Lagrange: Analytische Mechanik

Joseph-Louis Lagrange (1736-1813) ist ein aus Turin stammender italienischer Mathematiker, der lange in Paris gewirkt hat. 1788 veröffentlicht er sein Werk Méchanique Analitique. Dieses Werk stellt den Höhepunkt der mathematisch-physikalischen Bemühungen im 18. Jahrhundert dar.

Nach Pulte liefert Lagrnage…

„[…] eine Organisation der Sätze […], die die verschiedenen Programme der rationalen Mechanik bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts hervorgebracht haben: Sie schließt die systematische, theorieförmige Zusammenfassung der akzeptierten Resultate der Mechanik ab. […] Lagranges Werk leistet eine Systematisierung auf eine mathematisch großartige Weise.“[1]

Und Simonyi schreibt[2]:

„Die Newtonschen Gedanken sind durch Euler zu einem Arbeitsgerät für den alltäglichen Gebrauch gestaltet worden, das jeden vernünftigen und fachlich gebildeten Menschen praktische, technische Probleme zu lösen befähigt. In den Händen von Lagrange und Hamilton wurde dieses Gerät noch weiter verfeinert, so dass es nicht nur die Lösung immer komplizierterer Aufgaben ermöglichte, sondern dadurch selbst zu einem Kunstwerk wurde.“

Lagrange gründet seine Mechanik auf dem Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten, das ich hier vor allem deshalb skizziere, um zu zeigen, auf welch hohem mathematischen Niveau es sich befindet[3].

Das sog. Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten gibt für ein beliebiges mechanisches System von Materiepunkte die Bedingung fürs Gleichgewicht an:

„Für ein System mit n Massen \(m_1,…,m_n\), die jeweils dreidimensional wirkenden Kräften \(F_i=(X_i, Y_i, Z_i)\) unterliegen, gilt:

\( \sum_{i=1}^{n}(X_i-m_i\cdot\frac{d^2 x_i}{dt^2})\partial x_i+(Y_i-m_i\cdot\frac{d^2 y_i}{dt^2})\partial y_i+(X_i-m_i\cdot\frac{d^2 z_i}{dt^2})\partial z_i = 0  \)“

Worauf es mir hier ankommt, ist: Es ist für einen Laien ohne mathematische Bildung nicht zu verstehen.  Und keinesfalls kann man Lagranges Prinzips als evidentes Axiom im traditionell aristotelischen Sinne auffassen. Pulte[4]:

„[…] eine solche Formel empfiehlt sich nicht als evidenter Satz, von dem aus eine ganze Theorie ohne weitere Umstände entwickelt werden könnte.“

Im Vorwort zur zweiten Auflage Méchanique Analitique (1811/13) sagt Lagrange selbst[5]:

„Was die Natur des Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten betrifft, so muss man zugeben, dass dieses Prinzip an sich nicht evident genug ist, dass es als ursprüngliches Axiom hingestellt werden kann […]“

Erinnern wir uns. Galilei ließ in seinen Dialogen Salviati sich darum bemühen, jedes naturwissenschaftliche Prinzip dem begriffsstutzigen Simplicio einsichtig zu machen. So machte er beispielsweise das Trägheitsprinzip mithilfe eines Gedankenexperiments evident. Jede „Hypothese“ bei Huygens ist eine Aussage, der normalerweise jeder Laie zustimmt, sobald er ein wenig darüber nachdenkt. Und auch Newton versuchte, seine Bewegungsgesetze anhand einfacher konkreter Beispiele für jedermann verständlich und evident zu machen. Eulers fundamentales Prinzip von 1752 oder Lagranges Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten hingegen sind mit Sicherheit keine unmittelbar evidenten Wahrheiten. Alleine um sie zu verstehen, muss man beträchtliche mathematische Vorkenntnisse mitbringen. Ihre Stärke besteht darin, dass man die gesamte mathematische Mechanik elegant auf ein paar wenige Prinzipien gründen kann, die ganze Theorie ist daraus herleitbar. Die Kehrseite jedoch ist, dass solche Prinzipien, wie gesagt, nicht mehr evident sind.

Gemäß dem traditionell-aristotelischen Wissenschaftsmodell garantierte die Evidenz der Axiome deren unumstößliche, notwendige Wahrheit, sowie deren Realitätsbezug. Aristoteles forderte in der Zweiten Analytik, dass die obersten, nicht weiter beweisbaren Prämissen einleuchten müssen. In diesem Sinne behauptete er, dass die Vernunfteinsicht (der Nous) das eigentliche Prinzip der Wissenschaft sei[6]. Wenn die obersten Naturprinzipien, aus denen die ganze Physik mathematisch hergeleitet wird, aber nicht mehr evident sind, wie kann man sich dann sicher sein, dass die Physik insgesamt wahr ist? Woher kommt ihr Bezug zur Realität?

Lagrange standen damals drei Wege zur Auswahl. Der erste Weg wäre Galileis Wissenschaftsmodell gewesen, das ähnlich wie das aristotelische Modell auf der Evidenz der obersten Axiome beruht. Der zweite Weg ist Newtons Wissenschaftsmodell, dem gemäß die obersten Prinzipien mittels Induktion empirisch aus den Naturphänomenen abgeleitet werden sollen. Drittens gab es das cartesische Modell, bei dem versucht wird, die obersten naturwissenschaftlichen Prinzipien zu beweisen.

Der erste Weg stand Lagrange ja nicht offen, weil sein Prinzip nicht evident ist. Bemerkenswert aber ist, dass Lagrange in der ersten Auflage seiner Méchanique Analitique überhaupt keinen Begründungsversuch unternahm, weder einen empirisch-induktiven noch einen rationalistischen. Stattdessen gibt er eine Art historische Begründung, gewissermaßen als Ersatz für eine metaphysische oder empirische Rechtfertigung. Pulte[7]:

„Lagrange breitet die Vielzahl der akzeptierten Prinzipien vor dem Leser aus und entwickelt seine Geschichte letztlich auf das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten hin, das durch die großen Autoritäten Galilei und Descartes gestützt wird. Indem er darlegt (bzw. glaubt, darlegen zu können), wie die Ideen, die das meiste zur Erweiterung und Vervollkommnung dieser Wissenschaft beigetragen haben, stufenweise zur Ausbildung gelangt sind‘, entsteht vor dem Auge des Lesers eine historische Entwicklung, die vernünftig ist und sich auf ein vernünftiges Ende hin bewegt: die Méchanique Analitique.“

Dass Lagrange anfangs keinen wirklichen Begründungsversuch unternimmt, ist tatsächlich bemerkenswert. Denn es zeigt, dass am Ende des 18. Jahrhunderts die Gültigkeit der Newtonschen Mechanik unstrittig geworden ist. Sie ist alternativlos geworden. Andere naturphilosophische Theorien existierten vielleicht noch als blasse Erinnerungen, über die man sich inzwischen wunderte, warum überhaupt jemand daran glauben konnte. Was als selbstverständlich wahr gilt, muss nicht begründet werden. Und genau diesen Status hatte inzwischen die Newtonsche Mechanik. Da sie ferner als eigentlich alternativlos angesehen wurde, war sie nicht nur überhaupt wahr, sondern notwendig wahr. Was aber notwendig wahr ist, muss auch für die Realität gelten. Ganz ähnlich wie man damals nur die euklidische Geometrie kannte, sie also alternativlos war, deshalb als selbstverständlich und notwendig wahr galt, weswegen es auch keinerlei Zweifel gab, dass auch der reale Raum euklidisch ist.

Aber auch von dem, was als selbstverständlich wahr gilt, kann man eine vernünftige Rechtfertigung verlangen. So wie zwar jeder Mathematiker bis Anfang des 19. Jahrhunderts das Parallelenaxiom für selbstverständlich wahr hielt, und viele dennoch nach einem Beweis dafür suchten. So gab es auch verschiedene Anläufe, die notwendige Gültigkeit des Lagrangeschen Prinzips zu beweisen. Fourier versuchte es 1798, Laplace 1799, Carnot 1803, Ampère 1806 (um nur ein paar zu nennen). Man kann sie alle als gescheitert ansehen.

In der zweiten Auflage der Méchanique Analitique von 1811/13 unternimmt schließlich auch Lagrange einen Beweisversuch. Dazu kommentiert Pulte[8]:

„Lagrange realisiert hier, vermutlich angeregt durch eine Arbeit Fouriers, die die allgemeine, Lagrangesche Form des Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten erst noch beweisen soll, dass eine Mechanik, die beansprucht, ohne metaphysische, physikalische, geometrische oder selbst ‚mechanische‘ Intuition auszukommen, schlechterdings keinen Anspruch darauf machen kann, über ein Axiom im traditionellen Sinne zu verfügen.“

Wissenschaftstheoretisch stehen all diese Beweisversuche in der rationalistischen Tradition, die mit Descartes begann und auch Euler in seiner Mechanik vertrat.

Lagranges analytische Mechanik ist eine abstrakt-mathematischen Physik, die für sich genommen so gut strukturiert und ausgereift ist, dass nicht nur Lagrange, sondern auch andere zeitgenössische Wissenschaftler sie für selbstverständlich und notwendig wahr hielten. Dies vielleicht auch deswegen, weil es damals so schien, dass es keine vernünftige Alternative geben könne. Was aber alternativlos ist, ist notwendig. Und was notwendig ist, muss auch für die reale Welt gelten. Jedenfalls war man noch nicht auf den Gedanken gekommen, Axiome nur hypothetisch anzunehmen, so dass auch die gesamte Physik letztlich nur hypothetischen Charakter hat, und dass der Bezug zur Realität dadurch gegeben ist, dass man Folgerungen aus der Theorie empirisch überprüft.

[1] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 206.

[2] Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, S. 308.

[3] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 205.

[4] Pulte, S. 212.

[5] Zitiert nach Pulte S. 212.

[6] Siehe Zweite Analytik I 23, I 33, sowie II 19 (110b).

[7] Pulte, S. 210.

[8] Pulte, Axiomatik und Empirie, S. 212.

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