Pierre Duhem
Pierre Duhem (1861-1916) studierte Physik. Mit seiner Dissertation legte er einen Grundstein für die im Entstehen begriffene Physikalische Chemie. Von 1895 bis zu seinem Tode war er Professor für theoretische Physik in Bordeaux.
Ein von ihm verfasstes Lehrbuch über Thermodynamik und Strömungslehre wurde noch bis ins Jahr 1961 neu aufgelegt. Duhem war ein Pionier im Bereich Wissenschaftsgeschichte. Sorgfältig studierte er naturphilosophische Schriften des Mittelalters und der Renaissance. In diesem Zusammenhang entstanden unter anderem:
- L’évolution de la mécanique (1903)
- Seine monumentale Darstellung der Geschichte der Astronomie: Système du monde (ab 1913)
Sein wissenschaftstheoretisches Hauptwerk ist:
- La Théorie Physique, son Objet et sa Structure, zunächst kapitelweise veröffentlicht zwischen 1904 und 1905. 1908 ins Deutsche übersetzt mit dem Titel: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Felix Meiner Verlag, 1998. Nachfolgend kurz Ziel und Struktur
In der Einleitung zur deutschen Übersetzung schreibt Lothar Schäfer, dass Duhems Buch bis heute als einer der wichtigsten klassischen Werke der modernen Wissenschaftstheorie gelten darf. Diesem Urteil schließe ich mich uneingeschränkt an. Obwohl er die neuen Entwicklungen in der Relativitätstheorie und der Quantenphysik nicht mehr nachvollzog, ist er einer der ersten, der ein bestimmtes modernes Wissenschaftsverständnis zum Ausdruck gebracht hat, das meiner Einschätzung nach die Mehrheit der Naturwissenschaftler heute vertreten.
Duhems Analysen halte ich vor allem deswegen für sehr überzeugend, weil er aus der gelebten Praxis eines Physikers kommt. Es sind also keine „von außen“ ersonnen Theorien, wie Naturwissenschaft vermeintlich funktioniert, von einem Philosophen, der selbst niemals naturwissenschaftlich geforscht hat, sondern Einsichten eines echten Insiders. Einsichten, die durch seine umfassenden wissenschaftshistorischen Kenntnisse noch untermauert werden.
Physikalische Theorien bestehen aus a) einem erklärenden Teil und b) einem mathematischen Teil
Duhem behandelt physikalische Theorien nicht als abstrakt-logische Konstrukte, sondern als historische Phänomene. Wenn wir in die Geschichte schauen, dann haben wir unzählige Beispiele derartiger Theorien, wie sie entstanden sind, welchen Disputen sie ausgesetzt waren und häufig auch, wie sie durch andere Theorien ersetzt worden sind. Beispiele dafür sind:
- Die aristotelische Naturphilosophie
- Die ptolemäische Astronomie
- Die magnetische Naturphilosophie von Nikolaus Cabeo (1629)
- Keplers Theorie der elliptischen Planetenbahnen
- Galileis Physik
- Die Cartesische Naturphilosophie
- Die Cartesische Optik
- Huygens‘ Lichttheorie
- Newtons Mechanik (1687)
- Newtons Lichttheorie
- Die physikalischen Überlegungen von Leibniz
- Fresnels Lichttheorie
- Gasgesetze von Mariotte
- Ampères Theorie des Elektromagnetismus
- Maxwells elektromagnetische Feldtheorie.
Duhem analysiert all diese physikalischen Theorien und gelangt zu der Erkenntnis, dass man bei all diesen Theorien a) einen erklärenden Teil und b) einen mathematisch-beschreibenden Teil unterscheiden kann[1]. Wobei es auch vorkommen kann, dass eine Theorie nur erklärend ist ohne einen mathematischen Anhang, wie z.B. die aristotelische Naturphilosophie, während eine andere Theorie nur mathematisch ohne Erklärungen ist, wie z.B. die ptolemäische Astronomie.
Der erklärende Teil einer Theorie versucht Erkenntnisse über die realen Dinge selbst zu vermitteln[2]:
„Erklären […] heißt die Wirklichkeit aus den Erscheinungen, die sie wie ein Schleier umhüllen, herausschälen, um diese Wirklichkeit nackt von Angesicht zu Angesicht zu sehen.“
Aristoteles z.B. erklärte sich die Natur der Dinge dadurch, dass sie sich aus Materie und Form zusammensetzen. Kepler erklärte sich die Planetenbewegungen durch eine Art Magnetismus. Newton erklärte sich die Eigenschaften des Lichtes dadurch, dass er es als ein Bündel von Lichtteilchen auffasste, die dem Gravitationsgesetz unterliegen. Huygens hingegen begriff das Licht als Wellen. Descartes sah die Welt als eine einzige zusammenhängende Materie, in der sich an verschiedenen Stellen Wirbel gebildet haben.
All dies sind Beispiele dafür, wie sich jemand ein Bild darüber gemacht hat, wie die Dinge selbst beschaffen sind, um die Wirklichkeit zu erklären, so wie sie an sich ist. Typischerweise wollen sie uns sagen, was den physikalischen Erscheinungen zugrunde liegt, uns Einsichten in das Wesen der Natur geben. Duhem behauptet, dass es sich hierbei letztlich um Metaphysik handelt.
Dem gegenüber besteht der mathematische Teil einer physikalischen Theorie aus einem „System mathematischer Lehrsätze, die aus einer kleinen Zahl von Prinzipien abgeleitet werden und den Zweck haben, „eine zusammengehörige Gruppe experimenteller Gesetze ebenso einfach, wie vollständig und genau darzustellen“[3].
Dieses System mathematischer Lehrsätze hat nicht den Anspruch, die Wirklichkeit selbst zu erklären. Sie geht nicht in die Tiefe, sondern bleibt sozusagen an der Oberfläche, indem sie versucht, die physikalischen Erscheinungen quantitativ zu erfassen und ihre Zusammenhänge mathematisch so präzise wie möglich zu beschreiben.
Man kann sich fragen, wie das Verhältnis zwischen dem erklärenden und dem mathematischen Teil einer Theorie ist. Rein logisch betrachtet, können beide Teile unabhängig voneinander bestehen. Jedenfalls muss der mathematische Teil nicht aus dem erklärenden Teil abgeleitet werden. Bezogen auf den mathematischen Teil hat der erklärende Teil häufig vor allem eine heuristische Funktion. Z.B. führt die Idee, dass Licht sich wie Wellen verhält, zu bestimmten mathematischen Gleichungen, aber nicht im Sinne einer logischen Ableitung, sondern eher im Sinne einer Motivation. Dies brachte bereits Poincaré dazu, von indifferenten, metaphorischen Hypothesen zu sprechen, die zwar versuchen, das Wesen der Dinge zu erklären, für die Wahrheit oder Falschheit einer physikalischen Theorie gleichgültig sind, und von denen er die mathematisch formulierten Prinzipien und Gesetze unterscheidet.
Duhem analysiert nicht nur, er wertet auch. Seiner Meinung nach handelt es bei dem erklärenden Teil, wie gesagt, letztlich um eine Art Metaphysik. Wenn es in der Vergangenheit zu unfruchtbaren Kontroversen gekommen ist, dann fast immer, weil verschiedene naturphilosophische Schulen sich die Realität anders erklärten. Die Cartesianer bestanden darauf, dass das Wesen der Dinge darin besteht, ausgedehnt zu sein, und sich somit alles auf Geometrie zurückführen lassen müsste, was Newton und Leibniz ablehnten. Die Newtonianer erklärten sich die Welt mittels der fernwirkenden Schwerkraft, was vielen anderen Zeitgenossen absurd erschien. Merkwürdigerweise konnten sie sich aber ohne Weiteres einigen, sobald es um die mathematische Beschreibung der physikalischen Erscheinungen ging. Kaum bewegte man sich im mathematischen Bereich der Physik, spielten die Zugehörigkeiten zu bestimmten Schulen keine Rolle mehr.
Ähnlich gab es verschiedenste Versuche, sich die tiefere Ursache des Magnetismus zu erklären, und je nachdem welcher Denkschule man angehörte, gab es heftigen, endlosen Streit. Ging es aber nur um die mathematische Beschreibung des Magnetismus, dann herrschte weitegehende Einigkeit.
Historisch betrachtet ist es auffällig, dass es beim erklärenden Teil ein reges Kommen und Gehen gibt, während der mathematische Teil der Theorien bis heute von relativem Bestand ist[4]:
„Wenn die Fortschritte der experimentellen Physik eine Theorie umstoßen, wenn sie erfordern, dass sie geändert oder umgewandelt werde, geht der rein beschreibende [mathematische] Teil fast vollständig in die neue Theorie über, […] während der erklärende Teil wegfällt, um einer anderen Erklärung Platz zu machen.“
Hier z.B. eine verkürzte, schematische Darstellung zu den Licht-Theorien von Newton bis Einstein:
Physiker | Erklärung der Natur des Lichts | Mathematische Beschreibung |
Newton im 17. Jh. | Lichtstrahlen bestehen aus kleinen Körpern | Brechungsgesetze beim Eintritt des Lichts in ein anderes Medium |
Young/Fresnel, Maxwell
im 19. Jh. |
Licht sind Wellen im Äther | Regeln über die Interferenz von Licht, Maxwell-Gleichungen |
Einstein im 20. Jh. | Licht ist ein Strom von Energiequanten | Relativitätstheorie |
Heutige Physiker halten Newtons oder Fresnels Erklärungen des Lichts in der Regel für eher kurios. Die mathematisch formulierten Brechungsgesetze Newtons aber oder Fresnels Interferenzregeln können heute noch verwendet werden. Der erklärende Teil einer physikalischen Theorie ist also das Unbeständige, Wandelbare, Strittige, der mathematische Teil hingegen das Beständige, Unstrittige. Wobei ich hier ein wenig überzeichne. Denn selbstverständlich gibt es auch im mathematischen Bereich der Physik einen Wandel. Zusammenhänge werden präziser beschrieben, erweitert oder in einen allgemeineren Rahmen gestellt. Dennoch kann man beispielsweise noch heute mittels der ptolemäischen Astronomie die Planetenbahnen mit einer gewissen Fehlertoleranz vorausberechnen. Und trotz Einstein wird bis heute noch mit der klassischen Newtonschen Mechanik gerechnet, solange man es jedenfalls nicht mit sehr großen Geschwindigkeiten zu tun hat.
Auch wenn in der Geschichte die meisten physikalischen Theorien sowohl einen erklärenden als auch einen mathematischen Teil hatten, sagt Duhem, dass man eigentlich den erklärenden Teil ersatzlos streichen könnte.
Nun ist Duhem sicherlich kein Skeptiker in dem Sinne, dass er meint, eine an sich bestehende Realität würde gar nicht existieren. Vielmehr glaubt er, dass wir alleine durch den Fortschritt unserer mathematisch-beschreibenden Theorien die Dinge an sich approximieren können[5]:
„So gibt uns die physikalische Theorie niemals eine Erklärung der experimentellen Gesetzmäßigkeiten, niemals enthüllt sie uns die Realität, die sich hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen verbergen. Aber je mehr sie sich vervollkommnet, um so mehr ahnen wir, dass die logische Ordnung in der sich die Erfahrungstatsachen darstellt, der Reflex einer ontologischen Ordnung sei.“
Nach Duhem wird eine mathematische physikalischen Theorie durch folgende Schritte charakterisiert[7]:
- Definition physikalischer Größen und Festlegung geeigneter Messmethoden.
- Aufstellung von hypothetischen Prinzipien, durch die die physikalischen Größen miteinander in Beziehung gesetzt werden.
- Mathematische Entwicklung der Theorie, indem verschiedene Konsequenzen aus den Prinzipien mathematisch deduziert werden.
- Vergleich der abgeleiteten Konsequenzen mit den Ergebnissen verschiedener Experimente.
Nachfolgend erörtere ich diese vier Punkte.
1. Definition physikalischer Größen und Festlegung geeigneter Messmethoden
Die Grundvoraussetzung dafür, eine mathematisch-physikalische Theorie aufzustellen, ist die Mathematisierung bzw. Quantifizierung der Natur. Jede relevante physikalische Eigenschaft muss, wie Duhem sich ausdrückt, durch ein numerisches Symbol ausdrückbar sein. Man könnte auch sagen: Jede Eigenschaft muss in eine Zahl übersetzbar sein.
Duhem sieht den historischen Anfang dieser Mathematisierung der Natur bei Descartes. Gemäß der cartesischen Physik besteht das Wesen der Materie darin, nicht Qualitäten wie Härte, Schwere, Wärme oder ähnliche Qualitäten zu haben, sondern darin, ausgedehnt nach Länge, Breite und Tiefe zu sein. Descartes lehnte die alte aristotelische Definition von Bewegung ab. Stattdessen fasste er Geschwindigkeit rein quantitativ als zurückgelegten Weg pro Zeiteinheit auf. Die Bewegungsquantität eines Materieteilchens (wir würden heute von Impuls sprechen) ist das Volumen dieses Teilchens multipliziert mit seiner Geschwindigkeit. Für ein System von Materieteilchen postulierte Descartes, dass die Summe ihrer Bewegungsquantitäten jederzeit konstant bleibt.
Dennoch gibt es einen signifikanten Unterschied. Descartes erhebt den Anspruch, mit der Mathematisierung der Natur eine Erkenntnis über das Wesen der Realität, wie sie an sich ist, gewonnen zu haben. Duhems These hingegen ist bescheidener[8]. Er will keine Wesensaussage über die Dinge selbst machen, so schreibt er:
„Die theoretische Physik erfasst nicht die Realität der Dinge, sie beschränkt sich darauf, die wahrnehmbaren Erscheinungen durch Zeichen, durch Symbole darzustellen“[9]
Er beschränkt sich also auf die Behauptung, dass eine physikalische Theorie nur die physikalischen Phänomene in eine mathematische Sprache übersetzen, ohne Anspruch darauf, gewissermaßen einen Blick in die Realität selbst werfen zu können. Diese Übersetzung geschieht mittels geeigneter Messverfahren.
Physikalisches Phänomen | Messverfahren |
Strecke zwischen zwei Gegenständen | Meterstab; Laser-Entfernungsmesser; die Zeit, die das Licht von A nach B benötigt |
Zeit | Sanduhr; Wasseruhr; Pendeluhr; Quarzuhr; Atomuhr |
Ortsbestimmung einer astronomischen Erscheinung | Teleskop; Radioteleskop |
Gewicht | Balkenwaage; Federwaage |
Temperatur | Quecksilberthermometer; Infrarotthermometer |
Elektrischer Strom | Hitzdrahtmesswerk; Drehpulsmesswerk; digitale Strommessgeräte |
Magnetismus | Gaussmeter, Faraday-Magnetometer, Kerr-Magnetometer |
Druck | Kolbenmanometer, Flüssigkeitsmanometer (z.B. mit Quecksilber); Membranmanometer |
Die jeweilige Messmethode hilft uns dabei, einem physikalischen Phänomen eine Zahl zuzuordnen. Duhem spricht hier auch von numerischen Symbolen. Nehmen wir an, wie möchten die Zeit messen, die eine Kugel benötigt, um von einer schiefen Ebene langsam herunterzurollen. Dazu verwenden wir eine Wasseruhr der Art, wie sie Galilei verwendet hat. Sobald die Kugel anfängt zu rollen, wird Wasser stetig in einen Behälter gelassen, solange bis die Kugel unten angekommen ist. Die Zeit wird auf diese Weise quantifiziert mittels der Menge Wasser, die inzwischen in den Behälter geflossen ist. Und diese Menge wiederum kann man sehr gut in der Volumeneinheit Milliliter (ml) angeben. So könnte man sagen: Die Zeit hat 17 ml gedauert. So kann man jeder Zeitperiode ein numerisches Symbol der Form „x ml“ zuordnen. Die Zeit wird sozusagen in ml übersetzt.
Duhem macht nun folgende interessante Bemerkungen:
„Diese mathematischen Symbole haben mit den Eigenschaften, die sie repräsentieren, von Natur aus keine Beziehung. Ihre einzige Beziehung ist die des Zeichens zu dem Bezeichneten.“ [10]
„Die symbolischen Ausdrücke […] sind nicht derartige Abstraktionen, die spontan aus der konkreten Realität hervorgehen; sie sind Abstraktionen, die aus einer langen, komplizierten, bewussten hundertjährigen Arbeit, die die physikalischen Theorien schuf, hervorgingen.“ [11]
„[…] die Symbole […] [sind] zu einfach, um die Wirklichkeit vollständig darzustellen. Immer treten Umstände auf, in denen das Symbol den konkreten Dingen nicht mehr genügt.“ [12]
Das heißt, Duhem identifiziert das physikalische Phänomen nicht mit der gemessenen Größe, wie es Galilei und Descartes taten. Stattdessen betont er den Unterschied. Das numerische Symbol ist nur eine mehr oder weniger vollkommene Repräsentation.
Als die moderne mathematische Physik im Entstehen begriffen war, verwendete Galilei für seine astronomischen Beobachtungen erstmals das Teleskop. Bis dahin hatte man die Sterne nur mit dem bloßen Auge beobachtet. Die Gegner Galileis warfen ihm vor, dass man einem solchen Instrument nicht trauen könne, und dass wahre Wissenschaft alleine durch direkte Sinneswahrnehmung zustande kommen würde. Wie wir heute wissen, unterliefen ihm tatsächlich Fehler, weil er nicht den verzerrenden Einfluss der Atmosphäre berücksichtigte. Dies veranschaulicht die Behauptung Duhems, dass man sehr aufpassen muss und nicht das physikalische Phänomen mit den gemessenen Daten gleichsetzen darf.
Dennoch war Galilei natürlich auch aus Sicht Duhems auf dem richtigen Weg. Denn eine mathematisch ausgerichtete Physik ist nur möglich, wenn man versucht, die Welt der Erscheinungen mittels Messverfahren in eine mathematische Sprache zu übersetzen, selbst wenn diese Übersetzung nicht vollkommen ist und mit Tücken behaftet ist. Jedenfalls ist eine solche Übersetzung einer der Voraussetzungen für die Ausbildung physikalischer Theorien.
Paradoxerweise ist aber auch das Messverfahren selbst nur durchführbar, sofern man bestimmter theoretischer Annahmen macht. Bei Galileis Wasseruhr ist es die simple Annahme, dass zwei Zeiteinheiten gleich sind, wenn die bei konstantem Wasserdruck jeweils austretenden Wassermengen gleich sind. Dies ist höchstwahrscheinlich richtig, aber eine theoretische Hypothese ist es dennoch. Offenbar steckt umso mehr Theorie in einem Messverfahren, je komplexer es ist. Bezogen auf die Messung des von einem Gas ausgeübten Druckes schreibt Duhem:
„Um [die Größe des ausgeübten Druckes] zu definieren, um sie auszuwerten, musste man so heikle, so schwer erlangbare Begriffe, wie den des Druckes und der Adhäsion verwenden. Man musste die von Laplace angegebene Formel für barometrische Höhenmessung, die aus den Gesetzen der Hydrostatik abgeleitet ist, zu Hilfe nehmen, man musste das Gesetz der Kompressibilität des Quecksilbers, dessen Bestimmung an die heikelsten und meist umstrittenen Fragen der Elastizitätstheorie geknüpft ist, in Betracht ziehen.“[13]
Oder wenn man die Stromstärke mithilfe eines Amperemeters bestimmen will, dann ist das nur legitim, sofern man bestimmte elektromagnetische Gesetzmäßigkeiten als gültig voraussetzt.
Zusammengefasst kann man eine physikalische Größe so charakterisieren:
- Eine physikalische Größe ist ein numerisches Symbol, das eine reale physikalische Eigenschaft repräsentieren soll und durch ein Messverfahren bestimmt wird.
- Das Messverfahren ist niemals 100%ig vollkommen, es ist immer mit Messfehlern verbunden, so dass die physikalische Größe die reale Eigenschaft nur mehr oder weniger, aber nie vollkommen repräsentiert.
- Das Messverfahren ist keine reine Beobachtung, sondern immer auch schon theoriebehaftet.
2. Physikalische Gesetze und Prinzipien
Nachdem bestimmte physikalische Eigenschaften mittels Messverfahren in numerische Symbole übersetzt werden können, werden diese Symbole zueinander in Relation gesetzt. So erhält man mathematische Gleichungen, die man auch physikalische Gesetze nennt.
Da die physikalischen Größen nicht identisch sind mit den realen physikalischen Eigenschaften, trifft auch ein Gesetz, das ja nur von den Größen handeln kann, nicht die realen Beziehungen der Dinge selbst. So wie die Messung der Größen immer mit Messfehlern behaftet ist, ist nicht zu erwarten, dass die Gesetze vollkommen sind. Vielmehr sind sie bestenfalls Approximationen der Wirklichkeit.
Dies zu Ende gedacht gelangt man zu dem, was später die Duhem-Quine-These genannt werden wird: Das ist die Behauptung, dass Theorien durch die Beobachtungsdaten unterbestimmt sind. Damit ist folgendes gemeint. Gehen wir von einer Reihe von beobachteten Messdaten aus, dann können die „wahren“ Werte innerhalb einer gewissen Fehlertoleranz liegen:
Will man hieraus ein allgemeines Gesetz ablesen, so bietet sich z.B. die folgende Interpolation an:
Diese lineare Interpolation liegt erstens möglichst nah an den Messdaten und sie ist zweitens sehr einfach. Duhem bemerkt mit Recht, dass eine solche Einfachheit zwar für uns sehr bequem ist, wir aber trotzdem keinen Hinweis darauf haben, dass es sich um das „wahre“ Gesetz handelt, so wie es an sich in der Natur besteht. Warum sollte das Gesetz nicht einer der folgenden Gleichungen sein?
- y=0,251 × x
- y = 0,002 + 0,249 × x
- y = 0,003 + 0,248 × x (etc.)
All diese Formeln liefern Kurven, die auch innerhalb der Fehlertoleranz laufen. Möglich ist sogar eine quadratische Gleichung:
Der einzige Grund, der uns dazu bewegt, zunächst von der erstgenannten Interpolation auszugehen und nicht etwa von dieser quadratischen Gleichung, sind Argumente wie „mathematische Einfachheit“ oder „dass es so besser zu den Messdaten passt“. Das sind aber rein subjektive Kriterien. Und warum sollte sich die Natur danach richten, was uns hübsch erscheint? Sofern jedenfalls die Messfehlertoleranz beachtet wird, gibt es offenbar unendlich viele Formeln als Kandidaten für das an sich wahre Naturgesetz. Und genau das ist mit der Duhem-Quine-These gemeint: Sind bestimmte Beobachtungsdaten gegeben, so sind dafür unendlich viele passende Theorien denkbar, sofern man die Messfehlertoleranz berücksichtigt, die es ja immer gibt.
Die einzige Weise, unsere Formel näher an die Realität zu bringen, besteht darin, unser Messverfahren so zu verbessern, dass die Messfehlertoleranz geringer wird. Je geringer sie ist, umso besser können wir das gesuchte Gesetz approximieren. Aber selbst wenn wir uns über die Maßen anstrengen: Messungen werden nie so genau sein, dass die Messfehlertoleranz bei Null liegt. Und die geringste Messfehlertoleranz genügt, um mathematisch bereits unendlich viele mögliche Kandidaten für die „wahre“ Formel zu bekommen. Deswegen ist die theoretische Formel, für die wir uns entscheiden, nicht durch die Messdaten selbst bestimmt. Die Theorie ist vielmehr, wie man auch sagt, durch die Beobachtungsdaten immer unterbestimmt. Duhem selbst drückt sich wie folgt aus, wobei er mit „symbolischen Urteil“ die vermutete mathematische Gleichung meint:
„Einer gegebenen Tatsache lässt die experimentelle Methode […] nicht nur ein einziges symbolisches Urteil, sondern eine Unzahl symbolischer Urteile entsprechen. Der Grad der Unbestimmtheit des Symboles ist die Fehlergrenze des in Frage stehenden Experimentes. […] Die Unbestimmtheit des Symbols, die jeder Tatsache entspricht, bringt daher die Unbestimmtheit der Formel, die alle diese Symbole umfassen soll, mit sich. Der gleichen Gruppe von Tatsachen kann man eine Unzahl verschiedener Formeln, eine Unzahl verschiedener Gesetze entsprechen lassen.“[14]
Eine Konsequenz daraus ist, dass jedes Gesetz, wie gut es auch immer zu unseren Beobachtungsdaten passt, erstens immer hypothetisch bzw. provisorisch bleiben muss. Das heißt, bei jedem Gesetz ist jederzeit mit seiner Falsifikation zu rechnen. Daraus leitet Duhem auch den Fortschritt in der Physik ab als eine andauernde Falsifikation von Gesetzen und Theorien, die dann aber zu einer verbesserten Approximation an die letztlich nie erreichbare Realität führt. Duhem schreibt:
„Jedem Gesetz, das die Physik formulieren wird, wird die Wirklichkeit früher oder später die rücksichtslose Widerlegung durch eine Tatsache entgegenstellen. Aber unermüdlich wird die Physik das widerlegte Gesetz verbessern, modifizieren und verwickelter machen, und es so durch ein umfassenderes Gesetz ersetzen […]. In diesem unaufhörlichen Kampf […] besteht der Fortschritt der Physik. […] Die Physik macht Fortschritte, weil das Experiment ohne Unterlass neue Widersprüche zwischen den Gesetzen und Tatsachen hervortreten lässt […].“[15]
Das bedeutet natürlich auch, dass ein Gesetz bzw. eine Theorie niemals vollständig verifizierbar ist, da es jederzeit zu einer experimentellen Widerlegung kommen kann.
Eine weitere Konsequenz aus dem Gesagten ist, dass jedem Gesetz etwas Beliebiges anhaftet; jedenfalls kann man nicht davon ausgehen, dass es durch sich selbst evident und einsichtig ist. In einem Kapitel kritisiert Duhem, dass Ampère nur auf der Basis weniger Experimente seine elektrodynamische Theorie mithilfe intuitiver Vernunfteinsicht aufgestellt hat:
„Bei so wenig genauen Experimenten bleibt dem Physiker die Sorge überlassen, unter einer Unzahl gleich gut möglicher symbolischer Übersetzungen zu wählen. Sie bedingen keineswegs eine bestimmte Wahl und sie verleihen dieser auch keine Gewissheit. Einzig die Intuition […] leitet die Wahl. Diese Rolle der Intuition ist besonders in dem Werke Ampères wichtig. Es genügt die Schriften dieses großen Mathematikers durchzublättern, um zu erkennen, dass seine fundamentale Formel der Elektrodynamik vollständig durch eine Art Sehergabe gefunden wurde.“[16]
Zusammengefasst kann man jedes Gesetz wie folgt charakterisieren:
- Ein Gesetz beschreibt nicht die realen Relationen oder Eigenschaften, wie sie die Dinge an sich selbst haben; ein Gesetz ist immer eine Approximation an die tatsächliche Realität.
- Ein Gesetz ist durch die Beobachtungsdaten niemals eindeutig bestimmt.
- Jedes Gesetz ist hypothetisch bzw. provisorisch.
- Jedem Gesetz haftet etwas willkürlich Beliebiges an, ist jedenfalls nicht durch sich selbst evident.
Nun sind empirisch gewonnene Gesetze nach Duhem nur der erste Schritt zur Theoriebildung. In der Physik versucht man ein paar wenige Prinzipien zu finden, die derart allgemein sind, dass eine große Anzahl von Gesetzen daraus abgeleitet werden können. Ein Beispiel dafür ist die Newtonsche Mechanik. Aus den Prinzipien der Trägheit, F=ma, actio=reactio sowie dem Gravitationsgesetz gelingt es Newton, die Planetenbahnen zu berechnen, die Fallgesetze herzuleiten, Ebbe und Flut zu erklären und vieles mehr. Nach Duhem (S. 23) ist „eine derartige Kondensation einer Menge von Gesetzen in eine kleine Zahl von Prinzipien […] eine ungeheure Erleichterung für den menschlichen Verstand […].“
Die oben genannten vier Charakteristika von physikalischen Gesetzen lassen sich auch auf die Prinzipien übertragen. Insbesondere hält Duhem Prinzipien immer für hypothetisch bzw. provisorisch, sie haben keinen Anspruch, einen direkten Bezug zur Realität zu haben und sie haben immer etwas Willkürliches an sich. Somit entfernt sich Duhem von dem traditionellen Wissenschaftsverständnis, bei dem die grundlegenden Prinzipien, aus denen alles Weitere abgeleitet wird, als unumstößlich gewisse Axiome gelten, die deswegen angeblich einen Blick in die Struktur der Wirklichkeit selbst erlauben, weil sie der Vernunfteinsicht evident sind, und insofern sicher nicht willkürlich sind.
3. Mathematische Entwicklung der Theorie
Eine physikalische Theorie besteht nach Duhem zunächst aus mathematischen obersten Prinzipien, die eine Reihe empirische gewonnener Gesetze verallgemeinern. Diese Prinzipien sind hypothetisch und können „in willkürlicher Weise formuliert“[17] werden. Auf ihrer Basis wird dann die Theorie entwickelt, indem eine Reihe von Lehrsätzen mathematisch deduziert werden, zu denen auch die genannten Gesetze gehören. Die formale Mindestanforderung ist, dass kein Widerspruch herleitbar ist.
Duhem hält es für einen Irrtum zu glauben, dass den mathematischen Deduktionen bei der Entwicklung einer physikalischen Theorie irgendeinen physikalischen Sinn hätten[18]. Rechenoperationen sind eben nichts weiter als Rechenoperationen und man muss sie nicht physikalisch interpretieren.
4, Vergleich der abgeleiteten Konsequenzen mit den Ergebnissen verschiedener Experimente.
Gemäß dem traditionellen Wissenschaftsverständnis ist eine Theorie wahr, wenn sie aus einer Gruppe von Prinzipien abgeleitet wird, von denen die Vernunft jedes Prinzip einzeln für sich intuitiv als gültig erkennt. Ein Hilfsmittel für eine solche Vernunfteinsicht ist die (aristotelische) Induktion, bei der anhand von ein paar konkreten Beispielen die Gültigkeit des Prinzips veranschaulicht wird. Aber eigentlich wird die Wahrheit im theoretischen System von oben nach unten weitergegeben.
Nach Duhem hingegen kann die Wahrheit einer physikalischen Theorie niemals auf diese Weise zustande kommen. Vielmehr sagt er[19]: „Die Übereinstimmung mit der Erfahrung ist das einzige Kriterium der Wahrheit für eine physikalische Theorie.“ Demnach steigt die Wahrheit sozusagen von unten nach oben auf.
Wie vergleicht man aber eine physikalische Theorie mit der Erfahrung? – Da Duhem ein physikalisches Gesetz immer als hypothetisch und provisorisch auffasst, kann es letztendlich nicht verifiziert werden, weder durch Vernunfteinsicht noch durch eine große Menge empirischer Belege. Vielmehr ist es durch Erfahrung höchstens falsifizierbar. Das empirische Kriterium der Wahrheit ist somit immer nur negativ-widerlegend, niemals positiv-bestätigend.
Nehmen wir nun an, ein Physiker beabsichtigt, ein physikalisches Gesetz zu widerlegen, wie geht er vor? Er wird der Meinung sein, dass unter bestimmten Bedingungen das Gesetz falsche Voraussagen macht. Um dies zu belegen, wird er sich eine Versuchsanordnung ausdenken, bei der diese Bedingungen erfüllt sind, die fragliche Voraussage aber nicht eintreten wird. Dies wäre eine Form der experimentellen Widerlegung.
Nehmen wir nun an, dass der Physiker ein solches Experiment macht, das zu einem Ergebnis kommt, das im Widerspruch zur gemachten Voraussage steht. Das Problem ist nur, dass der Fehler möglicherweise gar nicht in dem fraglichen Gesetz liegt, sondern irgendwo anders. Duhem schreibt[20]:
„Ein Physiker will die Unrichtigkeit eines Lehrsatzes [d.h. eines Gesetzes] erweisen. Um aus diesem Lehrsatz eine zu erwartende Erscheinung abzuleiten, um das Experiment, das zeigen soll, ob diese Erscheinung eintritt oder nicht, anzuordnen, um die Resultate des Experiments zu interpretieren und um zu konstatieren, ob die erwartete Erscheinung aufgetreten sei, kann er sich nicht auf die Anwendung des Lehrsatzes beschränken. Er wendet noch eine ganze Gruppe von Theorien an, die von ihm nicht in Frage gestellt sind. Das Auftreten oder Nichtauftreten der Erscheinung, das die Debatte entscheiden soll, ergibt sich nicht aus dem strittigen Lehrsatz allein, sondern aus der Verbindung desselben mit einer ganzen Gruppe von Theorien. Wenn die erwartete Erscheinung nicht auftritt, wird nicht nur der einige strittige Lehrsatz widerlegt, sondern das ganze theoretische Gerüst, von dem der Physiker Gebrauch gemacht hat. Das Experiment lehrt uns bloß, dass unter allen Lehrsätzen, die dazu gedient haben, die Erscheinung vorauszusagen und zu konstatieren, dass sie nicht auftritt, mindestens einer ein Irrtum ist.“
Es ist eben nicht so, dass aus dem Gesetz G direkt die Voraussage B hergeleitet wird, für die man experimentell \( \neg B \) nachgewiesen hat. Vielmehr werden außer G eine ganze Reihe von weiteren Hypothesen verwendet, nennen wir sie \( A_1, …, A_n \). Das können weitere theoretische Prinzipien oder Gesetze sein, die man zur mathematischen Herleitung von B benötigt, aber auch Gesetze, die man für die verwendeten Messverfahren braucht. Logisch lässt sich die Situation so darstellen:
die Theorie sagt: \( A_1 \wedge … \wedge A_n \wedge G \rightarrow B \)
das Experiment hat ergeben: \( \neg B \)
also (nach modus tollens): \( \neg A_1 \vee … \vee \neg A_n \vee \neg G \)
Duhems sogenannter Holismus besteht nun in nichts anderem als in dieser sehr klaren und eigentlich völlig logischen Schlussfolgerung. Ein widerlegendes Experiment widerlegt eben nicht alleine das eine fragliche Gesetz, sondern die Disjunktion aller verwendeten Hypothesen. Es wurde \( A_1 \wedge … \wedge A_n \wedge G \) widerlegt, so dass \( \neg A_1 \vee … \vee \neg A_n \vee \neg G \) wahr sein muss. Hier allerdings bleibt offen, welches Gesetz genau falsch ist. In jedem Fall ist es eine Illusion zu glauben, dass man ein physikalisches Gesetz isoliert für sich falsifizieren kann. Das geht, wie gesagt, aus einfachen logischen Gründen nicht. Duhem schreibt:
„Jede experimentelle Kontrolle verwendet die verschiedensten Teile der Physik, nimmt auf unzählige Hypothesen Bezug; niemals prüft sie eine bestimmte Hypothese, die sie allen anderen absondert; die Logik kann nicht verlangen, dass man alle Hypothesen, deren Verwendung in Betracht kommt, erst der Reihe nach ausprobiert, da ein solcher Versuch unmöglich ist.“[21]
Wenn man das beachtet, dann steht immer die Wahrheit einer physikalischen Theorie insgesamt zur Disposition, niemals nur ein isolierter Teil von ihr:
„Wenn das logische Gebäude vollendet ist, wird es notwendig, die Gruppe mathematischer Lehrsätze, die als Schlussfolgerungen dieser langen Deduktionen erhalten wurden, mit der Gruppe experimenteller Tatsachen zu vergleichen. […] Wenn diese Übereinstimmung zwischen den Schlussfolgerungen der Theorie und den experimentellen Tatsachen sich nicht mit befriedigender Annäherung zeigt, so kann die Theorie zwar logisch richtig aufgebaut sein, sie muss aber nichtsdestoweniger verworfen werden, weil sie durch die Beobachtung widerlegt wird, weil sie falsch ist.“[22]
Dem theoretischen System von Prinzipien, Gesetzen und anderen abgeleiteten Schlussfolgerungen setzt Duhem also die Gesamtheit des experimentellen Wissens gegenüber, das selbstverständlich im Wachstum begriffen ist. Eine Zeitlang kann die Gesamtheit des experimentellen Wissens mit der Theorie als Ganzes übereinstimmen. Dann können aber neue Experimente zu Ergebnissen führen, die eine Revision der Theorie notwendig machen. Ein widerlegendes Experiment falsifiziert aber niemals eine einzelne theoretische Aussage, sondern immer eine größere Gruppe von Hypothesen, in der Regel sogar die Theorie als Ganzes. Somit ist es völlig unklar, an welcher Stelle genau eine Revision der Theorie ansetzen wird. Denkbar ist, dass die bisherige Theorie insgesamt verworfen wird und dafür ein völlig neues theoretisches Gebäude entwickelt wird. So ist es ja auch beim Übergang von der Newtonschen Mechanik zur Relativitätstheorie geschehen.
Dementsprechend wendet sich Duhem gegen Poincarés Glaube, dass bestimmte physikalische Prinzipien den Status von Konventionen bekommen können und als solche nicht mehr falsifiziert werden können:
„In der Tat sollte man sich wohl von dem Glauben hüten, dass jene Hypothesen, die zu allgemein anerkannten Konventionen geworden sind, deren Gewissheit den experimentellen Widerspruch niederzuschlage […] scheint, für ewig gesichert seien. Die Geschichte der Physik zeigt uns recht oft, wie der menschliche Geist dazu geführt wurde, derartige Prinzipien, die durch Jahrhunderte allgemein als unverletzbare Axiome anerkannt wurden, von Grund aus umstürzen und seine physikalischen Theorien auf neuen Hypothesen wieder aufzubauen.“[23]
Denn wenn es zu einem falsifizierenden Experiment kommt, das sich auf eine Reihe von Hypothesen bezieht, zu denen auch ein solches Prinzip gehört, von dem Poincaré sagt, dass es alleine für sich experimentell nicht widerlegbar ist, so kann es doch jetzt durchaus zur Disposition stehen. Man sieht, wie Duhems Holismus dem Konventionalismus Poincarés entgegensteht.
Duhems Wissenschaftsmodell
Zusammengefasst kann man Duhems Wissenschaftsmodell wie folgt zusammenfassen:
(Hyp) | Allaussagen der Naturwissenschaft sind entweder a) hypothetische Gesetze, die die Beobachtungsdaten approximieren; oder b) hypothetische Prinzipien, die so allgemein sind, dass aus ihnen eine Reihe von Gesetzen hergeleitet werden können.In keinem Fall sind sie unumstößlich gewiss, sondern ihre Gültigkeit ist immer hypothetisch bzw. provisorisch. |
(Interpr) | Außerdem verwendet der Naturwissenschaftler (in der Regel) metaphorische Hypothesen, mittels denen er die mathematisch formulierten Gesetze und Prinzipien interpretiert. Damit macht er sich ein Bild von den Dingen selbst. Diese Hypothesen sind aber weder empirisch verifizierbar noch falsifizierbar. Duhem rät dazu, ganz auf sie zu verzichten. |
(mathAx‘) | Die Naturwissenschaft als theoretisches Gebäude nimmt ihren Ausgang von mathematisch formulierten Prinzipien. Sie verwenden numerische Symbole, die physikalische Eigenschaften mehr oder weniger gut repräsentieren und mittels Messverfahren bestimmt werden, die immer grundsätzlich mit Messfehlern behaftet sind. Deswegen folgt für die Prinzipien: – sie treffen nicht die Realität an sich, sondern sind immer nur Approximationen; – sie werden durch die Beobachtungsdaten niemals eindeutig bestimmt (Unterbestimmtheit von Theorien durch Beobachtungsdaten); – sie sind generell hypothetisch bzw. provisorisch; – ihnen haftet etwas willkürlich Beliebiges an, insbesondere müssen sie nicht für die Vernunfteinsicht evident sein. |
(Ind‘) | (aristotelische) Induktion. Ein Wissenschaftler kann sowohl hypothetische Gesetze als auch Prinzipien finden durch die Analyse einiger Beispiele, oder eine Theorie kann durch Angaben von Beispielen anschaulich oder plausibel gemacht werden. Beweiskraft haben diese Beispiele aber nicht, egal wie viele man davon aufzählt. |
(mathBew) | Mathematische Beweise: Alle Sätze der Naturwissenschaft kann man aus den Prinzipien mathematisch herleiten. Ähnlich wie die Axiome haben auch die abgeleiteten Sätze nur hypothetischen Charakter. |
(Emp) | Die Empirie wird als wichtiges Kriterium für die Wahrheit einer Theorie akzeptiert. Eine besondere Stellung hat das Experiment. Hypothetische Gesetze oder Prinzipien können aber niemals empirisch bestätigt werden. Einzelne theoretische Allaussagen isoliert für sich können nicht empirisch widerlegt werden. Nur eine Gruppe von Gesetzen und Prinzipien oder die Theorie als Ganzes kann falsifiziert werden (Holismus). |
Nachwirkung
Duhem hatte im Laufe des 20. Jahrhunderts einigen Einfluss auf die Wissenschaftstheorie. Otto Neurath, ein wichtiges Mitglied des Wiener Kreises, übernahm einige seiner Ideen, insbesondere die Unbestimmtheitsthese und seinen Holismus. In den 1930er-Jahren kam der junge W.V.O. Quine nach Wien und wurde dort unter anderem stark von Otto Neurath angeregt. Zur selben Zeit wirkte auch Karl Popper in Wien, der es als eines der wesentlichen Merkmale einer wissenschaftlichen Theorie herausgearbeitet hat, dass sie durch die Empire niemals bestätigt, sondern höchstens falsifiziert werden kann. Diesen Gedanken findet man tatsächlich auch schon bei Duhem.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass Duhems Auffassung von Naturwissenschaft weitgehend mit dem übereinstimmt, wie heutige Physiker ihre Wissenschaft verstehen. Als Indiz dafür verweise ich auf Josef Honerkamp. Er war Professor für theoretische Physik, schreibt seit einigen Jahren über wissenschaftliche und philosophische Themen auf seinem Weblog, sowie in verschiedenen Büchern.
Auch Honerkamp nimmt bei physikalischen Theorien eine ähnliche Zweiteilung vor wie Duhem und hält sie sogar für einer der Erfolgsgründe der modernen Naturwissenschaft. Es werden mathematische Theorien entwickelt, wobei bestimmte erdachte Begriffe und Interpretationen der Natur Hilfestellung dabei leisten. Die mathematischen Modelle werden nun überprüft und angewendet, unabhängig davon, ob man die Begrifflichkeit dahinter glaubt oder nicht. So schreibt er mit Bezug auf Newton und Einstein[24]:
„Auf der begrifflichen Ebene beobachtet man durchaus, dass es im Laufe der Zeit immer einen Wandel gegeben hat […] Physiker sehen die Einstein’sche Theorie als eine Erweiterung der Newton’schen Theorie an, denn alle mathematisch formulierten Relationen der Einstein’schen Theorie gehen für kleine […] Geschwindigkeiten mit ‚kleinen Modifikationen‘ wieder in die entsprechenden Beziehungen der Newton’schen Theorie über. Von der Einstein’schen Theorie aus gesehen ist die Newton’sche Theorie also eine Näherung […]. Jede unserer bekannten Theorien hat einen Gültigkeitsbereich. Bei großen Geschwindigkeiten verlassen wir den Gültigkeitsbereich der Newton’schen Mechanik […].“
Wenn es wirklich so ist, dass die Mehrheit der Wissenschaftler heutzutage mehr oder weniger bewusst Duhems Auffassungen teilt, dann kann man Duhem als eigentlichen Vater des empirisch-hypothetischen Wissenschaftsmodells bezeichnen.
[1] Ziel und Struktur, S. 37.
[2] Ziel und Struktur, S. 3.
[3] Ziel und Struktur, S. 21.
[4] Ziel und Struktur, S. 38.
[5] Ziel und Struktur, S. 30.
[6] Ziel und Struktur, S. 148 f.
[7] Ziel und Struktur, S. 22.
[8] Ziel und Struktur, S. 151.
[9] A.a.O. S. 150.
[10] Ziel und Struktur, S. 21.
[11] Ziel und Struktur, S. 220.
[12] Ziel und Struktur, S.233.
[13] A.a.O. S. 192
[14] A.a.O. S. 223.
[15] A.a.O. S. 235.
[16] S. 264 ff.
[17] A.a.O. S. 21
[18] A.a.O. S. 276
[19] A.a.O. S. 22
[20] A.a.O. S. 245
[21] A.a.O. S. 295 f.
[22] A.a.O. S. 275 f.
[23] A.a.O S. 284
[24] Ziel und Struktur, S. 148 f.
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