Erfolge erzielt, deren Begründer Albrecht von Haller (1708-1777) ist. Er präparierte unzählige Leichen und stellte den Verlauf der Arterien im menschlichen Körper dar. Johannes Müller (1801-1858) untersuchte unter anderem die Nervenbahnen und die Sinneswahrnehmung. Carl Ludwig (1816-1895) schuf ein bahnbrechendes Lehrbuch der Physiologie, in der er die sowohl Experimente als auch mathematisch-physikalische Methoden propagierte. Die Physiologie wurde so zur Ausgangsbasis für die Weiterentwicklung sowohl für der Medizin als auch der Biologie. Außerdem inspirierte sie die experimentelle Psychologie.
Die empirischen Wissenschaften machten also große Fortschritte. Und das war auch damit verbunden, dass sich der Wissenschaftsbetrieb immer mehr professionalisierte und spezialisierte. Bezogen auf die Physik schreibt der der Wissenschaftshistoriker Simonyi (S. 388 f.):
„Je mehr wir uns nach dem großen Durchbruch im 17. Jahrhundert unserem Jahrhundert nähern, desto seltener werden Universalgenies wie Descartes und Leibniz, denen sowohl in der Geschichte der Philosophie als auch in der Geschichte der Mathematik und Physik ein eigenes Kapitel gewidmet werden muss. Ihren Platz nehmen Gelehrte ein, die sowohl als Mathematiker als auch als Physiker bedeutend sind, und die vor allem am Übergang vom 18. Zum 19. Jahrhundert die Entwicklung bestimmen (Lagrange, Laplace, Cauchy, Fourier, Gauss) […] Im 19. Jahrhundert treten ‚Physiker‘ in den Vordergrund, die in einer Person Theoretiker und Experimentator sind (Maxwell, Boltzmann, Hertz, Kirchhoff), manchmal auch ‚Ingenieure‘ (Kelvin, Siemens). Es beginnt aber bereits Spezialisierung, und so stoßen wir auf die ersten, die vorzugsweise als Experimentatoren tätig waren (Faraday). Im 20. Jahrhundert schließlich erfolgt ein Zerfall der Gemeinschaft der Physiker in zwei voneinander getrennte […] Lager, die Experimentalphysiker (wie z.B. Rutherford […]) und die theoretischen Physiker (wie z.B. Pauli […]).“
Freilich gab es empiristische Philosophen, wie beispielsweise John Locke, die französischen Aufklärer oder David Hume. Der Empirismus setzte sich aber weniger als philosophische Lehre durch, sondern als weltanschauliche Grundhaltung eines Großteils der Naturwissenschaftler. So schreibt Schnädelbach (S. 110):
„Erfahrung als Wissenschaftskriterium […] – das bedeutet wissenschaftstheoretisch den Durchbruch des Empirismus, der in Deutschland erst nach Hegel zur führenden Doktrin wird. Er wird wesentlich von Naturwissenschaftlern vertreten, nicht von Fachphilosophen […]. Der Empirismus ist im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts eine Naturwissenschaftler-Philosophie; in dieser Variante heißt er seit Comte auch Positivismus, und erst im Zuge des Aufstiegs des Szientismus als herrschender Weltanschauung.“
Damit einhergehend erlangte die bereits vorher vorhandene tendenzielle Philosophie-Feindlichkeit unter Naturwissenschaftlern spätestens ab 1830 den Status einer naturwissenschaftlichen Grundeinstellung.
Auf diese Weise kam es erstmals in der Philosophiegeschichte zu einer echten und umfassenden Umwertung der bisherigen Werte und zu einer Entthronung der Philosophie. Nicht mehr die vernünftig erkannte (philosophische) Theorie galt als Garant von Wahrheit, sondern das beobachtbare Phänomen: die so lange geschmähte Erfahrungstatsache. Von nun galt es als Inbegriff der Wissenschaftlichkeit, sich von spekulativen philosophischen Interpretationen zu distanzieren, und sich stattdessen auf die sinnlich wahrnehmbare Realität zu fokussieren.
Da die naturphilosophischen Dispute zunehmend als unfruchtbar empfunden wurden, entwickelten die Naturwissenschaftler am Ende eine tendenziell anti-philosophische Haltung.
Auf der anderen Seite bäumte sich die klassische Philosophie in Form von Hegels System noch einmal auf. Hegel beanspruchte nicht nur für seine Philosophie, die Oberhoheit darüber zu haben, wie die Naturphänomene zu interpretieren sind. Im Zweifel galt ihm sein System als sicherer als irgendwelche Erfahrungstatsachen. Immerhin war die Führungsrolle der Philosophie erstmals durch die neugeschaffene Humboldt-Universität institutionalisiert.
Von den zeitgenössischen Naturwissenschaftlern wurde dies immer mehr als vollkommen unangebrachte Einmischung empfunden. Zumal gerade in den Jahren vor 1830 die Naturwissenschaften insgesamt einen großen Schritt nach vorne erlebten[1]. Einerseits wurde die experimentelle Methode auf immer mehr Bereiche ausgeweitet. Andererseits wurde die Mathematik immer ausgefeilter. Konnte man Newtons Mechanik noch mit Geometrie und Algebra behandeln, standen jetzt für die Wärmetheorie, der Elektrizität und des Magnetismus eine um vieles anspruchsvollere mathematische Begrifflichkeit zur Verfügung. Die Idee Galileis einer mathematisch geprägten Naturwissenschaft schien inzwischen in einem ungeahnten Maß Wirklichkeit geworden zu sein. Insofern konnten die damaligen Naturwissenschaftler mit großem Selbstbewusstsein auftreten und lehnten Hegels Anspruch ab, Philosophie hätte die letzte Interpretationshoheit auch im naturwissenschaftlichen Bereich.
[1] Siehe Röd/Poggi [68], S. 13 ff. sowie Schnädelbach [76]
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