Henri Poincaré zur Geometrie

In diesem Beitrag stelle ich dar, was Henri Poincaré (1854-1912) in seinem 1902 veröffentlichten Werk Wissenschaft und Hypothese über Geometrie geschrieben hat.

Euklidische Geometrie

Es ist eine Tatsache, dass uns die euklidische Geometrie von Natur aus gegeben erscheint. Immerhin kannten die Menschen über mehr als 2500 Jahre keine andere Geometrie. Und Kant glaubte, dass wir die Dinge nicht anders als räumlich (im euklidischen Sinne) erfahren können. Nicht-Euklidische Geometrien wurden erst im 19. Jahrhundert ersonnen; sie kommen uns merkwürdig und fremd vor. Poincaré hingegen meint, dass wir nur deswegen die euklidische Geometrie verwenden, weil unsere empirische Erlebniswelt bestimmte Merkmale hat, auf die ich unten eingehen werde. Hätte unsere empirische Erlebniswelt aber andere Merkmale, dann würden wir eine nicht-euklidische Geometrie für die natürlich halten.

In Wissenschaft und Hypothese zählt Poincaré die nachfolgenden Merkmale unserer empirischen Erlebniswelt auf, die die Annahme der euklidischen Geometrie zweckmäßig macht:

  1. Feste Körper[1]

Unsere Erlebniswelt besteht in erster Linie aus festen Körpern: der Tisch vor mir, der Stuhl, auf dem ich sitze, die Tasse, das Glas, Bücher, Steine, etc. Es gibt zwar auch Dinge, die sich in ihrer Form verändern, z.B. Wolken, Wasserdampf oder Flüssigkeiten, diese sind aber eher Ausnahmen. Wären die Körper, mit denen wir zu tun haben, in der Regel nicht fest, würden sie also ständig ihre Form verändern, dann hätten wir entweder keine oder eine andere Geometrie als die euklidische.

  1. Kompensationsbewegungen[2]

Was aber bedeutet es, z.B. für den Apfel vor mir, ein fester Körper zu sein? Nehmen wir an, der Apfel verändert seine Lage relativ zu mir – entweder weil ich mich bewege oder weil er selbst in Bewegung ist. Dann kann ich mich willentlich mittels meiner eigenen Muskelkraft wieder in eine Lage bringen, so dass mein Sinneseindruck von dem Apfel identisch ist mit dem Sinneseindruck, den ich vorher von ihm hatte. Es haben sich weder seine Form, noch seine Größe noch seine Farbe, noch Eigenschaften, die ich ertasten kann oder sonst etwas verändert.

  1. Die Kompensationsbewegungen sind unabhängig vom gewählten (festen) Gegenstand

Das Gesagte gilt aber nicht nur für diesen speziellen Apfel. Nehmen wir an, der Apfel hat sich von der Stelle A zur Stelle B bewegt, dann kann ich selbst eine Kompensationsbewegung ausführen, so dass mein Sinneseindruck von dem Apfel an A identisch ist mit dem Sinneseindruck, den ich von ihm an der Stelle B habe. Dasselbe kann ich aber auch im Prinzip mit jedem beliebigen anderen festen Körper machen, sagen wir mit einem Buch. Wird das Buch von der Stelle A zur Stelle B bewegt, dann vollziehe ich exakt dieselbe Kompensationsbewegung damit meine Sinneseindrücke von dem Buch vorher und nachher genau gleich sind.

Die beiden Merkmale 2 und 3 tragen zu der Vorstellung bei, dass der Raum homogen und isotrop ist, d.h. dass alle Punkte im Raum und alle Geraden identisch sind. Denn das Ding ist hier dasselbe wie dort und es ist egal ob es hierhin oder dorthin verschoben wird. An einer Stelle schreibt Poincaré[3]:

„So ist es z.B. mit der Definition der Gleichheit zweier Figuren: sie sind gleich, wenn man sie aufeinander legen kann; um sie aufeinander zu legen, muss man die eine von ihnen so weit verschieben, bis sie mit der anderen zusammenfällt; […] [Diese Definition] hätte gar keinen Sinn für ein Wesen, ds eine Welt bewohnt, in der es nichts als Flüssigkeiten gibt. Wenn sie klar erscheint, so leigt das daran, dass wir durch Gewohnheit mit den Eigenschaften der natürlichen Körper vertraut sind, […] deren sämtliche Dimensionen unveränderlich sind.“

Theoretisch könnte man sich ja auch Welten vorstellen, in denen alles anders ist. Tatsächlich konstruiert Poincaré zwei Modelle solcher Welten, die die genannten Merkmale nicht haben, um zu zeigen, dass, sofern es dort vernunftbegabte Bewohner gibt, diese natürlicherweise zu der Annahme nicht-euklidischen Geometrien kommen würden.

Nicht-Euklidische Geoemetrie: Die Welt der Flachmenschen

Angenommen es gäbe vernunftbegabte Lebewesen, die auf einer großen Kugel leben, und selbst vollständig flach sind, also keine Höhe haben, die sogenannten Flachmenschen. Sie sind breit und lang, kennen aber keine dritte Dimension. Somit ist ihre Geometrie natürlicherweise zweidimensional, die dritte Dimension ist ihnen nicht vorstellbar. Auch die Kugel, auf der sie leben, erscheint ihnen nicht als dreidimensionaler Körper, sondern als riesige Fläche. Auf dieser Fläche leben sie.

Verbinden sie zwei Punkte ihrer Welt auf kürzest mögliche Weise und verlängern sie diese Strecke zu einer „Geraden“, so wird es sich aus unserer Perspektive um den Bogen des größten Kreises um die Kugel handeln. Wenn sie diese „Gerade“ immer weiterlaufen, werden sie niemals an eine Grenze kommen. Ihr zweidimensionaler Lebensraum ist also unbegrenzt. Allerdings wird ihnen auffallen, dass sie, falls sie tatsächlich immer weiter gerade aus weiterlaufen, irgendwann an den Ausgangspunkt zurückkehren werden.

In unserer (euklidischen) Welt ist es ja so, dass durch je zwei verschiedene Punkte immer nur genau eine Gerade laufen kann. In der Welt der Flachmenschen ist das in den allermeisten Fällen auch so. Aber bei manchen Punkten dieser Welt ist es nicht so, nämlich bei je zwei Punkten, die sich auf der Kugel direkt gegenüber liegen. Durch solche Punkte läuft nicht nur eine „Gerade“, im Sinne einer kürzesten Verbindung zwischen den beiden Punkten, sondern unendlich viele. Egal welche Richtung man einschlägt, wenn man von solch einem Punkt startet, der Weg zu dem anderen genau gegenüberliegenden Punkt ist immer genau gleich lang. Dies ist die nicht-euklidische, sogenannte sphärische Geometrie, die bereits Riemann untersucht hat. Es steht eigentlich außer Frage, dass, sofern sich die Flachmenschen eine Geometrie ersinnen, sie natürlicherweise eine derartige nicht-euklidische Geometrie sein würde. In ihrer Welt wäre unsere euklidische Geometrie fremdartig, merkwürdig und vor allem unzweckmäßig.

Ein Punkt ist noch bemerkenswert. Die Welt der Flachmenschen erscheint uns zwar sehr weit von unserer entfernt, und ihre Geometrie wäre eine andere als unsere. Dennoch könnten wir ihre Welt durchaus verstehen. Denn man kann ihre sphärische Geometrie mittels mathematischer Operationen in unsere euklidische Geometrie übersetzen[4].

Nicht-Euklidische Geometrie: Die Blasenmenschen[5]

Poincaré will, dass wir uns eine weitere skurrile, aber mögliche Welt vorstellen. Angenommen vernunftbegabte Lebewesen, die ich „Blasenmenschen“ nennen möchte, leben in einer riesigen Kugel, deren Radius R sei. Nehmen wir an, dass ein typischer Blasenmensch 1 m groß ist, und zwar genau im Mittelpunkt dieser Kugel. In dieser Kugel sollen aber merkwürdige physikalische Gesetze gelten. Jeder Gegenstand wird umso kleiner, je weiter er sich vom Mittelpunkt entfernt, genau genommen in quadratisch Abhängigkeit von der Entfernung vom Mittelpunkt. Ist also r der Abstand, den ein Blasenmännchen vom Mittelpunkt hat, dann ist es nur noch die Größe G(r) = G(0) x (R²-r²)/R².

Ist R=100%, dann ist z.B. die Größe des Blasenmenschen mit einer Größe am Mittelpunkt von 1 m:

Entfernung r vom Mittelpunkt 0% 20% 50% 80%
Größe in Abhängigkeit von r 100 cm 96 cm 75 cm 36 cm

Graphisch dargestellt hat man folgende Veränderung der Größe in Abhängigkeit von r:

Je näher die Blasenmenschen dem Rand der Kugel kommen, umso kleiner werden sie. Würden sie den Rand erreichen, dann wäre ihre Größe bei 0,00 m. Das hat zur Folge, dass sie faktisch den Rand niemals erreichen könnten. Sie hätten also den Eindruck, dass ihre Welt unbegrenzt ist. So wie ihre eigene Größe in Abhängigkeit von der Entfernung r vom Mittelpunkt immer kleiner wird, genau nach demselben Verhältnis sollen alle übrigen Dinge in dieser Welt sich verändern.

Wenn die Blasenmenschen die Bewegung von Dingen beobachten, dann werden sie erleben, wie sich die Gestalt der Dinge mit der Ortsveränderung verändern, und zwar gemäß einfachen Gesetzen. Andererseits werden sie selbst Kompensationsbewegungen machen können. Denn wenn ein Gegenstand kleiner geworden ist, weil er sich vom Mittelpunkt entfernt hat, dann kann der Beobachter selbst seinen Standpunkt um dieselbe Strecke verschieben, so dass er den subjektiven Eindruck hat, dass der Gegenstand wieder so groß wie vorher ist. In jedem Fall werden die Blasenmenschen dem Raum andere Eigenschaften zuschreiben als wir es tun und sie werden eine andere, nicht-euklidische Geometrie als natürlich empfinden, unsere euklidische Geometrie hingegen würden ihnen unpassend und fremd sein.

Fazit zur Geometrie

Aus seiner Analyse, wie wir aufgrund der drei genannten Merkmale unserer empirischen Erlebniswelt zu der Annahme der euklidischen Geometrie gelangen, sowie den hypothetischen Welten, in denen vernunftbegabte Lebewesen sicherlich nicht-euklidische Geometrien als natürlichen Standard verwenden würden, zieht Poincaré folgendes Fazit.  Die Geometrie beruht nicht auf Axiomen, die notwendig gelten und im Sinne Kants Urteile a priori sind. Ja, uns ist die euklidische Geometrie so vertraut, dass uns eine nicht-euklidische Geometrie fremd und merkwürdig vorkommt. Dies ist aber nicht so, weil es eine Notwendigkeit dazu gibt, sondern weil wir ihre Gültigkeit kraft Konvention annehmen. Theoretisch könnten wir auch alles durch die Brille einer nicht-euklidischen Geometrie sehen, das wäre in unserer normalen Erlebniswelt nur sehr viel komplizierter. Genauso könnten die Flachmenschen oder die Blasenmenschen die euklidische Geometrie verwenden, aber das wäre für sie sehr unpraktisch, während eine nicht-euklidische Geometrie gut zu ihrer Lebenswelt passt. Poincaré schreibt[6]:

„[Die geometrischen Axiome] sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen; unter allen möglichen Festsetzungen wird unsere Wahl von den experimentellen Tatsachen geleitet; aber sie bleibt frei und ist nur durch die Notwendigkeit begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden. In dieser Weise können auch die Postulate streng richtig bleiben, selbst wenn die erfahrungsmäßigen Gesetze […] nur annähernd richtig sein sollten.“

Dementsprechend gibt es nach Poincaré keine „richtige“ oder „falsche“ Geometrie. Die geometrischen Axiome sind nicht notwendig, sie sind aber auch keine Erfahrungstatsachen. Genauso wenig wie das metrische System oder das Kilogramm für Gewichte empirisch überprüfbar sind. Die verschiedenen Geometrien passen nur mehr oder weniger gut zu der jeweiligen empirischen Lebenswelt. Geometrien sind wie Maßsysteme (S. 51 f.). In Europa haben wir festgelegt, Längen in Meter und Centimeter zu messen. Diese Festsetzung ist beliebig und man könnte stattdessen auch Fuß und Zoll verwenden. Theoretisch könnten wir auch Längenmaße verwenden, die absurd groß oder absurd klein sind, z.B. dass wir jede Länge in km oder in einem Zehntel Millimeter angeben. Das könnten wir machen, wäre aber nur sehr unpraktisch. Meter und Centimeter haben gerade eine solche Länge, dass wir im Alltag gut damit arbeiten können. Aber ansonsten gibt es keine Notwendigkeit Meter oder Fuß als Maßeinheit zu verwenden. Es sind einfach Konventionen, an die wir uns alle halten und die irgendwann einmal mit einer gewissen Beliebigkeit festgelegt worden sind.

Es wurde einmal vorgeschlagen zu überprüfen, ob die euklidische Geometrie für unsere Wirklichkeit tatsächlich zutrifft oder nicht, indem man mit Lichtstrahlen riesige tatsächliche Dreiecke schafft und dann deren Winkelsumme misst. Nach Poincaré kann eine solche empirische Überprüfung nicht sinnvoll sein, weil diesem Experiment bereits die Annahme zugrunde liegt, dass sich Licht genau auf präzisen geometrischen Geraden ausbreitet. Käme bei dem genannten Versuch eine Winkelsumme heraus, die der euklidischen Geometrie widersprechen würde, so könnte man sich immer noch auf die Behauptung zurückziehen, dass die Lichtstrahlen nicht vollständig gerade waren oder durch irgendetwas abgelenkt wurden.

[1] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 62 f.

[2] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 63 f.

[3] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 42.

[4] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 43.

[5] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 66 ff.

[6] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 51.

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