Newtons Mechanik zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Die Mechanik ist im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer Wissenschaft geworden, die einem mathematischen Laien unzugänglich ist. Aber nicht nur die äußere Form der Mechanik ist mathematisch, den meisten Wissenschaftlern galt sie selbst als ein Zweig der Mathematik.

So wie die Geometrie eine Idealisierung räumlicher Figuren ist, so ist die Mechanik eine Idealisierung materieller Körper. Von all ihren Qualitäten wird abstrahiert, so dass sie nur noch mathematischen Massepunkte sind. Und eine physikalische Kraft wird darauf reduziert, dass sie die Änderung der Ortsbewegung eines Massepunktes bewirkt. Dies wiederum lässt sich mathematisch so formulieren, dass eine Kraft ein Vektor ist, d.h. eine Größe mit einer Richtung. Dementsprechend sagt Kirchhoff in seiner Rede Über das Ziel der Naturwissenschaften (1865):

„Die Mechanik ist mit der Geometrie nahe verwandt; beide Wissenschaften sind Anwendungen der reinen Mathematik“[1].

Und Kirchhoff fügt an:

„[M]it demselben Rechte wie den geometrischen Sätzen ist auch den mechanischen absolute Gewissheit zuzusprechen.“

So ist es auch passend, dass Kirchhoff Galilei für den Gründungsvater der modernen Mechanik hält, immerhin schrieb Galilei, dass das Buch der Natur in den Buchstaben der Geometrie geschrieben sei. Kirchhoff gibt damit eine Auffassung wieder, die mit Sicherheit die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler im 18. Und 19. Jahrhundert vertraten.

Die Aufgabe der Mechanik beschreibt nun Kirchhoff ganz allgemein so[2]:

„die Bewegung von Körpern zu bestimmen, wenn die Ursachen, die sie bedingen, bekannt sind“.

Dabei sind mit „Körpern“ eigentlich Massepunkte gemeint. Und die Ursache dafür, dass ein Massepunkt seine Bewegung ändert, wird zumeist als „Kraft“ bezeichnet. Das typische Beispiel einer solchen Kraft ist die Gravitationskraft, man könnte aber auch magnetische oder elektrische Kräfte als weitere Beispiele für Kräfte angeben, die die Bewegungsänderung von Massepunkten verursachen können. Ferner soll es zwischen den Massepunkten bestimmte Verbindungen geben. Sie könnten fest verbunden sein durch Schnüre und Rollen oder wie die Teile eines starren Körpers. Oder sie könnten so verbunden sein, dass ihnen eine gewisse, aber beschränkte Beweglichkeit gegeneinander zukommt, wie den Teilen einer Flüssigkeit oder eines federnden festen Körpers.

Somit hat die Mechanik mit einem endlichen System von Massepunkten zu tun, zwischen denen bestimmte Zwangsbedingungen gegeben sind, und an denen bestimmte Kräfte wirken. Neben dem freien Fall, dem Wurf, der Pendelbewegung oder Planetenbahnen, kann man sich allgemeine mechanische System wie folgt vorstellen:

Und die Aufgabe besteht darin, die Bewegung der Massepunkte vorauszuberechnen. Ein mechanisches System, das nur aus einem einzigen Massepunkt besteht, an dem eine oder mehrere Kräfte wirken, ist relativ einfach. Komplexer wird es, wenn das Ganze aus mehreren Massepunkten besteht.

Die Bewegungsgleichung für ein mechanisches System kann man mithilfe der mechanischen Prinzipien finden. Kirchhoff[3]:

„Durch das d’Alembertsche Prinzip und das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten lässt sich, vorausgesetzt, dass die rein mathematischen Schwierigkeiten überwunden werden können, die Bewegung eines beliebigen Systems von Massen finden, wenn die Kräfte, die auf diese wirken, gegeben sind und der Zustand des Systems, nämlich Ort und Geschwindigkeit jedes Teiles, für einen Augenblick bekannt ist.“

Kirchhoff äußert hier den Gedanken, dass man für eine beliebiges System von Massepunkten, sofern die Art der Verbindungen zwischen ihnen, sowie die Kräfte, die auf sie wirken bekannt sind, mittels der Mechanik Differenzialgleichungen aufstellen kann. Und sofern diese Gleichungen mathematisch gelöst sind, kann man jeden künftigen Zustand des Systems, jeden Ort und jede Geschwindigkeit jedes Massepunktes zu einem bestimmten Zeitpunkt, vorausberechnen.

Selbstverständlich beziehen sich diese Überlegungen zunächst nur auf überschaubar viele Massepunkte. Und es ist auch nicht klar, ob man jede beliebige Differentialgleichung lösen kann. Aber diese Idee, übertragen auf die Gesamtheit aller Massepunkte, die es im Universum gibt, führt zu der Idee des für das 19. Jahrhundert spezifischen Mechanismus.

„Eine Intelligenz, welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte, sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte, und überdies umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegung der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde ihr ungewiß sein und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben verstand, ein schwaches Abbild dieser Intelligenz dar. Seine Entdeckungen auf dem Gebiete der Mechanik und Geometrie, verbunden mit der Entdeckung der allgemeinen Gravitation, haben ihn in Stand gesetzt, in demselben analytischen Ausdruck die vergangenen und zukünftige n Zustände des Weltsystems zu umfassen.“ (Laplace Oeuvres VII, S. V f., zitiert nach Pulte, S. 60 f.)

Das würde aber auch bedeuten, dass man überhaupt alle Naturerscheinungen, egal ob chemisch, biologisch oder physiologisch, auf die Mechanik und das Lösen von Differenzialgleichungen zurückführen könnte. Das ist selbstverständlich ein enormer Anspruch, der aber tatsächlich einer Vielzahl von Wissenschaftlern als Leitidee diente.

So wurde die Mechanik zu einer Leitwissenschaft. Sie konnte sehr viele Naturphänomene erklären, sie war in der Technik und bei der Industrialisierung außerordentlich nützlich. Inzwischen galt ihre Wahrheit als eine Selbstverständlichkeit, eine vernünftige Alternative schien es nicht zu geben. Somit hielten viele sie für ebenso notwendig wahr, wie die Mathematik.

[1] Kirchhoff: Über das Ziel der Naturwissenschaften, S. 4.

[2] Siehe die Rede von Gustav R. Kirchhoff: Über das Ziel der Naturwissenschaften (1865), S. 4. In dieser Rede gibt Kirchhoff übrigens eine sehr gute populärwissenschaftliche Darstellung des damaligen Standes der Mechanik.

[3] Kirchhoff: Über das Ziel der Naturwissenschaften, S. 6.

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