Henri Poincarés Wissenschaftstheorie
In seinem Buch Wissenschaft und Hypothese (1902) stellt Henri Poincaré neben seinen Gedanken zur Mathematik und Geometrie auch seine Wissenschaftstheorie dar. Er formuliert darin als einer der ersten die Grundgedanken des hypothetisch-empirischen Wissenschaftsverständnisses.
Poincaré drückt sein Bekenntnis zum Empirismus wie folgt aus[1]:
„Das Experiment ist die einzige Quelle der Wahrheit; dieses allein kann uns etwas Neues lehren; dieses allein kann uns Gewissheit geben. Das sind zwei Punkte, die durch nichts bestritten werden können.“
Somit wäre theoretisch eine Wissenschaft denkbar, die nichts anderes macht, als die Ergebnisse von Experimenten zu sammeln: Eine riesige Ansammlung von nackten Beobachtungstatsachen. Allerdings wären sie ohne irgendeinen inneren Zusammenhang. Vor allem aber könnte solch eine Art von „Wissenschaft“ keine Voraussagen machen, was nach Poincaré ihr eigentlicher Zweck ist[2]. Somit geht es seiner Meinung nach bei dem Projekt Wissenschaft nicht um die Erkenntnis absoluter Wahrheiten, wie es noch dem Selbstverständnis der aristotelisch geprägten Wissenschaft entspricht.
Damit die Wissenschaft aber ihren pragmatischen Zweck erfüllen kann, zutreffende Voraussagen zu machen, muss sie verallgemeinern. Sie kann eben nicht bei der Anhäufung von Einzelbeobachtungen stehen bleiben, sondern sie muss versuchen, allgemeine Zusammenhänge oder Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Nur auf der Basis von Allaussagen kann der Wissenschaftler konkrete Vorfälle als Bedingungen für ein bestimmtes zu erwartendes Ereignis identifizieren. Analoge Umstände müssten analoge Tatsachen zur Folge haben.
Bei diesen Allaussagen unterscheiden Poincaré zwischen a) Hypothesen und b) Prinzipien[3]. Hypothesen sind empirischen Allaussagen, die durch Erfahrungsdaten belegt oder widerlegt werden können und bei denen klar ist, dass sie keinen Anspruch auf 100%ige Gültigkeit haben. Poincaré nennt sie auch „Gesetze“. Prinzipien beruhen zwar auf empirisch gewonnenen, hypothetischen Gesetzen, erweitern sie aber auf eine Weise, dass sie nicht mehr empirisch widerlegbar sind. Damit erhalten sie den Charakter unumstößlich wahr zu sein. Tatsächlich sind sie aber Konventionen bzw. durch Übereinkunft festgelegte Definitionen und sie haben nur deswegen den Anschein absoluter Gewissheit, weil sie in der Wissenschaft eine ähnliche Aufgabe haben, wie bezogen auf Längen das metrische System: Jede Länge kann man in Meter ausdrücken, aber nicht, weil das eine unumstößliche Wahrheit ist, sondern eine Konvention.
Hypothesen oder Gesetze
Wie gesagt, geht es nach Poincaré bei der Wissenschaft darum, möglichst zutreffende Voraussagen machen zu können. Dabei orientiert man sich an bereits gemachten Erfahrungen und verallgemeinert in etwa so: Unter analogen Umständen werden wohl analoge Tatsachen eintreten[4]. Obwohl Poincaré die einzige Quelle der Wahrheit bezeichnet, betont er doch, dass man sich bei der Gewinnung empirischen Allaussagen normalerweise über die anfänglichen Erfahrungsdaten bis zu einem gewissen Grad hinwegsetzt. Poincaré führt das Beispiel einer Messreihe an, durch die man eine gerade Linie interpoliert:
Der Physiker zieht eben nicht die Linie von einem gemessenen Punkt zum nächsten gemessenen Punkt, was zu einer Zick-Zack-Linie führen würde. Stattdessen ist der Wissenschaftler auf der Suche nach einer Gesetzmäßigkeit, die sich mathematisch möglichst einfach darstellen lässt. Dazu zieht er beispielsweise ein gerade Linie mitten durch die Messpunkte hindurch. Dazu muss er aber annehmen, dass den tatsächlich gemessenen Werten geringfügige Messfehler zugrunde liegen. Das hypothetische einfache, allgemeine Gesetz ist ihm somit wichtiger, als die faktische experimentelle Messung. Wie gesagt, das hat insofern etwas Paradoxes, als Poincaré in dem obigen Zitat das Experiment als einzige Quelle der Wahrheit bezeichnet hat. Das Paradoxon löst sich aber auf, wenn man die hypothetische Verallgemeinerung, in unserem Fall die interpolierte Linie, nicht als Wahrheit ansieht, sondern als Mittel zum Zweck der Prognose. Und auch das Ergebnis der Prognose muss nicht 100%ig genau sein, sondern es genügt eine annähernd zutreffende Voraussage.
So wichtig also das Experiment ist, letztlich geht es der Wissenschaft darum zu Voraussagen brauchbare Verallgemeinerungen zu finden. So unterscheidet Poincaré auch zwischen „guten“ und „schlechten“ Experimenten[5]. „Schlechte“ Experimente häufen einfach eine Menge von Beobachtungsdaten an, ohne dass klar ist, welche allgemeine Aussage dadurch bewiesen oder widerlegt werden soll. Ein „gutes“ Experiment“ hingegen zielt darauf ein allgemeines Gesetz entweder überhaupt zu entdecken, es zu bestätigen oder es zu widerlegen.
In jedem Fall ist nach Poincaré jede empirische Allaussage, die die Wissenschaft aufstellt, eine Hypothese[6], die annähernd mit den empirischen Tatsachen übereinstimmen sollte, für die es gewisse empirische Indizien gibt, ohne mit ihnen 100%ig übereinstimmen zu müssen. Ihre vollständige Wahrheit kann niemals als vollständig erwiesen gelten. Es bleibt immer eine Restunsicherheit, dass Umstände eintreten, die der angenommenen Gesetzmäßigkeit widersprechen oder sich ein anderer theoretischer Rahmen ausbildet, der die Phänomene besser voraussagt und die bisherige Allaussage ersetzt.
Poincaré unterscheidet drei Arten von Hypothesen:
- Stillschweigende oder unbewusste Hypothesen[7]. Solche Hypothesen können gefährlich sein, weil wir sie anwenden, ohne uns ihrer bewusst zu sein. Nach Poincaré hilft hier die Mathematik, derartige versteckten Hypothesen zu entdecken.
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber möglicherweise meint Poincaré damit auch mathematische Grundannahmen. Die (klassischen) Physiker verwenden z.B. einfach die euklidische Geometrie und waren sich sehr lange nicht darüber im Klaren, dass sie theoretisch auch eine nicht-euklidische Geometrie hätten verwenden können. Auch dies ist also eine Art von Hypothese, die wir stillschweigend und unbewusst der Wissenschaft zugrunde lege und die transparent wird durch die Genauigkeit des mathematischen Formalismus. Es ist ja auch so, dass, wenn man die Newtonsche Physik vollständig axiomatisieren will, die Axiome der euklidischen Geometrie auch aufgezählt werden müssten. Poincaré selbst interessierte sich nicht für die neue mathematische Logik, die gerade in seiner Zeit entstand. Aber eigentlich wären, meine ich, die logischen Axiome samt den Schlussregeln, so wie sie z.B. Frege oder Russell festgelegt haben, ein weiteres Beispiel für stillschweigende Hypothesen, deren man sich durch einen präzisen Formalismus überhaupt erst bewusst wird.
- Allaussagen, die angewendet auf bestimmte Ausgangsbedingungen konkrete Vorhersagen zulassen und die insofern mit bestimmten Experimenten direkt übereinstimmen oder nicht. Diese Allaussagen sind in der Physik normalerweise mathematisch formuliert[8]. Dabei drücken die mathematischen Gleichungen bestimmte Beziehungen (Relationen) zwischen den Dingen aus. Lässt man einen Stein von 10m Höhe fallen, dann kann man unten eine Geschwindigkeit von 14 m/s messen, bei 5m werden es 9,9 m sein, gemäß der Formel \( v=\sqrt{2 \cdot 9,81 \cdot h} \). Das heißt die Geschwindigkeit steht in einer bestimmten Relation zur Fallhöhe.
- Indifferente, metaphorische Hypothesen, die die mathematischen Formeln interpretieren[9]. Sie entwerfen Bilder davon, was wie die Dinge an sich sind und sich verhalten, um so die mathematischen Gesetzmäßigkeiten zu “erklären“. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob diese Hypothesen richtig sind oder nicht, sie lassen sich auch nicht experimentell widerlegen oder bestätigen. In dem obigen Beispiel wäre die klassische Newtonsche Hypothese, dass die Erdanziehungskraft auf den Stein einwirkt, ihn beim Fallen gleichmäßig beschleunigt, so dass schließlich am Ende eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht wird. Hier wird also das Bild entworfen, dass die Erde in irgendwie auf den Stein eine Kraft ausüben kann, ähnlich wie wenn man selbst an einem Gegenstand zieht. Der Punkt ist, dass diese Erklärung durch eine fernwirkende Kraft falsch sein kann, dennoch aber die obige mathematische Formel zu richtigen Prognosen verhilft. Die interpretierende Erklärung ist somit letztlich egal.
Diese Überlegungen bringen Poincaré zu dem sogenannten strukturellen Realismus. Die tatsächlichen Beziehungen der Dinge untereinander hält er für erkennbar und durch mathematische Formeln ausdrückbar. Die Dinge dahinter aber, was sie tatsächlich an sich sind, hält er für unerkennbar. Und so erklärt sich Poincaré auch den wissenschaftlichen Fortschritt.
Eine alte Theorie besteht aus mathematischen Hypothesen \(H_0\) und bestimmten metaphorischen Hypothesen \(I_0\). Mittels \(H_0\) kann man bis zu einem bestimmten Grad korrekte Voraussagen machen. Sie hat aber Schwächen, die durch eine neue Theorie behoben werden, die aus mathematischen Hypothesen \(H_1\) und interpretierenden Hypothesen \(I_1\). \(H_1\) ist vielleicht ein wenig genauer oder erfasst Grenzbereiche besser, aber die Relationen, die bisher mittels \(H_0\) ausgedrückt wurden, bleiben mittels \(H_1\) – im Wesentlichen – dieselben erhalten. Letztendlich egal ist aber wie sich die interpretierenden Hypothesen verändert haben.
Bezogen auf die Fresnelsche Licht-Theorie, die einen Äther annahm und durch die Feldtheorie von Maxwell ersetzt wurde, schreibt Poincaré[10]:
„[Die optischen Erscheinungen vorauszusehen] erlaubt die Fresnelsche Theorie heute ebenso wie vor Maxwell. Die Differentialgleichungen sind immer richtig […]. Die genannten Gleichungen drücken Beziehungen aus, und sie bleiben richtig, solange diese Beziehungen der Wirklichkeit entsprechen. Sie lehren uns vorher wie nachher, dass eine gewisse Beziehung zwischen irgendeinem Etwas und eirgend einem anderen Etwas besteht; nur dass dieses Etwas fürher Bewegung genannt wurde und jetzt elektrischer Strom heißt. Aber die Benennungen warn nichts als Bilder, die wir an die Stelle der wirklichen Objekte gesetzt haben, und diese wirklichen Objekte wird die Natur uns ewig verbergen; die wahren Beziehungen zwischen diesen wirklichen Objekten sind das einzige Tatsächliche, welches wir erreichen können, und die einzige Bedingung ist, dass dieselben Beziehungen, welche sich zwischen diesen Objekten befinden, sich auch zwischen den Bildern befinden […].“
Elie Zahar weist in seinem Buch Poincaré’s Philosophy darauf hin, dass Poincaré hier eine Kantianische Position vertritt (S. 52 f.).
Prinzipien kraft Konvention
Nach Poincaré werden in der Physik auch Allaussagen verwendet, die den Charakter unumstößlicher Prinzipien haben, dergestalt, dass sie durch Erfahrungstatsachen nicht falsifiziert werden können. Als Beispiele gibt er die drei Grundgesetze der Newtonschen Physik an:
- Das Prinzip der Trägheit: Ein Körper, auf den keine Kraft einwirkt, bleibt entweder in Ruhe oder bewegt sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit.
- Das Gesetz der Beschleunigung; F=m×
- actio = reactio. Eine Kraft von Körper A auf Körper B geht immer mit einer gleich großen, aber entgegen gerichteten Kraft von Körper B auf Körper A einher.
- Regel von der Zusammensetzung der Kräfte (Parallelogramme)
Worin unterscheidet sich ein Prinzip von einem Gesetz? Poincaré schreibt[11]:
„Die Prinzipien der Mechanik stellen sich uns unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten dar. Einesteils haben wir auf Erfahrungen begründete Wahrheiten, die in sehr angenäherter Weise verifiziert sind, wenigstens soweit es sich um nahezu isolierte Systeme handelt [das sind hypothetische Gesetze]. Anderenteils haben wir Postulate, welche auf die Gesamtheit des Universums anwendbar sind und als streng richtig betrachtet werden.
Wenn diese Postulate eine Allgemeinheit und eine Zuverlässigkeit besitzen, welche den experimentellen Wahrheiten abgeht, aus denen man sie ableitete, so liegt dies drin, dass sie sich in letzter Instanz auf ein einfaches Übereinkommen reduzieren, welches wir mit Recht eingehen, da wir im voraus wissen, dass keine Erfahrung ihm widersprechen kann. Dieses Übereinkommen ist jedoch nicht absolut willkürlich; es entspringt nicht unserer Laune; wir nehmen es an, weil gewisse Experimente uns bewiesen haben, dass es bequem ist.“
Sowie[12]:
„Wir sehen beim Beginne unseres Weges ein sehr spezielles und ziemlich rohes Experiment, am Ende aber ein ganz allgemeines und vollkommen genaues Gesetz, das wir für absolut gewiss halten. Diese Gewissheit haben einzig und allein wir demselben sozusagen freiwillig beigelegt, indem wir es als durch Übereinkommen festgelegt ansehen.
Beruhen demnach das Gesetz der Beschleunigung und die Regel für die Zusammenfassung der Kräfte nur auf willkürlichen Übereinkommen? Auf Übereinkommen? Ja; aber auf willkürliche? Nein. Die Gesetze wären willkürlich, wenn man die Experimente aus den Augen verlöre, welche die Begründer der Wissenschaft zu ihrer Annahme bewogen und welche trotz ihrer Unvollkommenheit genügen, um sie zu rechtfertigen.“
Um darzulegen, wie Poincaré dies meint, werfen wir einen Blick auf die drei Newtonschen Grundprinzipien.
Das Trägheitsgesetz wird durch ein paar Experimente ansatzweise bestätigt. Z.B. indem man eine Kugel auf einem Marmorboden rollen lässt. Man hat den Eindruck, dass, wenn keine weitere Kraft von außen auf sie einwirken würde, würde sie ewig mit derselben Geschwindigkeit weiterrollen. Nun kann man letzteres eben gerade nicht empirisch verifizieren, denn jede Kugel hört faktisch irgendwann auf weiterzurollen. Dennoch verallgemeinern wir dieses Experiment zu dem Trägheitsprinzip, das universelle Gültigkeit haben soll. Allgemein formuliert ist es aber experimentell weder bestätigbar noch widerlegbar. Poincaré schreibt[13]:
„Um eine wirklich vollständige Probe zu machen, müsste man zuerst alle Körper des Universums nach gewisser Zeit mit ihren Anfangsgeschwindigkeiten in ihre Anfangslagen zurückkehren lassen. Man wird dann von diesem Momente ausgehen und sehen, ob sie die Bahnen, welche sie bereits einmal verfolgten, wieder durchlaufen. Diese Probe ist unmöglich; man kann sie nur teilweise ausführen, und wenn man es auch noch so gut machte, so wird es immer Körper geben, welche nicht zu ihrer Anfangslage zurückkehren; so findet jede Abweichung vom Gesetze in leichter Weise ihre Erklärung.“
Zum Beschleunigungsprinzip F=m×a.
Nehmen wir folgende Versuchsanordnung an. Wir haben einen Körper M, der mit einem Seil über eine Rolle mit drei verschiedenen Körpern F1, F2 oder F3 verbunden werden kann. Über eine ähnliche Konstruktion hat man zuvor festgestellt, dass zwei Körper der Gestalt F1 links aufgehängt und ein Körper F2 rechts aufgehängt gerade im Gleichgewicht sind. Ebenso sind drei Körper der Gestalt F1 und F3 im Gleichgewicht. Wir kommen so zu dem Schluss, dass die Gewichtskraft F2 = 2 x F1 und F3=3 x F1.
Nun hängen wir der Reihe nach die Gewichte F1, F2 und F2 an den Körper M und messen die Beschleunigungen a1, a2 und a3.
Nehmen wir nun an, wir messen folgende Werte:
a1 | a2 | a3 |
1,95 m/s² | 3,90 m/s² | 5,92 m/s² |
Man sieht also, dass in etwa gilt F2:F1 = a2:a1 und F3:F1 = a3:a1. Oder anders formuliert: Die links nach unten ziehenden Kräfte sind direkt proportional zu den bewirkten Beschleunigungen: F ~ a.
Das heißt aber, dass es eine Konstante geben muss, nennen wir sie m, so dass F=ma. Da der Körper M die ganze Versuchsanordnung über konstant geblieben ist, ist es naheliegend, diese Konstante m in der Formel von diesem Körper abhängig zu machen und nennen sie dessen „Masse“.
An dieser Stelle können wir nun für diese Versuchsanordnung das allgemeine Gesetz als Hypothese annehmen: F= ma, wobei sich das F hier immer auf Körper bezieht, die auf der linken Seite nach unten ziehen. Diese Allaussage kann man durch weitere Experimente erhärten oder falsifizieren.
Nun verallgemeinern wir diese empirische Allaussage und behaupten: Wenn immer eine Kraft F – was auch immer das im Allgemeinen unabhängig von der obigen Versuchsanordnung sein soll – auf eine Masse wirkt – wobei ja der Begriff der Masse nur ein mathematischer Lückenfüller war, um die beobachtete Relation den Gewichten und der bewirkten Beschleunigung zu einer vollständigen Formel zu ergänzen –, dann soll gelten: F=ma.
Sowohl der Begriff der Kraft, als auch der Begriff der Masse ist nun so stark verallgemeinert und hat nur noch entfernt mit der ursprünglichen Versuchsanordnung zu tun, dass nicht mehr ganz klar ist, was mit diesen Begriffen – so allgemein verstanden – überhaupt gemeint sein soll. Faktisch handelt es sich auch um kein empirisch verifizierbares Gesetz mehr, sondern um eine Definition. „Kraft“ und „Masse“ sind eben kraft Konvention durch die Formel F=ma definiert. Beispielsweise soll dieses Prinzip nun auch für Planetenbahnen gelten. Faktisch kann man eine Beschleunigung eines Planeten beobachten. Nun schließt man, dass es dafür eine bestimmte beschleunigende Kraft geben muss, die aber etwas Mysteriöses hat, da man keine Seile oder dergleichen sehen kann. So kommt man zu der Vorstellung einer fernwirkenden Kraft. Schließlich schreibt man dem Planeten eine Masse zu, und zwar in Analogie zu obigem konkreten Versuchsaufbau, wobei die „Masse“ ja eigentlich nur ein mathematischer Lückenfüller war.
Es kommt noch hinzu, dass wir bei unserer obigen Versuchsanordnung und den Schlüssen, die wir daraus gezogen haben, stillschweigend das Prinzip actio=reactio verwendet haben. Denn nur unter dieser Annahme konnten wir die Kräfte F1, F2 und F3 miteinander vergleichen. Somit handelt es sich auch bei dem Prinzip von der Gleichheit von Kraft und Gegenkraft nicht um ein empirisch verifizierbares Gesetz, sondern um eine konventionelle Festsetzung, die überhaupt die Grundlage für den Vergleich von Kräften ist.
Auf diese Weise stark verallgemeinert, bilden die Newtonschen Prinzipien ein theoretisches Geflecht, das, nach Poincaré, empirisch nicht zu widerlegen ist. Würde man z.B. eine astronomische Beobachtung machen, die dem Gesetz F=ma zu widersprechen scheint, so kann man die Prinzipien retten, indem man sagt, dass es bisher unentdeckte Faktoren geben müsse, z.B. einen verborgenen Planeten oder eine andere Kraft, die bislang unberücksichtigt war.
Newtonsche Physik
Poincaré kritisiert die klassische Newtonsche Mechanik übrigens noch in folgenden Punkten:
- Es gibt keinen absoluten Raum. Die Bewegungen der Körper sind nur relativ zueinander feststellbar.
- Es gibt keine absolute Zeit.
- Wir haben keine Möglichkeit, die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Ereignissen festzustellen.
- Die euklidische Geometrie, die in der klassischen Physik verwendet wird, hat keine Gültigkeit an sich, sondern ist nur eine bequeme Konvention; man könnte die Physik genauso gut auf der Basis einer nicht-euklidischen Geometrie entwerfen.
In diesen vier Punkten scheint Poincaré die Relativitätstheorie vorwegzunehmen.
Poincarés Wissenschaftsmodell möchte ich in Anlehnung an das aristotelisch-mathematische Modell wie folgt zusammenfassen:
(B 1) | Die Naturwissenschaft ist weitgehend hypothetisch. Unumstößlich wahr sind die kraft Konvention festgesetzten Prinzipien, wobei es sich hier nur um Definitionen handelt. |
(B 2) | Allaussagen der Naturwissenschaft sind entweder
a) hypothetische Gesetze, die durch Experimente bestätigt oder widerlegt werden können und niemals den Anspruch auf unumstößliche Gültigkeit haben; oder b) kraft Konvention festgesetzte Prinzipien. Sie haben zwar ursprünglich empirisch gewonnene hypothetische Gesetze zum Ausgangspunkt, werden aber so sehr verallgemeinert, dass sie empirisch nicht widerlegt werden können. Sie sind häufig eigentlich Definitionen oder führen Größen als mathematische Lückenfüller ein. c) kraft Konvention festgesetzt geometrische Prinzipien. d) arithmetische Lehrsätze, die allesamt letztlich auf das Prinzip der vollständigen Induktion zurückgehen, das Poincaré (im Gegensatz zur Geometrie) als synthetisches Urteil a priori anerkennt. e) Außerdem verwendet der Naturwissenschaftler (in der Regel) metaphorische Hypothesen, mittels denen er die mathematisch formulierten Gesetze und Prinzipien interpretiert. Damit macht er sich ein Bild von den Dingen selbst. Diese Hypothesen sind aber weder empirisch verifizierbar noch falsifizierbar. Für die Gültigkeit der mathematisch formulierten Theorie sind sie indifferent, d.h. ohne Bedeutung. |
(B 3) | Induktion. Ein Wissenschaftler kann sowohl hypothetische Gesetze als auch Prinzipien finden durch die Analyse einiger Beispiele, oder eine Theorie kann durch Angaben von Beispielen anschaulich oder plausibel gemacht werden. Beweiskraft haben diese Beispiele aber nicht, egal wie viele man davon aufzählt. |
(B 4) | Mathematische Beweise: Die Naturwissenschaft nimmt ihren Ausgang von mathematisch formulierten Axiomen.
a) Die Axiome beziehen sich auf die Natur über physikalische Größen, das sind quantitativen Eigenschaften an den Dingen, die man messen und so in eine mathematische Sprache übersetzen kann. Wesentlich aber ist, dass die mathematisch formulierten Axiome (Gesetze oder Prinzipien) Relationen zwischen diesen Größen beschreiben. Die Dinge an sich sind nicht erkennbar, wohl aber ihre Beziehungen zueinander (Struktureller Realismus). b) Die Axiome sind mathematisch formulierte Sätze, die nicht evident sein müssen. c) Die Axiome haben immer nur den Status von Hypothesen oder den Status kraft Konvention festgelegter Prinzipien. Beide Male hängt ihnen ein gewisses Maß an Beliebigkeit an. |
(B 5) | Empirismus: Die Empirie wird als wichtiges Kriterium für die Wahrheit einer Theorie akzeptiert. Eine besondere Stellung hat das Experiment. Hypothetische Gesetze können so bestätigt oder widerlegt werden. Kraft Konvention festgelegte Prinzipien hingegen können experimentell nicht falsifiziert werden. |
[1] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 142.
[2] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 143.
[3] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 91,
[4] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 144.
[5] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 143 f.
[6] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 152.
[7] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 153.
[8] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 155.
[9] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 154 und S. 164.
[10] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 162.
[11] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 138.
[12] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 112.
[13] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 98.
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