Die neue Mathematik: Allgemeine Entwicklungslinien
Einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des modernen Wissenschaftsmodells lieferte die neue, formale Mathematik, die im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand.
Felix Klein schreibt in seinen Vorlesungen über die Entwicklung der Mathematik im 19. Jahrhundert, Springer 1926, S. 3:
„Das 19. Jahrhundert zeigt [im Vergleich zum 18. Jahrhundert] einen gänzlich anderen Charakter. Die angewandte Mathematik bleibt zwar nicht in ihrer Entwicklung stehen. […] Daneben tritt nun aber die reine Mathematik mächtig hervor, und zwar gleich bedeutsam in zweifacher Weise: Ganz neue Gebiete werden geschaffen, so die Theorie der Funktionen komplexen Arguments und die projektive Geometrie; die überkommenen wissenschaftlichen Güter aber werden einer kritischen Durchsicht unterzogen, wie es dem wiedererwachten Gefühl für Strenge entsprach […].“
In der neuzeitlichen Mathematik gibt es so etwas wie ein „vorher“ und ein „nachher“ mit einem lang andauernden Übergang im Laufe des 19. Jahrhunderts. Wichtige Wegmarken waren hier sicherlich die Disquisitiones arithmeticae von Gauß, Cauchys Cours d’analyse, Riemanns neue Geometrie, sowie die axiomatische Mathematik Hilberts. Jedenfalls ist die Mathematik Ende des 19. Jahrhunderts eine andere als Anfang des 19. Jahrhunderts.
Klein hebt vor allem zwei Punkte hervor. Erstens, dass die reine Mathematik in ganz neue Gebiete vorgestoßen sei. Zweitens das „wiedererwachte Gefühl für Strenge“, mit der auch die bisherige Mathematik neu begründet wird. Ich werde nachfolgend argumentieren, dass diese beiden Punkte eng miteinander verknüpft sind, sowie mit weiteren Punkten, die Klein nicht nennt, und die zu einer veränderten Auffassung von Naturwissenschaft beitragen werden. Jedenfalls gibt es in der Mathematik des 19. Jahrhunderts folgende Entwicklungstendenzen, die sich ergänzen, zum Teil gegenseitig bedingen und ineinander verwoben sind:
(1) Die alte Mathematik sah sich als Messkunst bzw. als Wissenschaft von den quantitativen Eigenschaften der realen Dinge. Ihr Fundament glaubte sie in der Anschauung zu haben, sowie durch ihren Bezug zur realen, materiellen Welt. Die Mathematik war eindeutig. Es gab nur eine Mathematik, so wie es auch nur eine Welt gibt.
(2) Die Grundlagenkrise der Analysis lässt die Mathematiker nach einem neuen Fundament ihrer Wissenschaft suchen, das sie in logisch sauberen Definitionen und formal-stringenten Beweisführungen
(3) Um möglichst logisch-stringent argumentieren wird die Mathematik formaler. Jeder Beweisschritt kann als eine Operation an Symbolen aufgefasst werden kann, so dass alles regelbasiert und objektiv nachvollziehbar ist. Die intuitive Anschauung hat noch eine heuristische Funktion, um adäquate Definitionen oder Beweisideen zu finden. Sie hat jedoch keine Beweiskraft mehr. Die Mathematik kann man nun mit einem Brettspiel vergleichen, das nach bestimmten Regeln zu spielen ist. Das Kriterium für die Richtigkeit eines Beweises ist, ob jeder noch so kleine Beweisschritt streng regelbasiert vollzogen wurde.
(4) Diese neue, logisch-stringente und formale Mathematik wurde entworfen, um der bisherigen Mathematik ein zuverlässiges Fundament zu geben. Die formale Sichtweise war aber zugleich ein Sprungbrett für ganz neue mathematische Geisteswelten. Wie bei einem Brettspiel kann man sich dazu entschließen, einfach andere Spielregeln festzulegen, und zusehen, was für eine Art von Spiel sich dabei ergibt.
Hier ein sehr simples Beispiel: Der Raum, mit dem wir es normalerweise zu tun haben, ist dreidimensional. Formalisiert fasst man ihn als \( \mathbb{R}^3 \) auf. Auf diese Weise lässt sich der Raum der realen Welt beschreiben. Formal ist es aber ein sehr kleiner Schritt zu den höher-dimensionalen Räumen \( \mathbb{R}^4 \) oder \( \mathbb{R}^5 \) etc., jedenfalls sind die formal-logischen Methoden keine wesentlich anderen als beim \( \mathbb{R}^3 \). Und doch habe ich ein Gebiet betreten, das der normalen Raumanschauung nicht mehr zugänglich ist und bei dem ich nicht unmittelbar erkennen kann, was es mit der realen Welt zu tun hat.
Der große Vorteil dieser neuen Mathematik ist, dass ihr keine Grenzen mehr gesetzt sind. Sie kann sich, salopp gesprochen, mit den verrücktesten Themen beschäftigen. Euler war noch bemüht, das unendlich Kleine in der materiellen Welt nachzuweisen. All das kümmert die neue Mathematik nicht mehr. Sie wird zu einem intellektuellen Reich, losgelöst von Anschauung und Wirklichkeit, das nur auf sauberen Definitionen beruht und korrekten logischen Schlüssen daraus. Die neue Mathematik wird, wie nie zuvor, von dem Geiste Cardanos beseelt. Cardano hatte ja im 16. Jahrhundert spielerisch die imaginäre Zahl i angenommen, die die Gleichung i² +1 =0 lösen sollte, einfach um zu sehen, wohin das führen würde und ohne eine Idee davon zu haben, was für eine Zahl das sein könnte. Auf ähnliche Weise nahmen jetzt die Mathematiker vormals undenkbare Dinge spielerisch an. Hauptsache sie waren formal sauber definiert.
Beispielsweise waren Cauchys Überlegungen die Grundlage dafür, später die Konvergenz von Folgen von Funktionen zu definieren. Ich werde unten als Beispiel erörtern, wie Richard Dedekind die reellen Zahlen als sog. Schnitte konstruierte. Ein weiteres Beispiel ist der Begriff der „unendlichen Menge“. Denn im späten 19. Jahrhundert wird Cantor verschiedene Arten von Unendlichkeiten definieren und bemerkenswerte mathematische Erkenntnisse darüber herleiten, die keinerlei Bezug mehr zur empirischen Realität haben, sowie jede Anschaulichkeit überschreiten. Das gelingt Cantor nur mit Hilfe dieser neuen Art von Definitionen, die zugleich Handlungsanweisung für die Beweisführung ist. Aber auch n-dimensionale Räume mit n>3 sind nicht mehr anschaulich vorstellbar, mit formal sauberen Definitionen aber ohne Weiteres Gegenstand stringenter mathematischer Überlegungen. Dasselbe gilt für abstrakte algebraische Strukturen, die die Mathematiker „Gruppen“, „Körper“, „Ringe“ oder „Ideale“ nennen. Auch hier braucht man nur korrekte Definitionen, die für formale Beweisführungen verwendbar sind, und schon hatte man sich ein neues mathematisches Gebiet erschlossen.
Jedenfalls ist mit der Formalisierung der Mathematik ein Pluralismus von mathematischen Theorien im Keim angelegt, der sich nach und nach im Laufe des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein entfaltete. Manchmal wurden spielerisch einfach neue Annahmen gemacht, manchmal wurde eine gegebene Theorie auf eine allgemeinere Stufe gestellt. Riemann zeigt 1854, dass nicht nur eine euklidische Geometrie denkbar ist, sondern daneben noch unendlich viele nicht-euklidische Geometrien. In seiner Vorlesung mit dem Titel Prinzipien der Mathematik von 1917/18 verneint Hilbert sogar, dass es nur eine an sich gültige Logik gibt, und macht beliebig viele logische Systeme zum Gegenstand seiner Untersuchung. In den 1930-Jahren übertrug Banach geometrische Ideen und den Begriff der Konvergenz auf Funktionen und schuf damit die sog. Funktionalanalysis.
- Die bisherige Mathematik, bei der man gewohnt war, sie durch einen Bezug zur Realität zu interpretieren, steht nun neben unanschaulichen mathematischen Theorien, deren Bezug zur Realität nicht klar ist. Beide aber treten in demselben formal-stringenten Kleid auf. Man kann natürlich daran festhalten, dass nur die bisherige Mathematik im eigentlichen Sinne wahr ist, weil nur sie die materielle Welt beschreibt, wie sie ist (z.B. den ), während die spielerischen Abwandlungen nur imaginär oder phantasiert sind (z.B. den ). Rein logisch gibt es aber keinen signifikanten Unterschied. Anders formuliert: Aus rein mathematischer Sicht denkt man über den mit exakt denselben Mitteln nach wie über den , und ein vermeintlicher Bezug zur Realität ist völlig belanglos. Anders formuliert: Die angewandte Mathematik und die reine Mathematik unterscheiden sich nicht durch ihre Form, sondern durch einen unterschiedlichen Anspruch.
- Der Formalismus in der Mathematik führt zu einem Pluralismus von Theorien. Damit verliert die bisherige Mathematik, bei der man gewohnt war, sie durch einen Bezug zur Realität zu interpretieren, ihre Eindeutigkeit. Andere mathematische Theorien sind denkbar. Somit kann keine Rede mehr davon sein, dass die bisherige Mathematik notwendig ist. Es ist also auch denkbar, dass die Realität vielleicht doch einer anderen Mathematik entspricht, als man bislang dachte. Somit erweitert sich der intellektuelle Horizont beträchtlich. Vielleicht ist die materielle Welt tatsächlich vierdimensional, nur dass wir keinen Sinn für die vierte Dimension haben und deswegen – fälschlicherweise – die Welt für dreidimensional halten? Solange man nur eine Mathematik kannte, konnte man glauben, dass sich die Realität notwendigerweise gemäß dieser Mathematik verhalten müsse. Solange man z.B. nur die euklidische Geometrie kannte, meinte man, dass auch der reale Raum notwendigerweise euklidisch sein müsse. Eine Alternative hielt man für nicht vorstellbar. In dem Moment aber, als alternative mathematische Theorien als möglich gelten, verliert auch die bisherige Mathematik ihren lange als selbstverständlich angenommenen Realitätsbezug. Insgesamt entsteht zwischen formaler, pluralistischer Mathematik und der materiellen Wirklichkeit eine Kluft.
- Aufgrund der Loslösung der Mathematik von der materiellen Wirklichkeit entsteht wie nie zuvor das Problem des ontologischen Status von mathematischen Gegenständen. Bislang sollte sich die Mathematik auf quantitative Eigenschaften realer Dinge beziehen. Inwiefern existiert aber z.B. der ? Oder eine Riemansche Mannigfaltigkeit? Oder eine überabzählbare Cantorsche Menge? Einige Mathematiker, wie z.B. Frege, nahmen die platonische Arbeitshypothese an, eine Einstellung die auch erkenntnistheoretischen Realismus bezeichnet wird. Frege spricht von einem „dritten Reich“, das von der materiellen Welt verschieden ist, aber auch von der inneren Welt des subjektiven Erlebens. Man beschäftigte sich mittels entsprechender Definitionen mit bestimmten mathematischen Objekten, von denen klar war, dass sie so in der materiellen Wirklichkeit nicht vorkommen. Irgendwie hielt man sie aber schon für existierend, denn man untersuchte ja nicht nichts. Und bloß psychologische Erscheinungen waren sie auch nicht. Also hielt man sie für ideale Gegenstände, die in einem eigenen Seinsbereich zwischen realer Wirklichkeit und subjektiven Bewusstseinserlebnissen anzusiedeln sind. Andere Mathematiker, wie z.B. Hilbert, wollten von einem solchen Platonismus nichts wissen, und reduzierten die Mathematik auf ein bloßes formales Operieren mit Symbolen nach festgelegten Regeln.
Wie gesagt, es gab keinen bestimmten Zeitpunkt, ab dem die alte zur neuen Mathematik wurden. Vielmehr handelt es sich um komplexe Übergangsprozesse. Manche Mathematiker waren ihrer Zeit voraus, manche trieben die Entwicklung voran und manche hielten an bisherigen Auffassungen fest, so dass der Übergang zur durchgängig formalisierten Mathematik im 19. Jahrhundert ein durchaus schmerzhafter und lange währender Prozess war, der zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein gedauert hat.
Für die Entwicklung der reinen Mathematik in Deutschland stellt Pulte die Bedeutung der Humboldtschen Bildungsreform heraus, die zu einer Umgestaltung von Universitäten und Gymnasien führte:
„Im Mittelpunkt dieser Neuorientierung steht ein Wissenschaftsideal, das eine von praktischem Nutzen freie, um ihrer selbst willen betriebene Wissenschaft zur eigentlichen Lebensform des ‚gebildeten‘ Menschen erklärt und daher auch Bildung als ein nicht auf ‚äußere Zwecke‘ zu berechnendes, allein der Entwicklung und Vervollkommnung des menschlichen Intellektes dienendes Gut versteht.“[1]
In diesem Zusammenhang wurde das Studium alter Sprachen, sowie der Geschichte aufgewertet. Aber auch die Mathematik sollte von dem Primat der Nützlichkeit befreit werden und nur noch um ihrer selbst willen betrieben werden. So wie es die Mathematiker in der Antike taten. Mathematik wurde ja schon des längeren für Technik und Naturwissenschaft nutzbar gemacht. Von einer solchen sog. „angewandten“ Mathematik wurde jetzt die „reine“ Mathematik unterschieden, bei der keine praktischen Ziele verfolgt werden. Vorreiter einer solchen reinen Mathematik waren unter anderem August Crelle (1780-1855), C.F. Hindenburg (1741-1808), sowie Carl Gustav Jacob Jacobi.
Für die frühneuzeitlichen Naturwissenschaftlern, insbesondere Galilei und Newton, war die Mathematik eine Methode, um die Empirie zu überschreiten und Erkenntnisse vom innersten Wesenskern der Natur zu gewinnen. Sie identifizierten das Wesen der materiellen Welt mit der Mathematik. Mustergültig sieht man das z.B. daran, dass Galilei meinte, schlüssig beweisen zu können, dass ein Stück Holz aus unendlich vielen punktartigen Atomen bestehen würde mit dem Verweis darauf, dass auch eine geometrische Strecke aus unendlich vielen geometrischen Punkten besteht. Auf diese Weise wurde der Mathematik ein Realitätsbezug zugestanden, den man als naiv bezeichnen könnte, der aber sehr hilfreich für die Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft war.
Als die Mathematik im Laufe des 19. Jahrhunderts diesen lange als selbstverständlich angenommenen Bezug zur Realität verlor, musste auch die mathematische Naturwissenschaft sich neu definieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Erkenntnis erstmals von einem Mathematiker ausgesprochen wird, nämlich von Jacobi in seiner Vorlesung über analytische Mechanik von 1847/48. Denn auch die analytische Mechanik ist zunächst vor allem eine mathematische Theorie. Wenn es für die Mathematik insgesamt fraglich geworden ist, inwiefern sie sich auf reale Gegenstände bezieht, dann gilt dies genauso für die Mechanik.
Ich werde zunächst gewissermaßen als Vorspiel etwas über die Geschichte der komplexen Zahlen sagen, die mit dem italienischen Mathematik Cardano im 17. Jahrhundert beginnt.
[1] Pulte [61], S. 303. Pulte listet ab 296 ff. mehrere historische Gründe auf,
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