Platons Ideenlehre

Platon stellt seine Ideenlehre nicht systematisch in einem bestimmten Werk dar. Er verwendet die Wörter idea oder eidos, die beide von dem griechischen Verb idein für „sehen“ kommen.

In verschiedenen Dia­logen gibt es nur mehr oder weniger aufschlussreiche Hinweise darauf[1]. In den Dialogen ist oft der Ausgangspunkt für die Ideenlehre die Beobachtung, dass wir denselben Dingen widersprechende Eigenschaften zuschreiben können. Im Phaidon fragt Sokrates: „Erscheinen dir nicht gleiche Steine …, ganz dieselben bleibend, bisweilen als gleich und dann wieder nicht?“ Interessanterweise scheint Platon hier bereits auf die Mathematik anzuspielen, denn, wie wir oben gesehen haben, arbeitete die griechische Arithmetik mit Zählsteinen, die dann immer jeweils für eine Einheit stehen.

Nehmen wir an, man legt neun Zählsteine in einem 3×3-Quadrat hin, um den mathematischen Sachverhalt anschaulich zu machen, dass die Neun eine Quadratzahl ist. Dann fasst man alle Steinchen als die gleiche Einheit auf.

Sieht man aber genauer hin, so wird man feststellen, dass alle Steinchen auch unterschiedlich sind. Die Steine sind also in einer Hinsicht gleich, in anderer Hinsicht aber ungleich. Die Steinchen sind somit, recht betrachtet, in sich widersprüchlich.

Und auf diese Weise ist alles sinnlich Wahrnehmbare widersprüchlich. Alles, was warm ist, kann einem anderen als kalt erscheinen. Alles, was groß ist, kann in einer anderen Hinsicht als klein bezeichnet werden. Jede konkrete tapfere Handlung, kann wohl in einer anderen Hinsicht auch als feige verstanden werden. Und so weiter.

Jedenfalls ist so kein sicheres Wissen möglich. Die Mathematik liefert aber ein sicheres Wissen. Und das macht sie, indem sie sich auf einen Aspekt konzentriert: in unserem Beispiel auf den Aspekt, dass alle Steinchen gleich sind, – obwohl sie es ja faktisch nicht sind. Damit wird von den konkreten Steinchen abstrahiert. Dem Mathematiker geht es ja auch gar nicht um diese konkreten Steinchen, sie sind für ihn nur eine Darstellung der Zahl Neun. Platon drückt sich auch so aus:

  • Abbild-Urbild-Sprechweise: „Diese Steinchen sind ein Abbild der Zahl Neun. Die Zahl selbst ist ein ideales Muster.“
  • Teilhabe: „Die Steinchen haben teil an der Zahl Neun“
  • Nachahmung: „Die Steinchen ahmen die Zahl Neun nach.“

Klar ist ferner, dass es zwar nur eine Zahl Neun gibt, ich aber mit unbegrenzt vielen Dingen konkrete Neunergruppen bilden kann. Die Idee ist also einzigartig und steht dem Vielen gegenüber.

Und so verhält es sich mit allem anderen. Nach Platon gibt es viele schöne Dinge, die aber immer auch einen hässlichen Aspekt haben, – sowie eine Idee des Schönen selbst. Es gibt viele große Dinge, die aber immer auch als klein aufgefasst werden können, – sowie die Idee des Großen selbst. Es gibt viele tapfere Handlungen, die immer auch etwas Feiges an sich haben, – sowie die Idee der Tapferkeit selbst. Und so weiter.

a) Unumstößliche Wahrheit, Vernunfteinischt und Anti-Empirismus

Platon schreibt im Phaidon[2]: „… dass alle Betrachtung durch die Augen voll Betrug ist, voll Betrug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne“. Die Philosophie würde dagegen der Seele lehren, sich von den Sinnen zurückzuziehen und „in sich selbst zu sammeln … und nichts anderem zu glauben als wiederum sich selbst, was sie [die Seele] für sich selbst von den Dingen an und für sich anschaut.“ Platon setzt dem „Wahrnehmbaren und Sichtbaren“, das keine wahre Erkenntnis zulässt, den Bereich des „Denkbaren und Unsichtbaren“ entgegen, womit er die Ideen meint, für die alleine es zuverlässiges und wahres Wissen gibt. Dies illustriert die Merkmale (Abs) und (AntiEmp).

Auf der einen Seite ist die Empirie, die keinerlei sichere Erkenntnis zulassen soll, und auf der anderen Seite die geistige Welt der Ideen, die man alleine durch Introspektion erkennen kann und so eine wahre, sichere Erkenntnis ermöglicht. Eine solche Zweiteilung ist für uns heutzutage weitestgehend unverständlich. Platon sah die Welt offenbar vollständig anders, als wie heute, die wir durch die modernen, empirischen Naturwissenschaften geprägt sind. Die allermeisten modernen Menschen sehen mit Sicherheit das Verhältnis genau umgekehrt: Bloßes Nachdenken führt zu nichts, und belastbares Wissen muss empirisch untermauert sein.  Unser heutiges Weltbild ist der Auffassung Platons diametral entgegengesetzt.

Wie konnte Platon so etwas glauben? Ich bin der Überzeugung, weil er die Mathematik als Vorbild hatte. Und wenn man seine Auffassung aus dem Lichte der damaligen Geometrie betrachtet, wird sie für uns zumindest nachvollziehbar.

In der Politeia beschreibt Platon die konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Dinge so, dass sie zwischen „seiend“ und „nicht-seiend“ stehen[3]:

„Unter diesem vielen Schönen … gibt es wohl eines, was nicht auch häßlich erscheinen kann? Und unter dem Gerechten, was nicht auch ungerecht? … Und das Große und Kleine und Leicht und Schwere, wird das mit größerem Recht so, wie wir eben sagen, genannt als entgegengesetzt? … Denn auch diese Dinge sind doppelsinnig, und es ist unmöglich, von irgendeinem darunter genau und bestimmt zu denken, weder dass es ist oder nicht ist…Also haben wir gefunden … dass was die Vielen vieles annehmen …, sich irgendwo zwischen dem Nichtseienden und dem wahrhaft Seienden herumdreht.“

Und dem setzt Platon die Ideen gegenüber, die seiner Auffassung nach wahrhaft, ewig und unveränderlich sind und erst zuverlässige Erkenntnis ermöglichen. Wie sehr diese Dichotomie an den Punkt (M 4) der geometrischen Methode erinnert, sieht man auch an folgendem.

In der Politeia entwirft Platon ein umfassendes Bild, wie ein idealer Staat auszusehen habe. Er beschreibt, wie er organisiert sein müsse, dass er wehrhaft sein müsse und wie die Erziehung zu sein hat. Und all das aufgrund logisch-rationaler Argumente. Am Schluss wirft ein Gesprächspartner im Dialog die Frage auf, ob ein solcher Staat auch möglicherweise tatsächlich existieren könnte[4]. Im Text wird darauf so geantwortet:

„Meinst du also, einer sei ein minder guter Maler, der, nachdem er ein Urbild gemalt hätte, wie ein vollkommen schöner Mann aussehen würde, und in seinem Bilde alles gehörig beobachtet hätte, hernach nicht aufzeigen könnte, dass es einen solchen Man auch geben könne? … Meinst du also, dass wir deswegen minder gut geredet haben, wenn wir nicht aufzeigen können, es sei möglich, eine Stadt so einzurichten, wie es beschrieben wurde?“

Platon hat somit einen perfekten Staat konstruiert wie eine geometrische Figur, um zu unumstößlichen Erkenntnissen zu gelangen. Und so wie es bei einer geometrischen Wahrheit völlig unerheblich ist, ob die geometrische Figur in ihrer Perfektion tatsächlich auf dem Papier vorkommen kann, ist es auch für den idealen Staat unerheblich, ob es ihn in der Realität geben kann. Ich denke, dass die Analogie zwischen dem vierten Punkt der geometrischen Methode und Platons erkenntnistheoretischer Dichotomie offensichtlich ist.

Wahres Wissen kann es nach Platon nicht geben bezogen auf die vielen konkreten Einzeldinge. Sie gewähren nur Meinungen, die bisweilen richtig sind, bisweilen aber auch nicht. Wirklich unumstößlich wahres Wissen gibt es nach Platon nur mit Bezug auf die Ideen. Diese kann man natürlich nicht so erkennen, wie man herkömmliche Dinge sinnlich wahrnimmt, vielmehr kann man sie nur mit einem „geistigen Auge“ erkennen. Platon beschreibt an verschiedenen Stellen, wie man mittels vernünftiger Einsicht die Ideen erkennen kann, „ohne sich überhaupt irgendeines sinnlich Wahrnehmbaren zu bedienen“[5]. Dies belegt das Merkmal (mtAkt) bei Platon.

Gemäß einer Anekdote[6] sagte der Kyniker Antisthenes zu Platon: „Ein Pferd sehe ich wohl, Platon, die Pferdheit dagegen sehe ich nicht.“ Worauf Platon antwortete: „Du hast eben das Auge, mit dem man das Pferd sieht, aber das Auge, mit dem man die Pferdheit erblickt, hast du nicht.“

Im Phaidon[7] spricht Platon davon, dass sich der Philosoph von der sinnlichen Wahrnehmung abwenden sollte, und sich stattdessen in sich selbst sammeln sollte und nichts anderem glauben sollte als sich selbst, was er für sich selbst von den Dingen an und für sich anschaut.

Nun zurück zum Logos, den man entweder durch die Fragetechnik der Maieutik oder im Rahmen der Mathematik erlangt hat. Mittels eines in sich schlüssigen Logos ist eine Idee erkennbar. Der Logos vermag eine Idee sozusagen aufscheinen zu lassen. Anders formuliert: Das korrekte logisch-rationale Argumentieren spiegelt nach Platon eine Idee wider.

b) Ontologie der Ideen

Ich denke, dass man die erkenntnistheoretische Begründung der Ideen nachvollziehen kann. Platon geht nun aber noch einen Schritt weiter. Er versteht die Ideen nämlich auch ontologisch. Das heißt, Platon nimmt an, dass die Ideen tatsächlich objektiv, unabhängig von uns existieren. Natürlich müssen sie auf andere Weise existieren als die herkömmlichen, sinnlich wahrnehmbaren Dinge, mit denen wir es normalerweise zu tun haben. Platon spricht den Ideen sogar ein „höheres Sein“ zu, nämlich ein „wahres, unveränderliches, ewiges Sein“.

Wir können die Ideen zwar mit unserem „geistigen Auge“ erkennen, sie existieren aber nicht in der normalen Erscheinungswelt. So unterscheidet Platon scharf zwischen einer geistig-ideellen Welt der Wahrheit und es unvergänglichen Seins auf der einen Seite und der uns bekannten herkömmlichen Welt auf der anderen Seite, die im ständigen Werden und Vergehen begriffen ist und die für sich keine zuverlässige Erkenntnis zulässt.

Was er sich hierbei genau vorstellt, ist schwer zu sagen. Der einzige Erklärungsansatz, der mir sinnvoll erscheint, ist, dass Platon ähnlich dachte wie Parmenides: dass Erkennbarkeit und Sein korrespondieren. Dementsprechend sind die Ideen deswegen realer, haben „mehr Sein“ als die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, weil die Ideen der sicheren Erkenntnis zugänglich sind, wohingegen die sinnlichen Dinge nur unsichere Meinungen zulassen. So schreibt er in der Politeia[8], „dass das vollkommen Seiende auch vollkommen erkennbar ist.“ Und: „Die Erkenntnis bezieht sich auf das Seiende.“

Gemäß dieser Zwei-Welten-Lehre ist der Mensch ein Wesen, das beiden Welten angehört. Mit seinem Köper gehört der Welt des Werdens und Vergehens an, mit seiner unsterblichen Seele hat er teil an der Ideenwelt. Vor der Geburt kann die Seele die Ideen direkt schauen, vergisst sie aber, sobald sie sich bei der Geburt mit einem Körper vereint. Alles Erkennen ist somit Wiedererinnerung an eine Idee, die man vorgeburtlich geschaut hat.

Außerdem behauptet er, dass die konkreten Dinge nur wegen der Ideen sind. Die Ideen sind also Ursachen dafür, dass die konkreten Dinge existieren. Wie gesagt, ich wüsste nicht, wie man sich das genau vorstellen soll, dementsprechend umstritten war diese Ontologie der Ideen bereits in der Antike.

c) Ideen als Normen und Idee des Guten

Nach Platon haben die Idee auch eine normative Funktion. Auch das möchte ich an einem geometrischen Beispiel erklären. Ich kann einen Kreis entweder a) schlampig, freihändig zeichnen oder b) sehr sorgfältig mit einem Zirkel. Der Kreis a) wird dann weniger dem idealen Kreis entsprechen, man wird wohl gerade noch erkennen können, dass es ein Kreis sein soll, er wird aber ein schlechter Kreis sein. Der Kreis b) hingegen wird dem Ideal näher kommen und insofern zumindest ein besserer Kreis im Vergleich zu a) sein. Wir sagen: „das ist ein guter Kreis“, und meinen, dass er dem idealen Kreis ziemlich nahe kommt.

Ähnlich könnte man sagen: „das ist ein gutes Kunstwerk“, weil es dem Ideal der Schönheit nahe kommt; oder „dieser Mensch ist gut“, weil er dem Tugendideal nahe kommt.

Somit ist jedes konkrete Ding bzw. jeder konkrete Mensch umso mehr gut bezogen auf eine bestimmte Idee, je mehr dieses Ding bzw. dieser Mensch dieser Idee entspricht. Auf diese Weise kann man sagen, dass die Idee des Guten über jeder anderen Idee steht. Insofern jede Idee als normativer Maßstab dienen kann, ist jede Idee ein Kriterium, dafür ob etwas gut ist oder nicht.

[1] Textstellen, bei denen die Ideenlehre erwähnt werden sind: Phaidon, 65d ff, 72-77a, 78b-80b, 95e-107a; Euthyphron, 5d-6e; Menon, 81a-86b; Kratylos 389b, 439c-e; Phaidron, 246a-249d; Parmenides, 130c-134e; Symposion, 209e-212a, Politeia, 475e-479d, 502c-518b, 595c-597e ; Timaios, 27d-40d, 49c-d, 51c-52a; Sophistes, 248a ff; Philebos, 59c, 62a-b; Nomoi, 965c.

[2] Platon, Phaidon, 83a.

[3] Platon, Politeia, 479a – 480a.

[4] Platon, Politeia, 471c und 472d.

[5] Politeia 511b.

[6] Zitiert nach Knoll [35], S. 195.

[7] Platon, Phaidon, 82a f.

[8] Platon, Politeia 477a.

1 Kommentar
  1. Hans sagte:

    “Außerdem behauptet er, dass die konkreten Dinge nur wegen der Ideen sind. Die Ideen sind also Ursachen dafür, dass die konkreten Dinge existieren. Wie gesagt, ich wüsste nicht, wie man sich das genau vorstellen soll, dementsprechend umstritten war diese Ontologie der Ideen bereits in der Antike.”
    Das ist für mich nicht so schwer vorstellbar, die Idee ist für mich der Anfang, so wie der Architekt die Idee des Hauses braucht und dann erst kann das Haus entsteht. Ohne Idee kein Haus.
    Die Mathematik ist ein direkter Ausdruck einer geistigen Idee und die geistige Idee ist immer eine Wahrheit. Wahrheit definiert ich damit, das es jetzt so ist, immer so war und auch immer so sein wird. Sowie auch das Ideal als geistige Idee nicht einen Hauch von Makel anlastet. Der Makel kommt erst durch den physischen Ausdruck dazu, denn sobald etwas physisch wird, ist es nicht mehr das rein Geistige, die geistige Idee oder das Ideal und nicht mehr rein. Das Ideal z.B. das Idealbild der Schönheit ist nur schön. Je besser oder klarer der Künstler in diesem Ideal lebt, umso mehr wird das Kunstwerk ein Abbild der Schönheit. Michelangelo hat sehr exakt in diesem Ideal der Schönheit gearbeitet, als er z.B. die Venus von Milo erschaffen hat, aber die reine Schönheit ist der physische Abdruck nicht ganz genau. Das ist bei der Mathematik anders, der Satz des Pythagoras ist immer ein Ausdruck von schönheit oder auch Wahrheit, auch wenn ich ihn in einem Dreieck zeichne. Da muss halt unterschieden werden zwischen unseren menschlichen Ideen und den kosmischen-geistigen, die im Unterschied dazu als Ideale bezeichnet werden könnten.

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