Realitätsbezug der Mechanik aufgrund ihrer vermeintlichen Notwendigkeit

Die Newtonsche Mechanik wurde von Euler, d’Alembert, Lagrange und anderen weiterentwickelt und als mathematisches System perfektioniert. Sie bewährte sich hervorragend bei technischen Anwendungen und erlaubte es, die Existenz eines bislang unbekannten Planeten vorherzusagen.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts erlangte Mechanik den Status der Alternativlosigkeit. Während es am Anfang des Jahrhunderts noch konkurrierende naturphilosophische Schulen gab, die miteinander stritten, stand inzwischen die Gültigkeit von Newtons Physik vollkommen außer Frage. Auch an die fernwirkende Gravitation hatte man sich gewöhnt.

Man erinnerte sich wohl an die aristotelische Naturphilosophie, aber nur noch als eine Kuriosität, von der man nicht verstehen konnte, dass irgendein Mensch sie tatsächlich einmal ernsthaft vertrat. Wundt spricht in der Einleitung zu seinen Prinzipien der mechanischen Naturlehre von einem „historischen Kampf, in welchem die mechanische Naturanschauung der Galilei-Newtonschen Periode der Physik über die ältere Aristotelische Qualitätenlehre und ihre Nachwirkungen den Sieg davontrug.“[1] Wundt findet es allerdings im selben Absatz sehr bemerkenswert, dass ein solcher Kampf überhaupt stattgefunden hat, angesichts des „Charakter[s] unumstößlicher Gewissheit, den man nach dem eingetretenen Sieg der mechanischen Naturauffassung jenen Prinzipien [der Newtonschen Physik] zuschrieb“, sowie ihre „Behauptung der selbstverständlichen Notwendigkeit“. Im Nachhinein ist es Wundt nicht begreiflich, warum man sich überhaupt die aristotelische Physik ausgedacht hatte und warum sich die Galilei und Newton gegen sie mühevoll durchsetzen mussten. Das wäre in etwa so, als hätten Menschen einmal an eine Mathematik geglaubt, bei der 10+10=21 ist, und erst nach jahrelangen Debatten von der richtige Mathematik überzeugt worden wären.

Eine Alternative zur Newtonschen Mechanik war inzwischen nicht mehr denkbar, die Dispute mit den Cartesianeren und den Leibnizianern waren vergessen, und auch die aristotelische Physik konnte man nicht als vernünftige Alternativ gelten lassen. Die neue, mathematische Physik galt inzwischen als selbstverständlich gewiss und als notwendig wahr. Was aber notwendig ist und unmöglich anders sein kann, hat automatisch einen Realitätsbezug. Die Wirklichkeit, sofern darin Materieteilchen, die sich bewegen, vorkommen, kann nicht anders sein als den Gesetzen der Mechanik unterliegend.

Dieselbe Art der Notwendigkeit hatten die Geometrie und die Arithmetik. Auch hier waren damals keine Alternativen denkbar. Was unmöglich anders sein kann, ist notwendig. Dann muss aber auch die Realität sich dementsprechend verhalten. Die materielle Wirklichkeit musste notwendig den Gesetzen der Geometrie und der Arithmetik gehorchen, genauso wie den Gesetzen der Mechanik: Weil etwas anderes nicht denkbar war.

Insofern war es für die Wissenschaft fast zweitrangig, auf welche Weise man die obersten Prinzipien der Mathematik oder der Mechanik gefunden hatte. Newton behauptete seine Prinzipien mittels Induktion von den Naturerscheinungen abgeleitet zu haben. Empiristen wie z.B. Mill folgten ihm hierbei. Euler und Lagrange bemühten sich, die Grundsätze der Mechanik rationalistisch zu beweisen. Wie man es drehte und wendete, ob man an Newtons Induktion glaubte oder an die Beweise der Rationalisten, spätestens ab 1800 galt die Mechanik nicht nur als wahr, sondern als als völlig unstrittig.

[1] Wundt, Die Prinzipien der mechanischen Naturlehre. Verlag Ferdinand Enke, 1910. S. 6.

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