Henri Poincaré zur Mathematik
Henri Poincaré (1854-1912) ist um 1900 einer der herausragendsten Mathematiker. Auch im Bereich der theoretischen Physik und der Philosophie hat er Bedeutendes geleistet.
Er gilt als Vater der Chaostheorie und als Wegbereiter von Einsteins Relativitätstheorie. In der philosophischen Wissenschaftstheorie gilt er als Begründer des sogenannten Konventionalismus. Im Gegensatz zu Hilbert, der in Göttingen regelrecht eine Schule von Mathematikern und Physikern um sich versammelte, blieb Poincaré immer ein Einzelkämpfer. Nachfolgend beziehe ich mich vor allem auf sein Buch:
- Wissenschaft und Hypothese, veröffentlicht 1902 und ins Deutsche übersetzt 1904.
In dessen Einleitung beschreibt Poincaré das traditionelle, aristotelisch-mathematische Wissenschaftsverständnis wie folgt (S. XI):
„Die mathematischen Wahrheiten werden durch eine Kette untrüglicher Schlüsse aus einer kleinen Anzahl evidenter Sätze abgeleitet; sie drängen sich nicht nur uns, sondern der ganzen Natur auf. […] Einige Experimente werden dann genüge, um zu erfahren, welche Wahr [der Schöpfer] getroffen hat. Aus jedem Experiment können durch eine Reihe mathematischer Deduktionen eine Menge Folgerungen hervorgehen, und auf diese Weise lässt uns jedes Experiment einen Winkel des Weltalls erkennen.“
Dieses Wissenschaftsmodell stellt an den Anfang ein paar „evidente Sätze“, die Axiome, auf die man durch einige Experimente im Sinne einer aristotelischen Induktion gelangt ist. Daraus folgt dann mathematisch-deduktiv die gesamte Wissenschaft mit unfehlbarer Sicherheit. Die so gewonnenen Erkenntnisse sind einerseits absolut gewiss, andererseits zeigen sie uns, wie die Wirklichkeit selbst an und für sich ist.
Dem gegenüber entwirft Poincaré ein neues, anderes Wissenschaftsmodell. Zunächst unterscheidet er zwischen der Mathematik auf der einen Seite und den empirischen Naturwissenschaften auf der anderen Seite. Die Mathematik erlaubt tatsächlich unumstößlich sichere Erkenntnisse, allerdings nur deswegen, weil auf Konventionen beruht, die sich die Menschen selbst gegeben haben, und weil sie gerade keinen Bezug zur tatsächlichen Wirklichkeit haben. Poincaré schreibt[1]: „Sie beziehen sich nicht auf die Natur.“
Während man bei der reinen Mathematik die Konventionen beliebig festlegen kann, muss sich die Naturwissenschaft an der Realität ausrichten. Auch die Naturwissenschaft muss bestimmte Konventionen hypothetisch annehmen, aber das kann sie nicht in freier Willkür[2]:
„Wenn dem so wäre, so wäre die Wissenschaft ohnmächtig. Nun haben wir aber jeden Tag ihren Einfluss vor Augen. Das könnte nicht der Fall sein, wenn sie uns nicht etwas Reelles erkennen ließe; aber was sie erreichen kann, sind nicht die Dinge selbst, wie die naiven Dogmatiker meinen, sondern es sind einzig die Beziehungen zwischen den Dingen; außerhalb dieser Beziehungen gibt es keine erkennbare Wirklichkeit.“
Mathematik
Kant meinte, dass sowohl die Arithmetik als auch die Geometrie synthetische Erkenntnisse a priori zulassen, also Erkenntnisse, die keine Tautologien sind und echt das Wissen erweitern, dennoch aber notwendig gelten. Dazu im Gegensatz versuchte Frege die Arithmetik vollständig auf die Logik zurückzuführen, so dass alle Aussagen über Zahlen analytisch sind; bezogen auf die euklidische Geometrie hingegen folgte er Kant und hielt synthetische Erkenntnisse a priori für möglich. Bei Poincaré hingegen ist es umgekehrt: Seiner Meinung nach ist die Arithmetik keinesfalls nur analytisch, weil sie das Induktionsprinzip benötigt, das über die reine Logik hinausgeht. Die euklidische Geometrie aber war für ihn nur eine für bestimmte Zwecke geeignete Konvention, die wir nur deswegen haben, weil wir in einer empirischen Erlebniswelt leben, in der sie sich gewissermaßen aufdrängt. Wäre unsere empirische Erlebniswelt aber sehr anders, dann hätten wir, so Poincaré, sicherlich eine nicht-euklidische Geometrie als Standard.
In Wissenschaft und Hypothese sagt Poincaré, dass die Annahme absurd ist, die Mathematik alleine auf deduktive Logik zurückführen zu wollen. Ansonsten wäre sie nur ein „ungeheuere Tautologie“[3]. Seiner Meinung nach können die Sätze der Arithmetik keinesfalls ausschließlich analytisch sein. Vielmehr muss sie „eine Art schöpferischer Kraft [enthalten] und sich dadurch von der syllogistischen Schlussweise [unterscheiden].“[4] Hier muss man allerdings anmerken, dass Poincaré die Logik noch traditionell-aristotelisch verstand und von den neueren Entwicklungen der modernen mathematischen Logik, wie sie von Frege, Russell oder Peano vorangetrieben wurden, keine Kenntnis nahm.
Bekanntlich führte Kant die Arithmetik auf die reine Anschauungsform der Zeit zurück, auf das sukzessive zeitlichen Nacheinander des 1, 2, 3, … Interessanterweise nimmt Poincaré diesen Gedanken wieder auf, indem er das „Gesetz des rekurrierenden Verfahrens“ (wie er es nennt) als das Grundprinzip die Arithmetik begreift. Dabei handelt es sich um folgende Schlussweise, die heutzutage in der Mathematik „vollständige Induktion“ genannt wird:
Gesetz des rekurrierenden Verfahrens (vollständige Induktion):
Sei P(x) eine Formel, bei der x eine Variable ist, die für eine beliebige natürliche Zahl steht. Gilt ferner:
- P(0), sowie
- dass man aus der Annahme, dass P(n) gilt, die Gültigkeit von P(n+1) herleiten kann.
Dann kann man schließen, dass P(n) für alle natürlichen Zahlen gilt.
Man könnte diese Schlussweise auch so aufschreiben:
\( P(0), P(1), P(2), P(3), …, P(n), P(n+1), … \Rightarrow \forall x \in \mathbb{N}: P(x) \)
Und eines ist sicher. Dieses Prinzip gibt es weder in der aristotelischen, noch in der modernen mathematischen Logik, auch wenn Frege glaubte, es rein logisch begründen zu können. Heutzutage weiß man, dass Frege hier einen Irrweg eingeschlagen hat. Stattdessen ist es inzwischen klar, dass man zur Begründung der Mathematik beispielsweise durch die Mengentheorie das Unendlichkeitsaxiom annehmen muss. Insofern hatte Poincaré recht. Sicher ist aber auch, dass das Induktionsprinzip nicht das einzige nicht-logische Axiom ist, das in der Mengentheorie nötig ist, um die gesamte herkömmliche Mathematik herleiten zu können. Man braucht beispielsweise auch das Auswahlaxiom. All diese nicht-logischen Axiome in der Mengentheorie kann man als Beleg dafür ansehen, dass die Mathematik tatsächlich nicht nur auf die Logik rückführbar ist, sondern dass noch synthetische Urteile a priori hinzukommen müssen.
Eine Grundfrage in der Philosophie der Mathematik ist, inwiefern mathematische Gegenstände sind. Existieren Zahlen, Klassen oder geometrische Objekte an und für sich, quasi in einem platonischen Himmel? Oder sind sie bloße menschliche Gedankenkonstrukte? Poincaré scheint sich auf die Seite der Konstruktion zu stellen. So schreibt er[5]:
„Die Mathematik kommt also ‚durch Konstruktionen‘ vorwärts, sie ‚konstruiert‘ immer verwickeltere Kombinationen.“
Nun könnte man meinen, dass der menschliche Verstand einfach vollkommen frei nach Belieben irgendwelche abstrakten Gegenstände konstruiert. Nach Poincaré ist das aber nicht der Fall, vielmehr orientieren sich unsere Konstruktionen immer an unserer tatsächlichen, empirischen Erlebniswelt. Damit steht Poincaré übrigens in der Tradition des Empirismus. Bereits Locke hat versucht, Abstrakta auf sinnlich Erfahrbares zurückzuführen. Meiner Auffassung nach aber hat dies niemand überzeugender dargelegt als Poincaré. In Wissenschaft und Hypothese geht es über weite Strecken genau darum, auszuführen, wie der menschliche Verstand aufgrund seiner spezifischen, empirischen Erlebniswelt dazu motiviert worden ist, die reellen Zahlen zu konstruieren, sowie die euklidische Geometrie anzunehmen. Poincaré geht aber noch einen Schritt weiter. Er zeigt auf, dass, wäre unsere empirische Erlebniswelt eine fundamental andere, dann würden wir beispielsweise auch eine andere, nicht-euklidische Geometrie natürlicherweise verwenden.
Die reellen Zahlen
Poincaré beschreibt das nachfolgende Experiment[6]. Nehmen wir an, uns liegen drei Gewichte vor. Das Gewicht A wiegt 10g, das Gewicht B wiegt 11g und das Gewicht C wiegt 12g. Nehmen wir weiter an, dass man diese Gewichte paarweise miteinander vergleicht, indem man das eine Gewicht in die linke und das andere Gewicht in die rechte Hand nimmt. Nehmen wir schließlich an, dass man normalerweise keinen Unterschied zwischen den Gewichten A und B, sowie zwischen den Gewichten B und C wahrnehmen kann, weil einfach der Gewichtsunterschied zu klein ist. Vergleicht man aber A mit C, so ist ein Unterschied feststellbar:
Man erhält das paradoxe Wahrnehmungserlebnis: A = B, B=C, aber A<C. Poincaré schreibt nun (S. 23):
„Das ist aber absolut unverträglich mit dem Prinzip des Widerspruchs, und die Notwendigkeit, diesen Missklang zu beseitigen, hat uns dazu geführt, das mathematische Kontinuum zu erfinden. Man wird also zu dem Schluss genötigt, dass dieser Begriff in allen seinen Teilen durch den Verstand geschaffen ist, aber dass die Erfahrung uns dazu Veranlassung gegeben hat.“
Denn wir können es nicht hinnehmen, dass A=B, B=C ist, aber dennoch A<C sein soll. Nach Poincaré „werden wir [dadurch] dazu gebracht vorauszusetzen, dass A sowohl von B als von C verschieden sei, dass aber die Unvollkommenheit unserer Sinne uns nicht erlaubte, sie auseinanderzuhalten.“
Nehmen wir nun an, dass wir dieses Experiment mit einer Waage fortsetzen. Mit der Waage können wir nun tatsächlich erkennen, dass die drei Gewichte A, B und C unterschiedlich schwer sind. Jetzt nehmen wir aber ein weiteres Gewicht D hinzu mit 11,5g. Und wir nehmen weiterhin an, dass die Waage so grob ist, dass sie nicht den Unterschied zwischen B und D, noch den Unterschied zwischen D und C feststellen kann, so dass wir jetzt folgende Situation haben:
Wir sind somit in derselben paradoxen Situation wie vorhin, nur eine Stufe feiner, dass B=D und D=C erkennbar ist, aber auch B<C. Also müssen wir wieder voraussetzen, dass B und D einerseits und D und C andererseits nur aufgrund der Unvollkommenheit unserer Wahrnehmung nicht unterscheidbar sind, obwohl sie eigentlich verschieden sind. Dies wiederum könnte man mit einer noch empfindlicheren Waage feststellen, die aber bei noch feineren Gewichten zu einer ähnlich paradoxen Situation führen würde. Und so weiter. Auf diese Weise konstruiert der menschliche Verstand ein Kontinuum der Gewichtsunterschiede, da man theoretisch immer feinere Gewichte verwenden kann.
Es gibt verschiedene Wahrnehmungsbeispiele, für die man ähnliche Experimente durchführen könnte. Ein Standardbeispiel sind sicherlich Abstände zwischen verschiedenen räumlichen Punkten. Auch hier führt die Vorstellung, dass man theoretisch immer enger beieinanderliegende Punkte wählen kann zu der Annahme eines räumlichen Kontinuums. Wobei eines noch fehlt: nämlich die inkommensurablen Zahlen. Das Kontinuum, das durch beständiges Teilen entsteht, ist der Zahlenstrang der rationalen Zahlen . Wie kommt man aber zu den inkommensurablen Zahlen? Wofür braucht man sie?
Nach Poincaré braucht man sie, weil der Verstand eine nicht hinnehmbare Lücke zu schließen hat. Nehmen wir als Beispiel ein Quadrat, in das ein Kreis mit (rationalem) Radius r eingeschrieben ist. Den Kreis kann man durch die Formel x²+y²=r² beschreiben. Man kann eine Diagonale quer durch das Quadrat ziehen, die durch die Gleichung y=x ausgedrückt werden kann, siehe:
Intuitiv ist klar, dass diese Diagonale den Kreis an zwei Stellen schneidet. Und zwar muss das an den Stellen sein für die gilt: x²+y²=r² und y=x. Daraus folgt aber
\( 2x² = x²+x² = x²+y²=r² \) und somit \( x = \frac{r}{\sqrt{2}}\).
Das bedeutet, dass der Kreis und die Diagonale genau zwei Schnittpunkte gemeinsam haben, nämlich:
\( (\frac{r}{\sqrt{2}}, \frac{r}{\sqrt{2}}) \) und \( (-\frac{r}{\sqrt{2}}, \frac{r}{\sqrt{2}})\).
Nun ist die Zahl \(\frac{r}{\sqrt{2}}\) eine irrationale Zahl. Das bedeutet: Die Intuition, dass die Diagonale den Kreis an zwei Stellen schneidet, kann nur dann zutreffen, wenn wir annehmen, dass die irrationale Zahl existiert. Ansonsten bleibt eine Lücke. Es gibt noch weitere ähnliche Beispiele, die alle zeigen, dass der menschliche Verstand intuitiv die Existenz irrationaler Zahlen annimmt bzw. „konstruiert“.
[1] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. XII.
[2] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. XIII.
[3] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 1.
[4] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 3.
[5] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 15.
[6] Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, S. 22.
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